Inhalt:
Bei der Zerstörung ihres Heimatplaneten gelingt es wenigen Ingeniern zu fliehen und sich auf die Suche nach einer neuen Heimat zu machen. Doch auch ihren Feinden gelüstet es nach einer neuen Welt. Als beide Völker auf der Erde landen, kommt es zum unvermeidlichen Kampf zwischen zwei Rassen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
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Ingenium
Kampf der Völker
Zoe Zander
Fantasy-Roman
© 2018 Zoe Zander
Ingenium – Kampf der Völker
Fantasy-Roman
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Covergestaltung: Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Leseeulen-Verlag
Selbstverlag
Jeanette Peters
Dörwerstraße 68
44359 Dortmund
Email: Leseeulenverlag@gmx.de
Zander.Zoe@gmail.comDas Buch
Wie alle seine Vorgänger hat er keinen Namen. Auch kein Aussehen. Nur eine Mission: Seinesgleichen zu verteidigen und die Welt, in der die Ingenier leben, zu beschützen.
Er ist der Auserwählte – ein einsamer Krieger. Bis zu dem Tag, an dem er ihr begegnet. Sie wird seine Lebensretterin, Geliebte und der Grundstein für die sichere Zukunft seines Volkes.
Informationen zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Jedes Licht hat seinen Schatten
„Sie haben ihn getötet!“
Die Nachricht breitet sich in dem grünen Teil des Königreichs aus wie ein Lauffeuer.
„Mehr als zweihundert Jahre hat er für unser Reich gekämpft. So lange hat noch keiner unserer Boten durchgehalten.“
Die ersten Nachrufe werden laut.
„Die Energie hält eben nicht ewig.“
„Die Zeiten haben sich geändert. Das, was ihn am Anfang dem Feind überlegen machte, wurde zum Ballast.“
Ein Gewitter braut sich zusammen. Genauso düster wie die Stimmung in dem grünen Reich. Und so wie sich die Wolken am Himmel zusammenziehen, versammeln sich auch die Volksväter und weisen Frauen, um sich zu beraten.
„Es hätte nicht so weit kommen müssen“, seufzt eine weißhaarige Frau im langen grünen Umhang. „Wir haben ihn schon vor Urzeiten aufgefordert zurückzukehren …“
„Es war zu gefährlich. Zu gefährlich für unser Reich, dort in der Welt nicht vertreten zu sein.“
„Wir wollten ja nicht, dass er auf ewig zu uns zurückkommt. Aber wir haben ihn dem Feind schutzlos ausgeliefert. Zweihundert Jahre hat er getrennt von uns gelebt, nicht an unserem Fortschritt teilgenommen. Das hat ihn schlussendlich getötet.“
„Nicht das. Der Feind war das.“
„Und wir tragen die Schuld. Sie halten ihre Boten immer auf dem neuesten Stand …“
„Nur deshalb konnte er sie der Reihe nach finden und vernichten. Weil sie immer wieder in ihr Reich zurückgekehrt waren. Man kann nicht durch die Pforten gehen ohne Spuren seiner Herkunft mitzunehmen. Irgendetwas bleibt immer an einem hängen. Der Duft …“
„Eher der Gestank“, kann jemand in den Reihen der Trauernden seine Zunge nicht zügeln.
„Seien wir ehrlich, nur deshalb konnte er sie aufspüren, ihre Pläne vereiteln, unser Reich schützen. Nur deshalb hat er so lange unentdeckt bleiben können.“
„Wir müssen seinen Nachfolger bestimmen.“
„Die Wahl ist bereits gefallen.“
„Doch nicht auf diesen Hitzkopf!“
„Er hat als Einziger alle Prüfungen bestanden …“
„Ich protestiere!“, meldet sich die Frau mit dem langen grünen Umhang wieder zu Wort.
„Hast du einen besseren Kandidaten zu bieten?“
Sie verstummt, denn sie hat nicht. Jedenfalls keinen, der diesem eigensinnigen Wesen in jeder Hinsicht ebenbürtig wäre.
„Wir haben keine Zeit. Holt ihn her und schickt ihn auf die Reise …“
Die Versammlung löst sich langsam auf. Während sich der Mann, gekleidet in einen grauen, panzerartigen Anzug, auf das Treffen mit seinem Kandidaten vorbereiten geht, beugt sich die Frau mit dem grünen Umhang über den toten Körper, den das Wasser angespült hat.
