Inhalt:
Das Buch “Eidolon – Das Orakel der Tejas” wird voraussichtlich 2019 erscheinen. Die Vorgeschichte zum Buch gibt es bereits jetzt zu lesen:
Die Welt war noch so jung wie ein Kind, das noch nicht laufen gelernt hatte, als er den Weg auf sich nahm, um mit seinen Wünschen, Träumen und Begierden vor das Orakel zu treten.
Erwartungsvoll kniete er nieder und blickte dem Nebel entgegen. Dieser lichtete sich mit einem Mal und ließ das Bild der Frau seiner Wahl erscheinen. „All das, wonach du dich sehnst, trägt sie in sich. Es wird dir Freude bereiten. Glück bringen. Ebenso Macht und Reichtum schenken …“
Wer braucht schon Freude und Glück, wenn man Macht und Reichtum haben kann? Er eilte schnellen Weges zurück, um das in Empfang zu nehmen, was ihm prophezeit wurde.
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Eidolon
Eidolon – Das Orakel der Tejas
Kurzgeschichte
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Lothar Bauer
Covergestaltung: Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Leseeulen – Verlag
Selbstverlag
Jeanette Peters
Dörwerstraße 68
44359 Dortmund
Email: Leseeulenverlag@gmx.de
Zander.Zoe@gmail.com
Autorenseite: www.zoe-zander.at
Das Buch:
Die Welt war noch so jung, wie ein Kind, das noch nicht laufen gelernt hatte, als er den Weg auf sich nahm, um mit seinen Wünschen, Träumen und Begierden vor das Orakel zu treten.
Erwartungsvoll kniete er nieder und blickte dem Nebel entgegen. Dieser lichtete sich mit einem Mal und ließ das Bild der Frau seiner Wahl erscheinen. „All das, wonach du dich sehnst, trägt sie in sich. Es wird dir Freude bereiten. Glück bringen. Ebenso wie Macht und Reichtum schenken …“
Wer braucht schon Freude und Glück, wenn man Macht und Reichtum haben kann? Er eilte schnellen Weges zurück, um das in Empfang zu nehmen, was ihm prophezeit wurde.
Am Anfang war
die Prophezeiung der Tejas, reinster Energie, aus der alles, was sich um uns herum befindet, entstanden war.
Ich bin Radim. Der Hüter des elementaren Gleichgewichts.
Sie gerieten vor langer Zeit aneinander: Das Gute und das Böse; Das Licht und die Dunkelheit. Warum es so gekommen war, möchte ich euch hier erzählen. Es ist nicht meine Geschichte, durch die ich euch begleiten werde. Sondern die von Amari, der Unbegrenzten und Kumar, des Feuergottes.
Die Begegnung
Vor Urzeiten saß auf einem heißen und kahlen Ort ein jämmerlicher Nimrod fest. Alle seine Artgenossen waren groß, stark und längst ihrem Nest entwachsen. Gemeinsam mit ihren Schützlingen streiften sie durch das stetig wachsende Universum. Sie trugen die Verantwortung für ihre Sicherheit. Aus diesem Grund waren sie auch allen anderen Wesen nicht als Nimrods, sondern als Wächter bekannt. Nur dieser eine Nimrod fühlte sich nicht wie ein Wächter. Es fehlte ihm nicht nur die entsprechende Statur, sondern auch der Schützling. Die einzige Berechtigung für sein Dasein.
Er wurde ausgegrenzt, geschubst, gepiesackt, gedemütigt und gemieden. Dennoch waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Es fand sich auch ständig jemand, der ihm nach dem Leben trachtete. Er war klein, schwach und am Verhungern. Er selbst wusste nicht, was ihn noch am Leben hielt, denn er war nicht unsterblich. Nur langlebig. Und sein Leben hatte bereits in seinen jungen Jahren beinahe ein Ende gefunden …
„Nur Haut und Knochen. Ein schöner Wächter“, lachten ihn die Garudas aus. Sie selbst hielten sich für begehrenswert und unbesiegbar. Für Götter. Die anderen Wesen glaubten es ihnen. Alleine weil sie fliegen konnten. Sie benahmen sich, als würde ihnen das ganze Universum gehören, und bestimmten über jeden und alles, dem sie, in welcher Ecke dieser unendlichen Welt auch immer, begegneten. Und so wie sich ihnen alle Völker und Arten unterordneten, fügten sich auch die Nimrods ihren Drohgebärden. Sie legten ihren Namen ab, um sich von diesem Augenblick an Wächter zu nennen. Wächter, weil sie die Larymar bewachten. Die Wesen, mit denen sich die Garudas mit Vorliebe paarten.
„Lasst mich in Ruhe, ich habe euch nichts getan!“, fauchte der Nimrod.
Sie kicherten und traten fest genug, um ihn über die Kraterkante rutschen zu lassen. Mit letzter Kraft grub er seine Krallen in den brüchigen Felsen, um nicht im brodelnden Vulkan sein einsames Leben zu lassen.
„Schaut, wie er an seinem jämmerlichen Leben hängt. Wie an einem trockenen Grashalm.“ Einer von ihnen trat auf seine Pranke. Es tat unendlich weh. All die Wunden, die sie ihm immer wieder zufügten. Sie waren noch nicht einmal verheilt, da gingen schon die Nächsten auf ihn los. Er war das einsamste Wesen auf der ganzen Welt. Aber auch der eine auserwählte Wächter, der eine ganze bestimmte Larymar auf ihren Wegen begleiten sollte. Amari. Genau das war der Grund für sein Leid. Und genau das war, weit und breit, allen bekannt.
„Wieso sollte sie sich mit einem wie mir abgeben?“, seufzte der abgemagerte Nimrod noch ein letztes Mal und ließ los, um sein bedauernswertes Dasein zu beenden.
Es säuselte. Und zischte. Kieselsteine prasselten wie Regen von oben, fielen wie ein Asteroidenschauer auf ihn herab. Sie trafen ihn am Kopf, an seinem beschuppten Rücken und sogar am Schwanz. Er wollte schon die Augen schließen und sich seinem Schicksal ergeben, als etwas mit solch einer Wucht gegen seine Rippen prallte, dass er aus der Bahn geriet und gegen die Wand des Kraters gedrückt wurde.
„Lasst mich endlich in Ruhe! Ich kann nicht mehr!“, schluchzte er verzweifelt. „Ich will nicht mehr.“ Er fühlte sich nicht wie ein Nimrod. Er war kein stolzer Wächter. Nur ein erbärmliches Weichei, seiner Existenz nicht würdig.
„Es wird alles gut. Ab nun sorge ich dafür“, hörte er eine unbekannte Stimme. Sie klang ganz anders als all die Stimmen, die er je gehört hatte. Sie klang wunderschön. Genauso wunderschön, wie das Wesen selbst war, dem diese Stimme gehörte.
Sie drückte ihn mit ihrem Körper gegen die steile Wand des Kraters. Sie bohrte ihre Krallen tief in das aufgeheizte Gestein, um nicht abzurutschen. Ihre tiefen Atemzüge pressten ihre Brust immer wieder gegen seine. Noch nie war ihm jemand so nah gekommen. Noch nie hatte er solch eine weiche Haut an seiner gespürt. Sie drehte den Kopf, um über ihre Schulter in die Tiefe zu blicken.
„Wir müssen hinauf, er wird jeden Moment ausbrechen.“
„Geh“, seufzte er elendig. „Rette dich. Mir fehlt die Kraft.“
„Wir“, sagte sie resolut und veränderte daraufhin ihre Gestalt.
So etwas hatte er noch nie gesehen. Noch nie eine Larymar und auch noch nie ein anderes Wesen außer den Garudas, das seine Gestalt verändern konnte.
Sie spann ein Seil aus dem Sekret, mit dem ihre, nun mit vielen feinen Haaren bedeckte, Haut überzogen war. Abwechselnd mit allen vier Gliedern wickelte sie ihm den Seilstrang um den Körper. Daraufhin verwandelte sie sich noch einige Male, bis sie den zwar kleinen, aber verglichen mit ihr, immer noch sehr großem Körper, aus dem brodelnden Vulkan hinaus geschafft hatte. Sie schleppte ihn weg von dem gaffenden Loch, bis zu einem kleinen Teich. Dort bettete sie ihn vorsichtig in das trockene Gras und gönnte sich selbst das erste Mal eine kurze Verschnaufpause.
Keinen Augenblick später riss der Vulkan einen riesigen Spalt in den Boden und verschlang die halbe Steinwüste, die dieser einsame Nimrod sein bisheriges Leben lang sein Zuhause genannt hatte.
„Weißt du, wer ich bin?“ Er wollte nicht glauben, dass ihm, diesem schuppigen Abschaum, wie ihn alle nannten, jemand zur Hilfe gekommen war.
„Aber sicher“, beteuerte sie. „Sie nennen dich Simeon – der Unerwünschte“, seufzte sie bedauernd.
„Hm“, brummte er. „Und wer bist du?“, fragte er. Er wusste sehr wohl, wer da neben ihm im trockenen Gestrüpp hockte. Aber er hielt es nicht für möglich. Sie sah ihm ähnlich und doch gab es zwischen ihnen unzählige Unterschiede. Zum Beispiel waren ihre Schuppen samtig weich, während seine Schuppen uneben, hornig und an manchen Stellen messerscharfe Kanten besaßen.
„Ich bin deine Schwester“, sagte sie, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte. Er sah in den feuerroten Himmel hinauf und schloss die Augen.
„Nein. Wächter haben keine Schwester.“
„Sagt wer?“, fragte sie aufbrausend. Dann kroch sie zu dem dampfenden Teich. Sie schöpfte Wasser in ein großes Blatt einer Klette und trug es zurück zu ihm.
Mit der siedenden Flüssigkeit spülte sie ihm die Wunden aus. Jede Einzelne. Er zischte, murrte und schimpfte sie. Sonst ließ er es über sich ergehen, denn sein gemarterter Körper war zu keiner Bewegung mehr fähig.
„Die Götter“, stöhnte er, denn das Reinigen der Wunden fühlte sich nicht minder schmerzhaft an, als würde sie sie ihm von neuem zufügen.
„Götter?“, krächzte sie ärgerlich. „Es sind Vögel. Nichts anderes als Vögel. Dumme, arrogante Vögel.“ In diesem Augenblick wünschte er wirklich, sie wäre seine Schwester. Sie war genau nach seinem Geschmack.
Sie pflegte ihn etliche Sonnenauf- und Untergänge. Es dauerte lange, bis er wieder auf die Beine kam. Sie ging jagen, fütterte ihn, säuberte die nur langsam heilenden Wunden und versteckte ihn, wenn sich Fremde ankündigten. Und nachdem er wieder zu Kräften kam, lehrte sie ihn zu jagen. Sich ein gutes Versteck zu suchen und sich zur Wehr setzen.
„Wir beide sind Nimrods“, sagte sie eines Tages.
„Nein. Du bist eine Larymar und ich bin dein Wächter.“
„Lahryhmahr“, knurrte sie ihn an. Dabei sah sie ihm so intensiv in die Augen, dass er glaubte, sie würde versuchen in seinen Körper einzudringen. Und tatsächlich, der Klang des Wortes drang tief in ihn hinein und erzeugte regelrecht ein Erdbeben in seinem Innersten. Sie wartete noch einen Augenblick ab. Als sie merkte, dass sie mit ihrem Versuch, das Wesen in ihm dazu zu bringen, sich seines Ursprungs bewusst zu werden, nicht erfolgreich war, hörte sie auf. Vorerst.
„Ich werde dir die alte Sprache beibringen. Dann wirst du schon verstehen …“ Sie kicherte kindisch. Er schloss sie in die Arme, worauf von ihr fast nichts mehr zu sehen war. In der Zeit, in der sie sich um ihn gekümmert hatte, war er gewachsen. Mittlerweile überragte er den größten ihm bekannten Wächter um einen ganzen Kopf.
„Wir sind beide Nimrods“, fing sie von neuem an. „Du bist mein Bruder und ich bin deine Schwester. Du bist das Wunderwesen und ich bin dein Wächter“, flüsterte sie ihm zu, als sie sich an ihn schmiegte.
„Wenn du das sagst.“ Er wollte nicht mit ihr streiten. Sie konnte ziemlich bissig und gemein werden, wenn ihr etwas nicht passte. Vor allem, wenn er ihr zu nahe kam. Auch wenn für Wesen ihrer Gattung Verwandtschaftsgrade bei der Paarung nicht von Bedeutung waren.
Und egal wie groß und stark er geworden war, sie war immer noch viel kräftiger und gerissener als er. Am meisten aber gefielen ihm die Geschichten über Nimrods, die sie ihm erzählt hatte. Sie waren allesamt ruhmreicher und schmeichelnder, als der Ruf, den die Nimrods den Garudas zu verdanken hatten. Alleine deshalb wollte er sie nicht verärgern. Damit sie ihm weiterhin welche erzählte.
„Hast du schon von den Tejas gehört?“
„Ja“, antwortete er ehrfürchtig. „Sie haben all das erschaffen“, er zeichnete mit seinen kräftigen Armen einen großen Kreis in die Luft.
„Ja“, bemerkte sie abwertend und verdrehte dabei die Augen. „Aber weißt du, wer sie sind? Wie sie aussehen?“
„Man sagt, sie sind nur ein Gedanke.“
„Ja. Und wir sind alle diesem Gedanken entsprungen. Somit sind wir im Grunde auch nur Gedanken. Denke dir also …“
Sie lehrte ihn, seine Gestalt zu ändern. So war es ihnen bald möglich, im luftlosen Raum zu reisen. Und durch die Zeit. Fremde Orte zu besuchen, anderen Wesen zu begegnen …
Eines Tages führte sie der Weg in eine grüne Welt mit klarem blauem Wasser und Luft, die nicht in der Lunge brannte.
Während sie in einem See badete, ging er auf die Jagd.
„Hast du schon so ein Exemplar gesehen?“, ertönte es urplötzlich hinter seinem Rücken. Er richtete sich auf und blickte von oben auf zwei Gestalten mit Händen und Füßen hinab.
„Man sagt, die Größten wären die Dümmsten“, verhöhnte ihn der andere. Simeon fletschte die Zähne und hielt über ihren Köpfen Ausschau nach ihr. Der See war ruhig. Er konnte sie im Wasser nicht entdecken.
„Zeig uns deine Begleitung. Wenn sie uns gefällt, lassen wir dich vielleicht am Leben“, gesellte sich plötzlich ein Weiterer dazu.
„Nur über meine Leiche“, zischte er sie an, so wie es Reptilien taten. Laut und bedrohlich.
Sie waren bewaffnet, trugen spitze Metallstücke, Stöcke und anderes Gut bei sich, mit dem sie ihm früher nicht nur einmal große Schmerzen zugefügt hatten. Nur dass sie ihn diesmal nicht erkannt hatten.
„Kannst du haben!“ Der Erste griff ihn an.
Simeon war überrascht. Noch nie hatte er sich gewehrt. Er hielt es bislang für ein Vergehen, sich ihnen zu widersetzen. Doch als hätte ihn jemand dem Feind entgegen gestoßen, wehrte er den Angriff ab. Es fiel ihm zudem bemerkenswert leicht.
Sie hatte ihn hart trainiert. Anfangs hatte er befürchtet, sie würde ihn töten, da sie forsch und rücksichtslos mit ihm umsprang. Aber so, wie sie ihn immer wieder mit ihren Angriffen überrollt hatte, lehrte sie ihn auch, genau solche Angriffe vorherzusehen.
Sie sind zu viele, geisterte es ihm durch den Kopf. Obwohl sie auch oftmals so schnell agiert hatte, dass es ihm vorgekommen war, als gäbe es mehrere von ihr. Sie sind zu viele! Bedenken keimten in ihm, nicht umsetzen zu können, was sie ihm so mühsam beigebracht hatte.
Ein Knurren streifte an ihren Ohren vorbei, wie das Geräusch vom Wind verbogener Äste. Sie schenkten dem keine Aufmerksamkeit. Simeon jedoch hob urplötzlich den Arm hoch in die Luft und als er die Krallen zusammen zog, hielt er einen kräftigen Stock in der Hand.
„Wie …?“, fragten sich seine Angreifer und sahen sich gegenseitig an, um sich zu vergewissern, es sich nicht nur eingebildet zu haben.
Es knarrte in dem Grün der Baumkronen, als riebe ein Reptil seine Schuppen an der Baumrinde. Simeon streckte den linken Arm in diese Richtung und wirbelte wie aus dem Nichts einen zweiten Stock zwischen den Krallen.
Seine Angreifer machten allesamt einen Schritt zurück und richteten all die scharfen und spitzen Gegenstände, die sie bei sich trugen, auf ihn.
Da fegte ein Schatten über ihren Köpfen weg. Einer von ihnen fiel ins Gras und rührte sich nicht mehr. Etwas verunsichert sahen sie sich um und griffen Simeon erneut an.
„Hur-rr!“ Er fletschte die Zähne und sah zwischen ihnen hindurch. Ihr entgegen, während sie sich von hinten anpirschte. Sie hatte ihm die alte Sprache beigebracht. Das Knarren und Knurren gehörte dazu. Er war ein gelehriger Schüler gewesen. Zuerst nur deswegen, weil er Angst hatte, sie könnte ihn sonst wieder alleine lassen. Dann, weil er sich ihr nicht mehr nähern musste, wenn er das Verlangen nach Zärtlichkeit und mehr als nur Geschwisterliebe hatte. Er war zu einem begehrenswerten Mannsbild herangewachsen. Und als Formwandler fand ihn mittlerweile das Weibliche jeder Lebensart äußerst ansprechend.
„Hur-ar!“, antwortete sie und führte einen festen Hieb aus. Die Männer sahen über ihre Schultern.
„Bei allem, was mir heilig ist. Sie ist es wahrhaftig!“ Sie starrten sie an. Ohne Krallen, dafür mit Händen, Füßen und einer roten wallenden Mähne, die sie erscheinen ließ, als wäre um sie herum ein Feuer ausgebrochen. Sie starrten auf ihre blasse Haut, die man ein zweites Mal vergebens unter den Sonnen suchen würde.
„Fangt sie! Wer sie fängt, dem gehört sie!“ Sie stürzten sich auf sie, als gäbe es ihren Begleiter nicht mehr.
„Nur über meine Leiche!“ Simeon ging dazwischen, auch wenn er darauf vertraute, dass sie seine Hilfe nicht benötigte.
Sie hielt einen Stock in der Hand und ging damit um, als wäre es ihr dritter Arm. Sie bewegte sich so schnell, dass sie mal da stand und plötzlich weg war, als hätten sie sich ihr Erscheinen nur eingebildet. Dabei sprang sie hoch in die Luft, als hätte sie genauso Flügel, wie die Garudas, die ihren bewusstlosen Freund liegen ließen, als sie die Flucht ergriffen und aus dem Wald rannten.
Auf der Wiese neben dem See nahmen sie die Gestalt riesiger Vögel an, schlugen ein paar Mal mit den Flügeln und verschwanden in dem mit Sonnenstrahlen durchfluteten Himmel. Nur ein Weiterer blieb noch. Am Boden liegend, mit ihrem Knie auf seiner Brust und der Spitze ihres Stockes an der Kehle.
„Akata, Sohn des Shura. Wolltest du mich etwa deinem Bruder zu Füßen legen?“
„Ja, so in der Art“ Er grinste hämisch und versuchte weiterhin nach ihr zu greifen. Aber jedes Mal, wenn er ihr mit der Hand näher kam, drückte sie die Spitze des Stockes fester in seinen Hals.
„Töte ihn. Sie versuchten mich ja auch zu töten.“
„Das ist nicht meine Aufgabe“, entgegnete sie.