„Sprich zu mir.“ Dabei streift sie der leblosen Hülle über das nasse Haar, während zwei junge Mädchen Blumen über den Toten streuen. Doch weder ihre Worte noch die Blumen können dem Toten eine Botschaft entlocken.
Sie verweilt eine Zeitlang in der Position, und den Blumenmädchen scheint es tatsächlich so, als würde der reglose Körper plötzlich zu ihr sprechen. Die Frau runzelt ihre makellose Stirn, als wäre sie mit der Nachricht nicht zufrieden.
„Holt sie zu mir!“, befiehlt sie, ohne einen Namen zu nennen – weder den jener Frau noch dessen, an den der Befehl gerichtet ist.
Die Mauer hinter ihr bewegt sich. Dort, wo man vorhin noch einen Stein vermutet hätte, steht nun ein Mann.
„Tatur hat bereits entschieden. Wollt Ihr seine Wahl weiterhin infrage stellen?“
„Nein. Soll er seinen Boten entsenden. Wir schicken unseren.“
„Zwei Boten? Das gab es noch nie! Das entspricht nicht den Regeln“, rügt der Mann seine Herrin.
„Der Krieg hat keine Regeln. Schon gar nicht werde ich mich an Regeln halten, die der Feind aufstellt, ohne sich selbst daran zu halten.“ Dann erhebt sie sich endlich, worauf sich der tote Körper augenblicklich in Asche verwandelt, die der Wind sogleich mit sich fortträgt.
„Wie meint Ihr das?“, fragt der Mann aus dem Felsen.
„Der Feind agiert nicht alleine …“
„Aber man kann nicht mehrere von uns und auch nicht von ihnen zur gleichen Zeit durch die Pforten schicken …“
„Sie müssen einen Weg gefunden haben. Und wenn nicht, dann einen Weg, ihre bösartige Energie auf die Menschen zu übertragen und sie so zu ihren Gunsten zu beeinflussen.“
Die weise Frau begibt sich in den Wald. Der Mann aus dem Felsen bleibt wie versteinert auf der Stelle stehen und sieht ihr erschrocken nach.
„Hol sie! Wir dürfen keine Zeit verlieren.“ Sie geht auf einen der Bäume zu. Dann dreht sie sich nochmals um, als würde sie die Bedenken ihres Untertanen spüren. „Dieser Hitzkopf soll als Bote seine Aufgabe erfüllen. Sie soll dafür sorgen, dass er länger durchhält als nur die zweihundert Jahre …“ Dann wird sie eins mit dem Baum.
***
„Er ist wunderschön. Genauso wunderschön wie du, Liebling.“
„Ja“, seufzt sie erschöpft und glücklich zugleich.
„Und? Welchen der tausend Namen, die du ausgesucht hast, willst du ihm jetzt geben?“
„Ianos.“
„Ianos?“, fragt er etwas verwundert.
„Ja. Er sieht genau wie ein Ianos aus“, antwortet sie und streicht ihrem neugeborenen Sohn sanft über die Wange.Väter und Söhne
Ianos
Schon komisch. Da nehme ich ein Leben pro Woche und nun versuche ich, seit Stunden eines zu retten.
Der Mann sitzt auf der Balustrade und blickt in die Tiefe. Den Fluss gab es hier schon zu Zeiten meines Urgroßvaters und diese Zeit heißt bei einem wie mir – schon zu Zeiten der ersten Siedler auf dem amerikanischen Kontinent. Damals war er an dieser Stelle viel tiefer als heute. Am Tag kann man den Grund sogar von hier oben erkennen. Lauter Steine, die bei einem Fall von dieser Höhe den Schädel spalten können.
„Es gibt nichts, was Ihnen Ihre Familie nicht verzeihen würde.“
Der Mann seufzt und nickt zustimmend mit dem Kopf.
„Ihr Sohn würde Sie sehr vermissen. Gerade jetzt braucht er Sie mehr denn je.“
Es klingt wie ein gequältes Lachen.
„Das hat schon dein Vater zu mir gesagt.“
Seit Stunden stehe ich an dieser Stelle. Eigentlich hatte ich nicht vor, ihm noch näher zu kommen. Gerettete haben oftmals den Drang, sich ihrem Retter für ewig verbunden zu fühlen. Ich mag keine ewigen Verbindungen. Die können bei einem wie mir verdammt lange dauern. Doch seine Worte bewegen mich dazu, dieser Gewohnheit ausnahmsweise nicht zu folgen, und ich komme ihm näher. Mehr noch. Ich steige ebenso über die Absperrung und setze mich zu ihm auf die Balustrade.