„Du kannst ihn doch töten?“, fragte Simeon unsicher. Der Mann grinste überlegen, denn sie antwortete nicht. Dafür wirkte sie mit einem Mal aufgescheucht. Als hätte sie etwas gehört, oder gesehen, was Simeon entgangen war.
„Wir müssen hier weg. Sie bringen Verstärkung.“ Sie ergriff seine Hand und zerrte ihn mit schnellen Schritten tiefer in den Wald hinein.
Nachdem sie ewig lange gerannt waren, blieb sie von einem Schritt auf den anderen stehen.
„Sind wir sie los?“, fragte er ängstlich nach. Sie waren groß, wenn sie die beflügelte Gestalt angenommen hatten. Als Vögel überragten sie jeden im Universum. Mit ihren Schnäbeln würden sie seinen Panzer aufbrechen wie ein Schneckenhaus.
Simeon hatte kein Verlangen mehr danach, zu sterben, denn nun besaß er eine Aufgabe. Amari zu beschützen. Und irgendwann würde sie schon seinen Schutz brauchen, davon war er felsenfest überzeugt.
„Versteck dich“, sagte sie zu ihm.
„Und du?“
„Ich will ihn sehen.“
„Wen?“
„Kumar.“
„Den Gott des Feuers?“
„Er ist kein Gott“, bemerkte sie ätzend.
„Sie sind große, dumme, egoistische Vögel“, sagten sie beide gleichzeitig und lachten so lange, bis die Anspannung von ihnen abfiel.
„Er ist deine Bestimmung. Du kannst dich der Prophezeiung nicht widersetzen.“
„Wessen Prophezeiung?“
Er mochte es nicht, wenn sie sich ärgerte. Er wollte sie glücklich sehen. Nach all dem, was sie für ihn getan hatte, hatte sie es verdient, glücklich zu sein.
„Sie verstanden unsere Sprache nicht. Statt sie zu lernen, haben sie sie uns einfach verboten. Sie ließen sich auch nicht erklären, was ein Nimrod ist. Also beschlossen sie, dich Wächter zu nennen und mich Larymar …“
„Lahryhmahr“, knurrte er und verzog dabei das Gesicht, da sie ihm in der Zwischenzeit beigebracht hatte, welche Bedeutung dieses Wort in der, angeblich uralten, Sprache besaß. Er mochte ihre Geschichten, aber er kaufte ihr keine einzige ab.
„Und wenn ich für den Einen bestimmt bin, warum sind sie dann alle hinter mir her? Nicht nur die Vögel. Alle Kreaturen, die sich im unendlichen Raum tummeln. Alle wollen sie anstelle von ihm den Platz in der Prophezeiung einnehmen. Sie haben kein Recht …!“
„Sie sind Götter.“
„Nein, sie sind arrogante, aufgeblasene, selbstverliebte Flattermänner.“
„Hach.“ Simeon war ratlos.
„Ich will ihn sehen. Sehen, ob er auch so ist, wie alle anderen seiner Art.“ Sie wurde mit einem Schlag traurig.
„Und wenn er es ist?“ Auch sein Herz füllte sich mit Trauer.
„Gäbe es mich nicht, hätte dir nie jemand Leid zugefügt. Ich fühle mich unendlich schuldig, dass du meinetwegen so viel durchmachen musstest. Ich dachte lange, wenn ich mich von dir fernhalte, würden sie dich in Ruhe lassen. Ich werde nie wieder zulassen, dass dir jemand Böses tut.“
Er nahm sie an der schuppenlosen Hand und drückte sie fest an sich.
„Und wenn er anders ist?“, fragte er mit schwerer Stimme.
Sie schwieg. Er küsste sie auf das dichtgewellte, feuerrote Haar.
„Oh Bruderherz.“ Sie streichelte ihm mit einer Hand über den schuppigen Rücken. „So lange ich lebe, wirst du ständig in Gefahr sein. Lass mich sehen, wem sie dieses Privileg zugesprochen haben.“
„Er kriegt dich nicht. Wenn du es nicht willst, bekommt er dich nicht. Nur über meine Leiche.“
Sie hob den Kopf und auch die Hand, streichelte ihm über die Wange, stellte sich auf die Zehenspitzen und auch da musste er seinen Rücken krümmen, damit sie ihn auf die Wange küssen konnte.
Sie war ganz anders, als die Larymar, denen er während ihrer gemeinsamen Reise begegnet war. Beinahe so, als wäre sie wirklich seine Schwester.
Sie verschwand im Wald und er brach sofort das Versprechen, welches er ihr gegeben hatte: Sich zu verstecken. Er folgte ihr, bis zu dem See, an dem eine ganze Horde Garudas ihre Zelte aufgeschlagen hatte.
Sie versteckte sich im Schilf. Von dort aus hatte sie gute Sicht auf den See. Auf der anderen Seite plantschten einige Garudas knietief im Wasser.
„Welcher von denen ist es?“, flüsterte ihr Simeon ins Ohr. Er war sich sicher, dass sie ihn kommen gehört hatte und sie war tatsächlich nicht überrascht, als er plötzlich neben ihr kniete.
„Der mit langem schwarzen Haar.“
„Warum denkst du das? Weil er der Größte von allen ist?“
„Nein. Ich höre ihre Gedanken. Sie sind so laut, dass sie kaum voneinander zu unterscheiden sind. Beinahe alle haben nur eines im Sinn: Mich als erster in die Finger zu bekommen. Nur er macht sich Sorgen, mir könnte bei dem geplanten Angriff etwas geschehen.“
Simeon lächelte und beugte sich schützend über sie.
„Ich mag deine Geschichten.“
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn ernst an. Dann pustete sie ihm ins Gesicht.
„Hör mir zu“, sagte sie, ohne die Lippen zu bewegen. Er runzelte die Stirn, fest genug, dass die Schuppen auf seiner Stirn ein Rasseln verursachten.
„Das ist“, flüsterte er ehrfürchtig. „Das ist“, hallte wie ein Echo in ihrem Kopf. Sie drehte sich daraufhin zum See und zeigte mit dem gestreckten Arm auf die drei Männer im Wasser.
„Höre selbst“, lautete ihre Botschaft. Simeon hob den Blick von ihr und schickte sein Gehör übers Wasser.
„Freunde, es ist schön, dass ihr mich hierher geführt habt. Aber glaubt ihr nicht, dass die beiden längst über alle Berge sind?“, erkundigte sich ein Mann mit einem gezeichneten Adler auf seiner nackten gewölbten Brust.
„So weit von dem Ygodon-Quadranten traf ich noch auf keine von ihnen.“
„Gerade deshalb. Wenn sie es bis hierher schafften, können sie schon wieder sonst wo sein.“ Er senkte den Blick, denn das ruhige Wasser schlug plötzlich Wellen um seine nackten Waden. Er sah sich um. Mitten im See entdeckte er einen von Seinesgleichen. Mit dem Rücken zum Ufer gedreht, schien er Gefallen an den Wasserblumen gefunden zu haben.
„Ich gehe mich etwas abkühlen“, ließ er seine Freunde in dem seichten Wasser wissen und schwamm dem anderen nach.
Amari sah dem Fremden in die Augen. Sie hatte auch seine Gedanken gehört. Sie unterschieden sich nicht sehr von Kumars. Er befürchtete nicht, sie wäre längst geflüchtet. Er sehnte es herbei, damit sie keinem von ihnen in die Finger fiel.
Der Mann tauchte bis zur Nasenspitze in die hellgrünen pelzigen Blätter und pflückte eine der Blüten, die im Licht des aufgehenden Mondes schimmerten. Amari nahm die Blume an sich und steckte sie sich ins Haar. Als der Mann den Mut aufbrachte und ihr näher kommen wollte, kam ihm Kumar zuvor.
„Die Legenden sollten Recht behalten. Sie ist die Schönste von allen.“ Er schwamm an seinem Freund vorbei auf sie zu. So nah, dass er ihren Atem in seinem Gesicht spüren konnte. Er duftete blumig, wie auch ihr Haar. Das war rot wie Feuer und schwebte übers Wasser, als wäre die Oberfläche in Flammen aufgegangen. Er blickte in ihre grünen Augen und entdeckte darin noch nie gesehene Galaxien. Als wäre sie, nicht wie er, nur ein Teil des Universums, sondern das Universum selbst.
Amari sah über seine Schulter dem anderen nach, wie er zum Ufer zurückkehrte.
„Ich bin Kumar …“ Vorsichtig tauchte er seine Finger in ihr Haar, als glaubte er, sie sich nur einzubilden.
„Ich weiß. Dein Ruf eilt dir voraus.“ Sie schmiegte ihren Kopf in seine Hand, als er sie an der Schläfe berührte. Ihm schmeichelte ihre Geste. Sie jedoch benötigte diese Berührung, um das Wesen, das er beherbergte, besser kennen zu lernen.
Er zog sie sanft zu sich und küsste sie rasch auf die Lippen. Amari ergab sich dem Einfluss seines Wesens. Ließ sich von ihm seine ganze Lebensgeschichte erzählen, ohne dass Kumar etwas davon mitbekam. Er hatte schon viele geküsst und nicht nur das. Aber sie fühlte sich in seinen Händen wie eine Naturgewalt an. Er spürte Beben, Supernovas, Pulsare und das keimende Leben. Nun konnte er nachvollziehen, warum die Tejas gerade sie ausgesucht hatten, damit er mit ihr das perfekte Wesen zeugte.
Als er seine Lippen von ihren löste, nahm er sie bei der Hand und wollte mit ihr zum Ufer schwimmen. Doch sie schlüpfte aus seiner Hand und entfernte sich von ihm. Er wollte ihr nachschwimmen, aber da hielt sie an und sprach zu ihm. „Ich werde auf dich warten. Wenn du bereit bist, alleine zu kommen.“
„Wohin? Sag wohin ich kommen soll und ich werde es tun.“ Er hätte nie gedacht, dass ihn jemals jemand so verzaubern könnte. Ihre Lippen waren zuckersüß. Er war ihnen verfallen, ihrem betörenden Duft untertan und wollte beides nicht mehr missen.
„Ich werde dich rufen. Dir den Weg weisen. Wenn du alleine kommst“, betonte sie nochmals. Dann tauchte sie unter die Blumenblätter und war verschwunden. Kumar sah sich noch lange um, wartete, ob sie irgendwo auftauchen würde, aber sie war endgültig verschwunden. Enttäuscht und verunsichert kehrte er zu seinen Freunden zurück.
„Du willst ihm doch nicht unser Versteck im Wald zeigen? Er wird sicher die anderen mitbringen“, verdächtigte ihn Simeon.
„Nein. Dort, wohin wir jetzt gehen werden, kann er nur alleine kommen.“
„Und wo ist das?“
„An meinen Ort.“
„Was ist so besonders an diesem Ort?“
„Du wirst sehen.“ Sie nahm ihn bei der Hand und riss ihn mit sich mit, in einen Wirbel, der sie beide durch ein undurchdringliches Nichts forttrug.
Simeon sah sich um. Er stampfte mit den Pfoten im Sand. Ging zum Wasser, schöpfte es mit den Pratzen und ließ es zwischen den Krallen hindurch fließen. Dann ging er zu dem einzigen Baum, der sich auf dem Fleckchen Welt befand, auf dem er mit ihr gestrandet war. Mit einem tiefen Atemzug pustete er die Blüten von den Ästen. Kaum ein Augenzwinkern später erblühte der Baum aufs Neue.
„Was ist das?“, fragte er übermannt.
„Nichts und Alles. Es ist das, was ich haben möchte. Was ich brauche. Was mir und dir Schutz bietet und von keinem außer mir zu finden ist. Es sei denn, ich lasse es zu.“
„Du meinst, dieser Ort existiert nicht?“
„Du fühlst doch den Sand. Das Wasser. Und riechst die Blüten …“ Sie lächelte ihn an.
„Ist das Zauberei?“
„Nein. Nur viel Übung“, lächelte sie weiter und zog ihn von dem Baum weg, den er seit ihrer Ankunft bereits zum vierten Mal erblühen sah. „Es ist anstrengend. Ich muss mich darauf konzentrieren, ihn hier her zu führen.“
Simeon setzte sich in den Sand und schüttete seinen Körper bis zum Hals zu. Er war wärmeres Klima gewöhnt. Alles was nicht vor Hitze blubberte, machte seine Glieder steif.
Nach der Landung versanken seine Krallen umgehend im warmen Sand. Er schüttelte sich, worauf das Gefieder verschwand und der Mann zum Vorschein kam, der schon so vielen Frauenwesen im Universum den Kopf verdreht hatte. Er holte tief Luft, labte sich an dem blumigen Duft der zartgelben Blüten des einzigen Baumes. Er schmeckte auch das Salz des Wassers, das ein scheinbar nicht vorhandener Wind mit sanften Wellen ans Ufer spülte.
„Wo bin ich?“ Er sah sich um, während er auf sie zukam, um sie in die Arme zu schließen.
„Überall und nirgendwo“, antwortete sie ihm nicht minder rätselhaft, wie vorhin Simeon. Er drehte den Kopf über die Schulter, blickte zu der Stelle, von der er glaubte, hergekommen zu sein. Er runzelte die Stirn. Auch sie hatte es gehört. Sie riefen nach ihm. Er hatte sich fortgeschlichen. Es war einigen aufgefallen und sie waren ihm gefolgt. Nun holte sie ihn in ihre Welt und er war für die anderen nicht mehr auffindbar.
Sie lenkte seine Aufmerksamkeit zu sich, in dem sie ihre Hand auf seine Brust legte. Er legte daraufhin seine Hand auf ihre, beugte sich über sie und küsste sie wieder, denn der letzte Kuss schien ihm unendlich lange her zu sein.
Simeon döste, während sein Körper die Wärme des Sandes absorbierte. Kumar küsste Amari, wühlte mit den Händen in ihrem Haar, oder zeichnete mit den Fingern die Konturen ihrer Figur nach, als wollte er sich diese für immer seinem Gedächtnis einprägen.
Die Stimmen in seinem Kopf wurden immer lauter. So sehr er auch wollte, er konnte sich ihrer Botschaft nicht mehr entziehen. Nach langem Hadern löste er seine Lippen von ihrem Mund und sah sie an. „Ich muss weg. Es ist … Mein Bruder ist in Gefahr.“
Sie sah ihn schweigend an.
„Ich komme zurück. Bald. Sehr bald.“ Er fasste sich mit der linken Hand an die rechte und zog den großen Ring von seinem Finger. Dann nahm er ihre Hand in seine, um ihr den Ring anzustecken. Doch sie entzog sich und legte seine Hände übereinander, so dass der Ring darin eingeschlossen wurde.
„Ich werde warten. Und kehrst du zu mir zurück, darfst du mir gerne deinen Ring an den Finger stecken.“
„Ich liebe dich, Amari. Ich hätte solch ein Gefühl nicht für möglich gehalten.“
„Ich liebe dich auch, Kumar. Seit du mich zum ersten Mal berührt hast.“
„Warte hier auf mich. Jetzt kenne ich den Weg zu deinem Herzen. Ich werde bald zurückkehren.“ Er drehte sich um und wollte gehen, als sie ihn am Handgelenk packte und nochmals dazu brachte, dass er sich zu ihr drehte und sie ansah.
„Ich werde warten. Und sollte es ewig dauern.“ Sie legte ihre Hand auf den gezeichneten Adler auf seiner Brust.
Kumar erzitterte. Ihm war, als hätte die Zeichnung mit den Flügeln geschlagen. Sie sah ihm daraufhin in die Augen. Er beobachtete, wie sich das dunkle Grün in ein tiefes Schwarz verwandelte. Er fühlte sich davon angezogen, wenn nicht gar verschlungen. „Er wird mich rufen, wenn du in Not gerätst und Hilfe brauchen solltest.“ Ihre Worte rüttelten ihn wach. Belächelnd schüttelte er den Kopf. Er küsste sie nochmals auf den Mund.
„Bald, geliebte Amari. Auf bald.“ Er breitete die Flügel aus und verschwand rasch hinter dem nicht realen Horizont.
Simeon suhlte sich noch lange in der Sonne, bis er endlich dem Gefühl nachgab, das ihm einzureden versuchte, irgendwas sei nicht in Ordnung. Er fand sie unter dem Bäumchen kauernd. Als er ihre Hände vom Gesicht nahm, entdeckte er die vielen Tränen, die sie vor ihm zu verstecken versuchte.
„Er kommt ja bald zurück.“
„Nein. Wird er nicht“, sagte sie bedrückt. „Es ist eine Falle. Der Hilferuf war nur ein Vorwand, um ihn von mir weg zu bekommen. Er wird bald um sein Leben kämpfen müssen.“
Simeon setzte sich zu ihr in den Sand und schloss sie fest in die Arme.
„Wieso hast du ihn nicht gewarnt, wenn du das wusstest?“
„Wie hätte ich ihn überzeugen sollen, dass ihm sein eigener Bruder meinetwegen nach dem Leben trachtet? Du glaubst mir doch selbst kein Wort von all dem, was ich dir erzähle.“
Simeon erschauderte.
„Ich helfe dir, wenn du nach ihm suchen willst.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich darf nicht. Es ist nicht meine Aufgabe. Erst muss er mich zur Hilfe rufen. Erst dann darf ich ihn suchen gehen …“
So saß Simeon mit ihr in seinen Armen unter dem blühenden Bäumchen, auf dem warmen Sand und hörte dem Rauschen der Wellen zu.
Tagein. Tagaus.
Kumar kehrte nicht zurück.
„Amari, Liebes, welch ein Fehler es war, von dir weg zu gehen. Was auch immer sie mit mir vor haben … So lange mein Herz schlägt, werde ich dich lieben. Wüsste ich nur, wie ich ihnen entkommen könnte … Amari, Liebes, ich sterbe ohne dich!“
Eines Nachts blickte sie aus dem Nichts zu ihm hoch.
„Ich hab’s gehört, Schwesterherz“, sah er in ihre weinenden Augen. „Ich helfe dir, ihn zu finden.“
„Wenn wir diesen Ort verlassen, werden wir beide zu Gejagten. Sie werden vor nichts zurückschrecken.“
„Lass uns aufbrechen.“ Simeon stand auf und half ihr hoch. Das Fleckchen Welt um sie herum fing an, sich aufzulösen.
Viele Galaxien entstanden oder fanden ihr Ende in der Zeit, in der sie nach Kumar suchten. Sie folgten seinem Ruf. Dem wiederholten Liebesbekenntnis und der Trauer über sein Schicksal, dass er nicht abzuwenden wusste.
Bis die Suche sie in ein junges Sonnensystem führte.
„Dort“, zeigte sie mit der Hand auf einen kahlen, mit Lavaströmen durchwobenen Brocken.
„Dort kann ja nichts überleben.“
„Er ist auch nicht mehr das, was wir beide gesehen haben.“ Sie legte sich die Hand auf die Brust. „Es ist nur noch die Essenz seines Wesens übrig. Nur noch der Gedanke, der diese am Leben hält. Wir befinden uns unmittelbar vor ihm und können ihn kaum noch hören.“
Simeon sah sich um. Man folgte ihnen den ganzen Weg bis hier her. Wie oft man versucht hatte, sie zu fangen, sie voneinander zu trennen und sie beide zu töten, hatte er nicht gezählt.
„Wird es jemals aufhören?“
„Nein“, sagte sie abwesend und griff nach seiner Hand, als ein weiterer kahler Brocken gegen den prallte, auf dem sie Kumar, oder das, was von ihm übrig geblieben war, vermutet hatte.
Die Explosion blendete sie. Gelöste Felsen fegten ihnen um die Ohren. Der Wirbel riss sie mit und zog sie tief in den Strudel aus Gestein und Energie.
Sie griff nach seiner zweiten Hand und sah ihm in seine grauen Augen.