„Mein Vater?“ Meine Zieheltern waren nie im Fairport. Sie starben, als ich noch ziemlich jung war. Jung als Mensch. Mein Vater war ein Mathematik-Lehrer. Meine Mutter unterrichtete Musik. Woher sollten sie den ehemaligen Fairporter Polizeipräsidenten kennen?
„Dein richtiger Vater.“ Nun dreht sich der Mann um und sieht mich an. Nur der Mond erleuchtet sein Gesicht. Es reicht aus, um in seinen Augen zu erkennen, dass er die Wahrheit sagt.
„Woher …?“
„Ich wusste, was er für einer war. Er hat mir beigebracht auch die anderen zu erkennen.“
In meinem Kopf sausen Gedanken umher. So schnell, dass ich mich keinem einzigen von ihnen länger widmen kann.
„Ich habe versucht, ihm zu helfen. Suchte auf eigene Faust nach diesen Kreaturen. Alles nur mit mäßigen Erfolg.“
„Ist das der Grund …?“
„Warum ich hier stehe?“ Er gibt schon wieder dieses eigenartige Geräusch von sich. Ich mag Lachen. Aufrichtiges – herzliches Lachen. Nicht dieses Knurren. Es sieht zu sehr den Synthetikern ähnlich.
„Nein. Warum Sie sich so nutzlos fühlten und wieder mit diesem Scheiß angefangen haben.“ Ich blicke zum Mond und fasse den Entschluss, dass, sollte er noch einmal dieses Geräusch machen, ich ihn selbst von der Brücke stoße.
„Ich habe ihn gesehen. Er war ein Held …“
„Ja, das war er.“ Ich schmunzle. Ich weiß, dass mich jetzt unser Nachwuchs vergöttert und sie alle ihr Bestes geben, nur, um als Nachfolger infrage zu kommen, wenn es mich eines Tages erwischt.
„Als ich ihn damals fand, war es, als hätte ich Superman vor mir liegen. Ich habe einem Helden das Leben gerettet und wollte eigentlich genauso werden, wie er es war.“
„Das Leben gerettet?“
„Na gut, mit der Reihenfolge stimmt was nicht.“
Ich klopfe ihm vorsichtig auf den Rücken. Nur so viel, dass ich ihn nicht von der Brücke stoße. Er lacht schon wieder so komisch und ich knurre ihn daraufhin bedrohlich an.
„Ich war bereits über zehn Jahre Polizeipräsident. Jeden Tag bekam ich in der Früh von meiner Sekretärin einen Kaffee auf den Tisch gestellt, gerade, als ich in den Aufzug gestiegen war. Immer die gleichen Anrufe, Veranstaltungen und sogar die Verbrechen bekamen nach einiger Zeit ein gewisses Schema. Aber so was kennst du ja nicht.“
Ich schweige. Nicht, dass ich mit Lügen ein Problem hätte, aber die Balustrade ist schmal und drückt unangenehm ins Sitzfleisch. Ich will mich nicht erklären.
„Jeder Straßenpolizist führte ein aufregenderes Leben als ich, also erschuf ich mir meinen eigenen Krimi.“
„Aha.“
„Ein namhafter Architekt wurde erpresst. Er hatte viele Beziehungen und eine dieser Beziehungen bat mich darum, ein Auge auf den Fall zu werfen. Der Architekt hatte ein eigenartiges Hobby. Er goss nackte Frauen in Gips und als dieser hart wurde, hatte er mit den Skulpturen Sex. Leider hat ihn dabei jemand fotografiert und plötzlich stand nicht nur seine Familie, sondern seine gesamte Existenz auf dem Spiel. Während er mich täglich anflehte, den Täter zu fassen, fand ich mit jedem Tag mehr Gefallen an der Idee. Nur gab es nichts in meinem Leben, was man mir irgendwie vorhalten hätte können. Also fing ich mit kleinen Parkdelikten und Geschwindigkeitsübertretungen an und steigerte mich immer weiter, bis ich eines Tages …“
„Ja?“ Persönliche Schicksale anderer interessierten mich noch nie. Doch hier habe ich das Gefühl, dass es interessant werden könnte.
„Ich fing eine Affäre an. Sie war jung, wunderschön und hatte keine Ahnung, wer ich war.“
„Und?“ Ich bin enttäuscht.
„Aber sie hätte es jederzeit herausfinden können. Und das bescherte mir den Kick. Anfangs …“, gibt er zum Schluss selbst geknickt zu. „Also half ich nach, doch als sie dann erfuhr, dass ich längst verheiratet war und sogar einen Sohn hatte – war es ihr egal.“
„Na das ist ja ein Ding“, bemerke ich aufgesetzt – entsetzt.