„Du musst mir vertrauen. Was auch immer geschieht. Ich werde erst nach ihm suchen, wenn ich dich gefunden habe. Egal wie oft und wie lange es dauern sollte.“
Er zauderte etwas.
„Du musst mir vertrauen. Sonst kann ich diesen Weg nicht gehen.“
Er zog sie an sich.
„Ich vertraue dir, Schwesterherz.“
Anschließend lösten sie sich beide im Licht auf.
Eidolon
Eidolon – Das Orakel der Tejas
Kurzgeschichte
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Lothar Bauer
Covergestaltung: Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Leseeulen – Verlag
Selbstverlag
Jeanette Peters
Dörwerstraße 68
44359 Dortmund
Email: Leseeulenverlag@gmx.de
Zander.Zoe@gmail.com
Autorenseite: www.zoe-zander.at
Das Buch:
Die Welt war noch so jung, wie ein Kind, das noch nicht laufen gelernt hatte, als er den Weg auf sich nahm, um mit seinen Wünschen, Träumen und Begierden vor das Orakel zu treten.
Erwartungsvoll kniete er nieder und blickte dem Nebel entgegen. Dieser lichtete sich mit einem Mal und ließ das Bild der Frau seiner Wahl erscheinen. „All das, wonach du dich sehnst, trägt sie in sich. Es wird dir Freude bereiten. Glück bringen. Ebenso wie Macht und Reichtum schenken …“
Wer braucht schon Freude und Glück, wenn man Macht und Reichtum haben kann? Er eilte schnellen Weges zurück, um das in Empfang zu nehmen, was ihm prophezeit wurde.
Am Anfang war
die Prophezeiung der Tejas, reinster Energie, aus der alles, was sich um uns herum befindet, entstanden war.
Ich bin Radim. Der Hüter des elementaren Gleichgewichts.
Sie gerieten vor langer Zeit aneinander: Das Gute und das Böse; Das Licht und die Dunkelheit. Warum es so gekommen war, möchte ich euch hier erzählen. Es ist nicht meine Geschichte, durch die ich euch begleiten werde. Sondern die von Amari, der Unbegrenzten und Kumar, des Feuergottes.
Die Begegnung
Vor Urzeiten saß auf einem heißen und kahlen Ort ein jämmerlicher Nimrod fest. Alle seine Artgenossen waren groß, stark und längst ihrem Nest entwachsen. Gemeinsam mit ihren Schützlingen streiften sie durch das stetig wachsende Universum. Sie trugen die Verantwortung für ihre Sicherheit. Aus diesem Grund waren sie auch allen anderen Wesen nicht als Nimrods, sondern als Wächter bekannt. Nur dieser eine Nimrod fühlte sich nicht wie ein Wächter. Es fehlte ihm nicht nur die entsprechende Statur, sondern auch der Schützling. Die einzige Berechtigung für sein Dasein.
Er wurde ausgegrenzt, geschubst, gepiesackt, gedemütigt und gemieden. Dennoch waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Es fand sich auch ständig jemand, der ihm nach dem Leben trachtete. Er war klein, schwach und am Verhungern. Er selbst wusste nicht, was ihn noch am Leben hielt, denn er war nicht unsterblich. Nur langlebig. Und sein Leben hatte bereits in seinen jungen Jahren beinahe ein Ende gefunden …
„Nur Haut und Knochen. Ein schöner Wächter“, lachten ihn die Garudas aus. Sie selbst hielten sich für begehrenswert und unbesiegbar. Für Götter. Die anderen Wesen glaubten es ihnen. Alleine weil sie fliegen konnten. Sie benahmen sich, als würde ihnen das ganze Universum gehören, und bestimmten über jeden und alles, dem sie, in welcher Ecke dieser unendlichen Welt auch immer, begegneten. Und so wie sich ihnen alle Völker und Arten unterordneten, fügten sich auch die Nimrods ihren Drohgebärden. Sie legten ihren Namen ab, um sich von diesem Augenblick an Wächter zu nennen. Wächter, weil sie die Larymar bewachten. Die Wesen, mit denen sich die Garudas mit Vorliebe paarten.
„Lasst mich in Ruhe, ich habe euch nichts getan!“, fauchte der Nimrod.
Sie kicherten und traten fest genug, um ihn über die Kraterkante rutschen zu lassen. Mit letzter Kraft grub er seine Krallen in den brüchigen Felsen, um nicht im brodelnden Vulkan sein einsames Leben zu lassen.
„Schaut, wie er an seinem jämmerlichen Leben hängt. Wie an einem trockenen Grashalm.“ Einer von ihnen trat auf seine Pranke. Es tat unendlich weh. All die Wunden, die sie ihm immer wieder zufügten. Sie waren noch nicht einmal verheilt, da gingen schon die Nächsten auf ihn los. Er war das einsamste Wesen auf der ganzen Welt. Aber auch der eine auserwählte Wächter, der eine ganze bestimmte Larymar auf ihren Wegen begleiten sollte. Amari. Genau das war der Grund für sein Leid. Und genau das war, weit und breit, allen bekannt.
„Wieso sollte sie sich mit einem wie mir abgeben?“, seufzte der abgemagerte Nimrod noch ein letztes Mal und ließ los, um sein bedauernswertes Dasein zu beenden.
Es säuselte. Und zischte. Kieselsteine prasselten wie Regen von oben, fielen wie ein Asteroidenschauer auf ihn herab. Sie trafen ihn am Kopf, an seinem beschuppten Rücken und sogar am Schwanz. Er wollte schon die Augen schließen und sich seinem Schicksal ergeben, als etwas mit solch einer Wucht gegen seine Rippen prallte, dass er aus der Bahn geriet und gegen die Wand des Kraters gedrückt wurde.
„Lasst mich endlich in Ruhe! Ich kann nicht mehr!“, schluchzte er verzweifelt. „Ich will nicht mehr.“ Er fühlte sich nicht wie ein Nimrod. Er war kein stolzer Wächter. Nur ein erbärmliches Weichei, seiner Existenz nicht würdig.
„Es wird alles gut. Ab nun sorge ich dafür“, hörte er eine unbekannte Stimme. Sie klang ganz anders als all die Stimmen, die er je gehört hatte. Sie klang wunderschön. Genauso wunderschön, wie das Wesen selbst war, dem diese Stimme gehörte.
Sie drückte ihn mit ihrem Körper gegen die steile Wand des Kraters. Sie bohrte ihre Krallen tief in das aufgeheizte Gestein, um nicht abzurutschen. Ihre tiefen Atemzüge pressten ihre Brust immer wieder gegen seine. Noch nie war ihm jemand so nah gekommen. Noch nie hatte er solch eine weiche Haut an seiner gespürt. Sie drehte den Kopf, um über ihre Schulter in die Tiefe zu blicken.
„Wir müssen hinauf, er wird jeden Moment ausbrechen.“
„Geh“, seufzte er elendig. „Rette dich. Mir fehlt die Kraft.“
„Wir“, sagte sie resolut und veränderte daraufhin ihre Gestalt.
So etwas hatte er noch nie gesehen. Noch nie eine Larymar und auch noch nie ein anderes Wesen außer den Garudas, das seine Gestalt verändern konnte.
Sie spann ein Seil aus dem Sekret, mit dem ihre, nun mit vielen feinen Haaren bedeckte, Haut überzogen war. Abwechselnd mit allen vier Gliedern wickelte sie ihm den Seilstrang um den Körper. Daraufhin verwandelte sie sich noch einige Male, bis sie den zwar kleinen, aber verglichen mit ihr, immer noch sehr großem Körper, aus dem brodelnden Vulkan hinaus geschafft hatte. Sie schleppte ihn weg von dem gaffenden Loch, bis zu einem kleinen Teich. Dort bettete sie ihn vorsichtig in das trockene Gras und gönnte sich selbst das erste Mal eine kurze Verschnaufpause.
Keinen Augenblick später riss der Vulkan einen riesigen Spalt in den Boden und verschlang die halbe Steinwüste, die dieser einsame Nimrod sein bisheriges Leben lang sein Zuhause genannt hatte.
„Weißt du, wer ich bin?“ Er wollte nicht glauben, dass ihm, diesem schuppigen Abschaum, wie ihn alle nannten, jemand zur Hilfe gekommen war.
„Aber sicher“, beteuerte sie. „Sie nennen dich Simeon – der Unerwünschte“, seufzte sie bedauernd.
„Hm“, brummte er. „Und wer bist du?“, fragte er. Er wusste sehr wohl, wer da neben ihm im trockenen Gestrüpp hockte. Aber er hielt es nicht für möglich. Sie sah ihm ähnlich und doch gab es zwischen ihnen unzählige Unterschiede. Zum Beispiel waren ihre Schuppen samtig weich, während seine Schuppen uneben, hornig und an manchen Stellen messerscharfe Kanten besaßen.
„Ich bin deine Schwester“, sagte sie, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte. Er sah in den feuerroten Himmel hinauf und schloss die Augen.
„Nein. Wächter haben keine Schwester.“
„Sagt wer?“, fragte sie aufbrausend. Dann kroch sie zu dem dampfenden Teich. Sie schöpfte Wasser in ein großes Blatt einer Klette und trug es zurück zu ihm.
Mit der siedenden Flüssigkeit spülte sie ihm die Wunden aus. Jede Einzelne. Er zischte, murrte und schimpfte sie. Sonst ließ er es über sich ergehen, denn sein gemarterter Körper war zu keiner Bewegung mehr fähig.
„Die Götter“, stöhnte er, denn das Reinigen der Wunden fühlte sich nicht minder schmerzhaft an, als würde sie sie ihm von neuem zufügen.
„Götter?“, krächzte sie ärgerlich. „Es sind Vögel. Nichts anderes als Vögel. Dumme, arrogante Vögel.“ In diesem Augenblick wünschte er wirklich, sie wäre seine Schwester. Sie war genau nach seinem Geschmack.
Sie pflegte ihn etliche Sonnenauf- und Untergänge. Es dauerte lange, bis er wieder auf die Beine kam. Sie ging jagen, fütterte ihn, säuberte die nur langsam heilenden Wunden und versteckte ihn, wenn sich Fremde ankündigten. Und nachdem er wieder zu Kräften kam, lehrte sie ihn zu jagen. Sich ein gutes Versteck zu suchen und sich zur Wehr setzen.
„Wir beide sind Nimrods“, sagte sie eines Tages.
„Nein. Du bist eine Larymar und ich bin dein Wächter.“
„Lahryhmahr“, knurrte sie ihn an. Dabei sah sie ihm so intensiv in die Augen, dass er glaubte, sie würde versuchen in seinen Körper einzudringen. Und tatsächlich, der Klang des Wortes drang tief in ihn hinein und erzeugte regelrecht ein Erdbeben in seinem Innersten. Sie wartete noch einen Augenblick ab. Als sie merkte, dass sie mit ihrem Versuch, das Wesen in ihm dazu zu bringen, sich seines Ursprungs bewusst zu werden, nicht erfolgreich war, hörte sie auf. Vorerst.
„Ich werde dir die alte Sprache beibringen. Dann wirst du schon verstehen …“ Sie kicherte kindisch. Er schloss sie in die Arme, worauf von ihr fast nichts mehr zu sehen war. In der Zeit, in der sie sich um ihn gekümmert hatte, war er gewachsen. Mittlerweile überragte er den größten ihm bekannten Wächter um einen ganzen Kopf.
„Wir sind beide Nimrods“, fing sie von neuem an. „Du bist mein Bruder und ich bin deine Schwester. Du bist das Wunderwesen und ich bin dein Wächter“, flüsterte sie ihm zu, als sie sich an ihn schmiegte.
„Wenn du das sagst.“ Er wollte nicht mit ihr streiten. Sie konnte ziemlich bissig und gemein werden, wenn ihr etwas nicht passte. Vor allem, wenn er ihr zu nahe kam. Auch wenn für Wesen ihrer Gattung Verwandtschaftsgrade bei der Paarung nicht von Bedeutung waren.
Und egal wie groß und stark er geworden war, sie war immer noch viel kräftiger und gerissener als er. Am meisten aber gefielen ihm die Geschichten über Nimrods, die sie ihm erzählt hatte. Sie waren allesamt ruhmreicher und schmeichelnder, als der Ruf, den die Nimrods den Garudas zu verdanken hatten. Alleine deshalb wollte er sie nicht verärgern. Damit sie ihm weiterhin welche erzählte.
„Hast du schon von den Tejas gehört?“
„Ja“, antwortete er ehrfürchtig. „Sie haben all das erschaffen“, er zeichnete mit seinen kräftigen Armen einen großen Kreis in die Luft.
„Ja“, bemerkte sie abwertend und verdrehte dabei die Augen. „Aber weißt du, wer sie sind? Wie sie aussehen?“
„Man sagt, sie sind nur ein Gedanke.“
„Ja. Und wir sind alle diesem Gedanken entsprungen. Somit sind wir im Grunde auch nur Gedanken. Denke dir also …“
Sie lehrte ihn, seine Gestalt zu ändern. So war es ihnen bald möglich, im luftlosen Raum zu reisen. Und durch die Zeit. Fremde Orte zu besuchen, anderen Wesen zu begegnen …
Eines Tages führte sie der Weg in eine grüne Welt mit klarem blauem Wasser und Luft, die nicht in der Lunge brannte.
Während sie in einem See badete, ging er auf die Jagd.
„Hast du schon so ein Exemplar gesehen?“, ertönte es urplötzlich hinter seinem Rücken. Er richtete sich auf und blickte von oben auf zwei Gestalten mit Händen und Füßen hinab.
„Man sagt, die Größten wären die Dümmsten“, verhöhnte ihn der andere. Simeon fletschte die Zähne und hielt über ihren Köpfen Ausschau nach ihr. Der See war ruhig. Er konnte sie im Wasser nicht entdecken.
„Zeig uns deine Begleitung. Wenn sie uns gefällt, lassen wir dich vielleicht am Leben“, gesellte sich plötzlich ein Weiterer dazu.
„Nur über meine Leiche“, zischte er sie an, so wie es Reptilien taten. Laut und bedrohlich.
Sie waren bewaffnet, trugen spitze Metallstücke, Stöcke und anderes Gut bei sich, mit dem sie ihm früher nicht nur einmal große Schmerzen zugefügt hatten. Nur dass sie ihn diesmal nicht erkannt hatten.
„Kannst du haben!“ Der Erste griff ihn an.
Simeon war überrascht. Noch nie hatte er sich gewehrt. Er hielt es bislang für ein Vergehen, sich ihnen zu widersetzen. Doch als hätte ihn jemand dem Feind entgegen gestoßen, wehrte er den Angriff ab. Es fiel ihm zudem bemerkenswert leicht.
Sie hatte ihn hart trainiert. Anfangs hatte er befürchtet, sie würde ihn töten, da sie forsch und rücksichtslos mit ihm umsprang. Aber so, wie sie ihn immer wieder mit ihren Angriffen überrollt hatte, lehrte sie ihn auch, genau solche Angriffe vorherzusehen.
Sie sind zu viele, geisterte es ihm durch den Kopf. Obwohl sie auch oftmals so schnell agiert hatte, dass es ihm vorgekommen war, als gäbe es mehrere von ihr. Sie sind zu viele! Bedenken keimten in ihm, nicht umsetzen zu können, was sie ihm so mühsam beigebracht hatte.
Ein Knurren streifte an ihren Ohren vorbei, wie das Geräusch vom Wind verbogener Äste. Sie schenkten dem keine Aufmerksamkeit. Simeon jedoch hob urplötzlich den Arm hoch in die Luft und als er die Krallen zusammen zog, hielt er einen kräftigen Stock in der Hand.
„Wie …?“, fragten sich seine Angreifer und sahen sich gegenseitig an, um sich zu vergewissern, es sich nicht nur eingebildet zu haben.
Es knarrte in dem Grün der Baumkronen, als riebe ein Reptil seine Schuppen an der Baumrinde. Simeon streckte den linken Arm in diese Richtung und wirbelte wie aus dem Nichts einen zweiten Stock zwischen den Krallen.
Seine Angreifer machten allesamt einen Schritt zurück und richteten all die scharfen und spitzen Gegenstände, die sie bei sich trugen, auf ihn.
Da fegte ein Schatten über ihren Köpfen weg. Einer von ihnen fiel ins Gras und rührte sich nicht mehr. Etwas verunsichert sahen sie sich um und griffen Simeon erneut an.
„Hur-rr!“ Er fletschte die Zähne und sah zwischen ihnen hindurch. Ihr entgegen, während sie sich von hinten anpirschte. Sie hatte ihm die alte Sprache beigebracht. Das Knarren und Knurren gehörte dazu. Er war ein gelehriger Schüler gewesen. Zuerst nur deswegen, weil er Angst hatte, sie könnte ihn sonst wieder alleine lassen. Dann, weil er sich ihr nicht mehr nähern musste, wenn er das Verlangen nach Zärtlichkeit und mehr als nur Geschwisterliebe hatte. Er war zu einem begehrenswerten Mannsbild herangewachsen. Und als Formwandler fand ihn mittlerweile das Weibliche jeder Lebensart äußerst ansprechend.
„Hur-ar!“, antwortete sie und führte einen festen Hieb aus. Die Männer sahen über ihre Schultern.
„Bei allem, was mir heilig ist. Sie ist es wahrhaftig!“ Sie starrten sie an. Ohne Krallen, dafür mit Händen, Füßen und einer roten wallenden Mähne, die sie erscheinen ließ, als wäre um sie herum ein Feuer ausgebrochen. Sie starrten auf ihre blasse Haut, die man ein zweites Mal vergebens unter den Sonnen suchen würde.
„Fangt sie! Wer sie fängt, dem gehört sie!“ Sie stürzten sich auf sie, als gäbe es ihren Begleiter nicht mehr.
„Nur über meine Leiche!“ Simeon ging dazwischen, auch wenn er darauf vertraute, dass sie seine Hilfe nicht benötigte.
Sie hielt einen Stock in der Hand und ging damit um, als wäre es ihr dritter Arm. Sie bewegte sich so schnell, dass sie mal da stand und plötzlich weg war, als hätten sie sich ihr Erscheinen nur eingebildet. Dabei sprang sie hoch in die Luft, als hätte sie genauso Flügel, wie die Garudas, die ihren bewusstlosen Freund liegen ließen, als sie die Flucht ergriffen und aus dem Wald rannten.
Auf der Wiese neben dem See nahmen sie die Gestalt riesiger Vögel an, schlugen ein paar Mal mit den Flügeln und verschwanden in dem mit Sonnenstrahlen durchfluteten Himmel. Nur ein Weiterer blieb noch. Am Boden liegend, mit ihrem Knie auf seiner Brust und der Spitze ihres Stockes an der Kehle.
„Akata, Sohn des Shura. Wolltest du mich etwa deinem Bruder zu Füßen legen?“
„Ja, so in der Art“ Er grinste hämisch und versuchte weiterhin nach ihr zu greifen. Aber jedes Mal, wenn er ihr mit der Hand näher kam, drückte sie die Spitze des Stockes fester in seinen Hals.
„Töte ihn. Sie versuchten mich ja auch zu töten.“
„Das ist nicht meine Aufgabe“, entgegnete sie.
„Du kannst ihn doch töten?“, fragte Simeon unsicher. Der Mann grinste überlegen, denn sie antwortete nicht. Dafür wirkte sie mit einem Mal aufgescheucht. Als hätte sie etwas gehört, oder gesehen, was Simeon entgangen war.
„Wir müssen hier weg. Sie bringen Verstärkung.“ Sie ergriff seine Hand und zerrte ihn mit schnellen Schritten tiefer in den Wald hinein.
Nachdem sie ewig lange gerannt waren, blieb sie von einem Schritt auf den anderen stehen.
„Sind wir sie los?“, fragte er ängstlich nach. Sie waren groß, wenn sie die beflügelte Gestalt angenommen hatten. Als Vögel überragten sie jeden im Universum. Mit ihren Schnäbeln würden sie seinen Panzer aufbrechen wie ein Schneckenhaus.
Simeon hatte kein Verlangen mehr danach, zu sterben, denn nun besaß er eine Aufgabe. Amari zu beschützen. Und irgendwann würde sie schon seinen Schutz brauchen, davon war er felsenfest überzeugt.
„Versteck dich“, sagte sie zu ihm.
„Und du?“
„Ich will ihn sehen.“
„Wen?“
„Kumar.“
„Den Gott des Feuers?“
„Er ist kein Gott“, bemerkte sie ätzend.
„Sie sind große, dumme, egoistische Vögel“, sagten sie beide gleichzeitig und lachten so lange, bis die Anspannung von ihnen abfiel.
„Er ist deine Bestimmung. Du kannst dich der Prophezeiung nicht widersetzen.“
„Wessen Prophezeiung?“
Er mochte es nicht, wenn sie sich ärgerte. Er wollte sie glücklich sehen. Nach all dem, was sie für ihn getan hatte, hatte sie es verdient, glücklich zu sein.
„Sie verstanden unsere Sprache nicht. Statt sie zu lernen, haben sie sie uns einfach verboten. Sie ließen sich auch nicht erklären, was ein Nimrod ist. Also beschlossen sie, dich Wächter zu nennen und mich Larymar …“
„Lahryhmahr“, knurrte er und verzog dabei das Gesicht, da sie ihm in der Zwischenzeit beigebracht hatte, welche Bedeutung dieses Wort in der, angeblich uralten, Sprache besaß. Er mochte ihre Geschichten, aber er kaufte ihr keine einzige ab.
„Und wenn ich für den Einen bestimmt bin, warum sind sie dann alle hinter mir her? Nicht nur die Vögel. Alle Kreaturen, die sich im unendlichen Raum tummeln. Alle wollen sie anstelle von ihm den Platz in der Prophezeiung einnehmen. Sie haben kein Recht …!“
„Sie sind Götter.“
„Nein, sie sind arrogante, aufgeblasene, selbstverliebte Flattermänner.“
„Hach.“ Simeon war ratlos.
„Ich will ihn sehen. Sehen, ob er auch so ist, wie alle anderen seiner Art.“ Sie wurde mit einem Schlag traurig.
„Und wenn er es ist?“ Auch sein Herz füllte sich mit Trauer.
„Gäbe es mich nicht, hätte dir nie jemand Leid zugefügt. Ich fühle mich unendlich schuldig, dass du meinetwegen so viel durchmachen musstest. Ich dachte lange, wenn ich mich von dir fernhalte, würden sie dich in Ruhe lassen. Ich werde nie wieder zulassen, dass dir jemand Böses tut.“
Er nahm sie an der schuppenlosen Hand und drückte sie fest an sich.
„Und wenn er anders ist?“, fragte er mit schwerer Stimme.
Sie schwieg. Er küsste sie auf das dichtgewellte, feuerrote Haar.
„Oh Bruderherz.“ Sie streichelte ihm mit einer Hand über den schuppigen Rücken. „So lange ich lebe, wirst du ständig in Gefahr sein. Lass mich sehen, wem sie dieses Privileg zugesprochen haben.“
„Er kriegt dich nicht. Wenn du es nicht willst, bekommt er dich nicht. Nur über meine Leiche.“
Sie hob den Kopf und auch die Hand, streichelte ihm über die Wange, stellte sich auf die Zehenspitzen und auch da musste er seinen Rücken krümmen, damit sie ihn auf die Wange küssen konnte.
Sie war ganz anders, als die Larymar, denen er während ihrer gemeinsamen Reise begegnet war. Beinahe so, als wäre sie wirklich seine Schwester.
Sie verschwand im Wald und er brach sofort das Versprechen, welches er ihr gegeben hatte: Sich zu verstecken. Er folgte ihr, bis zu dem See, an dem eine ganze Horde Garudas ihre Zelte aufgeschlagen hatte.
Sie versteckte sich im Schilf. Von dort aus hatte sie gute Sicht auf den See. Auf der anderen Seite plantschten einige Garudas knietief im Wasser.
„Welcher von denen ist es?“, flüsterte ihr Simeon ins Ohr. Er war sich sicher, dass sie ihn kommen gehört hatte und sie war tatsächlich nicht überrascht, als er plötzlich neben ihr kniete.
„Der mit langem schwarzen Haar.“
„Warum denkst du das? Weil er der Größte von allen ist?“
„Nein. Ich höre ihre Gedanken. Sie sind so laut, dass sie kaum voneinander zu unterscheiden sind. Beinahe alle haben nur eines im Sinn: Mich als erster in die Finger zu bekommen. Nur er macht sich Sorgen, mir könnte bei dem geplanten Angriff etwas geschehen.“
Simeon lächelte und beugte sich schützend über sie.
„Ich mag deine Geschichten.“
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn ernst an. Dann pustete sie ihm ins Gesicht.
„Hör mir zu“, sagte sie, ohne die Lippen zu bewegen. Er runzelte die Stirn, fest genug, dass die Schuppen auf seiner Stirn ein Rasseln verursachten.
„Das ist“, flüsterte er ehrfürchtig. „Das ist“, hallte wie ein Echo in ihrem Kopf. Sie drehte sich daraufhin zum See und zeigte mit dem gestreckten Arm auf die drei Männer im Wasser.
„Höre selbst“, lautete ihre Botschaft. Simeon hob den Blick von ihr und schickte sein Gehör übers Wasser.
„Freunde, es ist schön, dass ihr mich hierher geführt habt. Aber glaubt ihr nicht, dass die beiden längst über alle Berge sind?“, erkundigte sich ein Mann mit einem gezeichneten Adler auf seiner nackten gewölbten Brust.
„So weit von dem Ygodon-Quadranten traf ich noch auf keine von ihnen.“
„Gerade deshalb. Wenn sie es bis hierher schafften, können sie schon wieder sonst wo sein.“ Er senkte den Blick, denn das ruhige Wasser schlug plötzlich Wellen um seine nackten Waden. Er sah sich um. Mitten im See entdeckte er einen von Seinesgleichen. Mit dem Rücken zum Ufer gedreht, schien er Gefallen an den Wasserblumen gefunden zu haben.
„Ich gehe mich etwas abkühlen“, ließ er seine Freunde in dem seichten Wasser wissen und schwamm dem anderen nach.
Amari sah dem Fremden in die Augen. Sie hatte auch seine Gedanken gehört. Sie unterschieden sich nicht sehr von Kumars. Er befürchtete nicht, sie wäre längst geflüchtet. Er sehnte es herbei, damit sie keinem von ihnen in die Finger fiel.
Der Mann tauchte bis zur Nasenspitze in die hellgrünen pelzigen Blätter und pflückte eine der Blüten, die im Licht des aufgehenden Mondes schimmerten. Amari nahm die Blume an sich und steckte sie sich ins Haar. Als der Mann den Mut aufbrachte und ihr näher kommen wollte, kam ihm Kumar zuvor.
„Die Legenden sollten Recht behalten. Sie ist die Schönste von allen.“ Er schwamm an seinem Freund vorbei auf sie zu. So nah, dass er ihren Atem in seinem Gesicht spüren konnte. Er duftete blumig, wie auch ihr Haar. Das war rot wie Feuer und schwebte übers Wasser, als wäre die Oberfläche in Flammen aufgegangen. Er blickte in ihre grünen Augen und entdeckte darin noch nie gesehene Galaxien. Als wäre sie, nicht wie er, nur ein Teil des Universums, sondern das Universum selbst.
Amari sah über seine Schulter dem anderen nach, wie er zum Ufer zurückkehrte.
„Ich bin Kumar …“ Vorsichtig tauchte er seine Finger in ihr Haar, als glaubte er, sie sich nur einzubilden.
„Ich weiß. Dein Ruf eilt dir voraus.“ Sie schmiegte ihren Kopf in seine Hand, als er sie an der Schläfe berührte. Ihm schmeichelte ihre Geste. Sie jedoch benötigte diese Berührung, um das Wesen, das er beherbergte, besser kennen zu lernen.
Er zog sie sanft zu sich und küsste sie rasch auf die Lippen. Amari ergab sich dem Einfluss seines Wesens. Ließ sich von ihm seine ganze Lebensgeschichte erzählen, ohne dass Kumar etwas davon mitbekam. Er hatte schon viele geküsst und nicht nur das. Aber sie fühlte sich in seinen Händen wie eine Naturgewalt an. Er spürte Beben, Supernovas, Pulsare und das keimende Leben. Nun konnte er nachvollziehen, warum die Tejas gerade sie ausgesucht hatten, damit er mit ihr das perfekte Wesen zeugte.
Als er seine Lippen von ihren löste, nahm er sie bei der Hand und wollte mit ihr zum Ufer schwimmen. Doch sie schlüpfte aus seiner Hand und entfernte sich von ihm. Er wollte ihr nachschwimmen, aber da hielt sie an und sprach zu ihm. „Ich werde auf dich warten. Wenn du bereit bist, alleine zu kommen.“
„Wohin? Sag wohin ich kommen soll und ich werde es tun.“ Er hätte nie gedacht, dass ihn jemals jemand so verzaubern könnte. Ihre Lippen waren zuckersüß. Er war ihnen verfallen, ihrem betörenden Duft untertan und wollte beides nicht mehr missen.
„Ich werde dich rufen. Dir den Weg weisen. Wenn du alleine kommst“, betonte sie nochmals. Dann tauchte sie unter die Blumenblätter und war verschwunden. Kumar sah sich noch lange um, wartete, ob sie irgendwo auftauchen würde, aber sie war endgültig verschwunden. Enttäuscht und verunsichert kehrte er zu seinen Freunden zurück.
„Du willst ihm doch nicht unser Versteck im Wald zeigen? Er wird sicher die anderen mitbringen“, verdächtigte ihn Simeon.
„Nein. Dort, wohin wir jetzt gehen werden, kann er nur alleine kommen.“
„Und wo ist das?“
„An meinen Ort.“
„Was ist so besonders an diesem Ort?“
„Du wirst sehen.“ Sie nahm ihn bei der Hand und riss ihn mit sich mit, in einen Wirbel, der sie beide durch ein undurchdringliches Nichts forttrug.
Simeon sah sich um. Er stampfte mit den Pfoten im Sand. Ging zum Wasser, schöpfte es mit den Pratzen und ließ es zwischen den Krallen hindurch fließen. Dann ging er zu dem einzigen Baum, der sich auf dem Fleckchen Welt befand, auf dem er mit ihr gestrandet war. Mit einem tiefen Atemzug pustete er die Blüten von den Ästen. Kaum ein Augenzwinkern später erblühte der Baum aufs Neue.
„Was ist das?“, fragte er übermannt.
„Nichts und Alles. Es ist das, was ich haben möchte. Was ich brauche. Was mir und dir Schutz bietet und von keinem außer mir zu finden ist. Es sei denn, ich lasse es zu.“
„Du meinst, dieser Ort existiert nicht?“
„Du fühlst doch den Sand. Das Wasser. Und riechst die Blüten …“ Sie lächelte ihn an.
„Ist das Zauberei?“
„Nein. Nur viel Übung“, lächelte sie weiter und zog ihn von dem Baum weg, den er seit ihrer Ankunft bereits zum vierten Mal erblühen sah. „Es ist anstrengend. Ich muss mich darauf konzentrieren, ihn hier her zu führen.“
Simeon setzte sich in den Sand und schüttete seinen Körper bis zum Hals zu. Er war wärmeres Klima gewöhnt. Alles was nicht vor Hitze blubberte, machte seine Glieder steif.
Nach der Landung versanken seine Krallen umgehend im warmen Sand. Er schüttelte sich, worauf das Gefieder verschwand und der Mann zum Vorschein kam, der schon so vielen Frauenwesen im Universum den Kopf verdreht hatte. Er holte tief Luft, labte sich an dem blumigen Duft der zartgelben Blüten des einzigen Baumes. Er schmeckte auch das Salz des Wassers, das ein scheinbar nicht vorhandener Wind mit sanften Wellen ans Ufer spülte.
„Wo bin ich?“ Er sah sich um, während er auf sie zukam, um sie in die Arme zu schließen.
„Überall und nirgendwo“, antwortete sie ihm nicht minder rätselhaft, wie vorhin Simeon. Er drehte den Kopf über die Schulter, blickte zu der Stelle, von der er glaubte, hergekommen zu sein. Er runzelte die Stirn. Auch sie hatte es gehört. Sie riefen nach ihm. Er hatte sich fortgeschlichen. Es war einigen aufgefallen und sie waren ihm gefolgt. Nun holte sie ihn in ihre Welt und er war für die anderen nicht mehr auffindbar.
Sie lenkte seine Aufmerksamkeit zu sich, in dem sie ihre Hand auf seine Brust legte. Er legte daraufhin seine Hand auf ihre, beugte sich über sie und küsste sie wieder, denn der letzte Kuss schien ihm unendlich lange her zu sein.
Simeon döste, während sein Körper die Wärme des Sandes absorbierte. Kumar küsste Amari, wühlte mit den Händen in ihrem Haar, oder zeichnete mit den Fingern die Konturen ihrer Figur nach, als wollte er sich diese für immer seinem Gedächtnis einprägen.
Die Stimmen in seinem Kopf wurden immer lauter. So sehr er auch wollte, er konnte sich ihrer Botschaft nicht mehr entziehen. Nach langem Hadern löste er seine Lippen von ihrem Mund und sah sie an. „Ich muss weg. Es ist … Mein Bruder ist in Gefahr.“
Sie sah ihn schweigend an.
„Ich komme zurück. Bald. Sehr bald.“ Er fasste sich mit der linken Hand an die rechte und zog den großen Ring von seinem Finger. Dann nahm er ihre Hand in seine, um ihr den Ring anzustecken. Doch sie entzog sich und legte seine Hände übereinander, so dass der Ring darin eingeschlossen wurde.
„Ich werde warten. Und kehrst du zu mir zurück, darfst du mir gerne deinen Ring an den Finger stecken.“
„Ich liebe dich, Amari. Ich hätte solch ein Gefühl nicht für möglich gehalten.“
„Ich liebe dich auch, Kumar. Seit du mich zum ersten Mal berührt hast.“
„Warte hier auf mich. Jetzt kenne ich den Weg zu deinem Herzen. Ich werde bald zurückkehren.“ Er drehte sich um und wollte gehen, als sie ihn am Handgelenk packte und nochmals dazu brachte, dass er sich zu ihr drehte und sie ansah.
„Ich werde warten. Und sollte es ewig dauern.“ Sie legte ihre Hand auf den gezeichneten Adler auf seiner Brust.
Kumar erzitterte. Ihm war, als hätte die Zeichnung mit den Flügeln geschlagen. Sie sah ihm daraufhin in die Augen. Er beobachtete, wie sich das dunkle Grün in ein tiefes Schwarz verwandelte. Er fühlte sich davon angezogen, wenn nicht gar verschlungen. „Er wird mich rufen, wenn du in Not gerätst und Hilfe brauchen solltest.“ Ihre Worte rüttelten ihn wach. Belächelnd schüttelte er den Kopf. Er küsste sie nochmals auf den Mund.
„Bald, geliebte Amari. Auf bald.“ Er breitete die Flügel aus und verschwand rasch hinter dem nicht realen Horizont.
Simeon suhlte sich noch lange in der Sonne, bis er endlich dem Gefühl nachgab, das ihm einzureden versuchte, irgendwas sei nicht in Ordnung. Er fand sie unter dem Bäumchen kauernd. Als er ihre Hände vom Gesicht nahm, entdeckte er die vielen Tränen, die sie vor ihm zu verstecken versuchte.
„Er kommt ja bald zurück.“
„Nein. Wird er nicht“, sagte sie bedrückt. „Es ist eine Falle. Der Hilferuf war nur ein Vorwand, um ihn von mir weg zu bekommen. Er wird bald um sein Leben kämpfen müssen.“
Simeon setzte sich zu ihr in den Sand und schloss sie fest in die Arme.
„Wieso hast du ihn nicht gewarnt, wenn du das wusstest?“
„Wie hätte ich ihn überzeugen sollen, dass ihm sein eigener Bruder meinetwegen nach dem Leben trachtet? Du glaubst mir doch selbst kein Wort von all dem, was ich dir erzähle.“
Simeon erschauderte.
„Ich helfe dir, wenn du nach ihm suchen willst.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich darf nicht. Es ist nicht meine Aufgabe. Erst muss er mich zur Hilfe rufen. Erst dann darf ich ihn suchen gehen …“
So saß Simeon mit ihr in seinen Armen unter dem blühenden Bäumchen, auf dem warmen Sand und hörte dem Rauschen der Wellen zu.
Tagein. Tagaus.
Kumar kehrte nicht zurück.
„Amari, Liebes, welch ein Fehler es war, von dir weg zu gehen. Was auch immer sie mit mir vor haben … So lange mein Herz schlägt, werde ich dich lieben. Wüsste ich nur, wie ich ihnen entkommen könnte … Amari, Liebes, ich sterbe ohne dich!“
Eines Nachts blickte sie aus dem Nichts zu ihm hoch.
„Ich hab’s gehört, Schwesterherz“, sah er in ihre weinenden Augen. „Ich helfe dir, ihn zu finden.“
„Wenn wir diesen Ort verlassen, werden wir beide zu Gejagten. Sie werden vor nichts zurückschrecken.“
„Lass uns aufbrechen.“ Simeon stand auf und half ihr hoch. Das Fleckchen Welt um sie herum fing an, sich aufzulösen.
Viele Galaxien entstanden oder fanden ihr Ende in der Zeit, in der sie nach Kumar suchten. Sie folgten seinem Ruf. Dem wiederholten Liebesbekenntnis und der Trauer über sein Schicksal, dass er nicht abzuwenden wusste.
Bis die Suche sie in ein junges Sonnensystem führte.
„Dort“, zeigte sie mit der Hand auf einen kahlen, mit Lavaströmen durchwobenen Brocken.
„Dort kann ja nichts überleben.“
„Er ist auch nicht mehr das, was wir beide gesehen haben.“ Sie legte sich die Hand auf die Brust. „Es ist nur noch die Essenz seines Wesens übrig. Nur noch der Gedanke, der diese am Leben hält. Wir befinden uns unmittelbar vor ihm und können ihn kaum noch hören.“
Simeon sah sich um. Man folgte ihnen den ganzen Weg bis hier her. Wie oft man versucht hatte, sie zu fangen, sie voneinander zu trennen und sie beide zu töten, hatte er nicht gezählt.
„Wird es jemals aufhören?“
„Nein“, sagte sie abwesend und griff nach seiner Hand, als ein weiterer kahler Brocken gegen den prallte, auf dem sie Kumar, oder das, was von ihm übrig geblieben war, vermutet hatte.
Die Explosion blendete sie. Gelöste Felsen fegten ihnen um die Ohren. Der Wirbel riss sie mit und zog sie tief in den Strudel aus Gestein und Energie.
Sie griff nach seiner zweiten Hand und sah ihm in seine grauen Augen.
„Du musst mir vertrauen. Was auch immer geschieht. Ich werde erst nach ihm suchen, wenn ich dich gefunden habe. Egal wie oft und wie lange es dauern sollte.“
Er zauderte etwas.
„Du musst mir vertrauen. Sonst kann ich diesen Weg nicht gehen.“
Er zog sie an sich.
„Ich vertraue dir, Schwesterherz.“
Anschließend lösten sie sich beide im Licht auf.

Genre
Fiction- Fantasy / Kurzgeschichte
Verlag
Leseeulen-Verlag
Erscheinungsdatum