„Ich machte Schluss und versuchte in einer Bar meine Enttäuschung zu ertränken, als ich auf eine Frau aufmerksam wurde. Die Olive in ihrem Drink war angeblich nicht frisch und sie brüllte sogar den Lokalbesitzer in Grund und Boden, sodass er ihr für ein Jahr lang freie Getränke anbot, nur damit sie endlich den Mund hielt. Als er von ihrem Tisch weg ging, stand ich auf und ging zu ihr. Ich machte ihr direkt das Angebot – mit mir ein Spiel zu spielen. Ein junges Ding wie sie könnte doch Geld brauchen und ich würde ihr Geld geben. Monatlich eine Summe, für die sie sich etwas Schönes kaufen könnte. So fing es an. Mit dem Geld schickte ich ihr immer wieder das Bildmaterial, womit sie mich bloßstellen hätte können. Anfangs waren es Aufnahmen meines Wagens im Parkverbot. Später – wie ich im Stadtpark Zigarettenstummel auf den Boden warf.“
Meine Güte – denke ich mir und verdrehe dabei gelangweilt die Augen.
„Bis irgendwann ein Foto von mir und meiner früheren Geliebten dazwischen geriet.“
„Okay …“ Ich erhebe die Augenbrauen, was er – weil er ins Wasser starrt – nicht sehen kann.
„Irgendwann suchte ich nach dem Bild und dachte sofort, dass es mir reingerutscht sein musste. Aber sie reagierte nicht und so atmete ich erleichtert auf. Gleichzeitig wurde ich mir jedoch der Erregung bewusst, die ich bei der Suche und vor allem bei dem Gedanken – es ihr zugeschickt haben zu können – erlebte. Danach nahm die Geschichte eine ganz schlimme Entwicklung an.“
„Ich verstehe.“ Ich verstehe nicht viel, aber auf irgendwelche Schweinereien habe ich keine Lust.
„Eines Tages fand ich einen Brief in meinem Büro. Ich wunderte mich sehr, dass die Sekretärin ihn nicht aufgemacht hatte. Nachher war ich froh darüber, dass sie es nicht getan hatte. Ab da häuften sich solche Sendungen, und mir glitt das ganze Spiel aus den Händen. Sie wollte kein Geld.“
„Nein? Was dann?“
„Daten. Die Daten der Sicherheitsanlage des alten Pharmakonzerns.“ Ich pfeife leise. Der pensionierte Polizeipräsident sieht zu mir hoch. „Der Architekt gestand mir in einem unserer Gespräche, dass er sich sehr wohl der Gefahr bewusst war. Es jedoch wie eine Droge empfand und nicht davon lassen konnte. Ich hatte es ebenso zu weit getrieben und sah dann nur noch einen Ausweg.“ Nun blickt er erneut ins Wasser. „Ich wartete auf sie vor dem Lokal, wo sie sich jeden Mittwoch ihren Gratisdrink holte. Meine Pistole war geladen, aber den Schuss feuerte ein anderer ab.“
„Mein Vater?“
„Ich hatte ihn zuvor noch nie gesehen. Und auch da sah er mich nicht an. Er sagte nur – einer wie ich sollte mir nichts zu Schulden kommen lassen. Und aus den Fehlern lernen.“
„Weise Worte.“
„Er verschwand, wie er gekommen war. Ich aber nutzte die Gelegenheit und stellte ein paar Ermittlungen an, um dahinter zu kommen, wer Interesse an den Daten des Sicherheitssystems haben könnte. Und irgendwann kreuzten sich unsere Wege erneut. Ab da folgte ich ihm. Und fand ihn eines Tages wieder, als er mit einer Frau in einem Hotel verschwand. Ich nahm mir ebenfalls ein Zimmer, direkt neben seinem und wartete. Ich wartete einen ganzen Tag, bis hinter der Wand die Hölle los brach und er von einem Halbwüchsigen nur in der Unterhose auf die Terrasse getrieben wurde. Er kroch auf dem Boden und hob dann ab. Er schwebte über dem Boden und mir kam es so vor, als hätte sein ungebetener Gast etwas damit zu tun, nur konnte ich mir das nicht erklären. Ich hielt meine geladene Waffe in der Hand, versteckte mich hinter dem Vorhang meines Zimmers und sah dem Spektakel zu – unfähig einzugreifen. Der junge Mann ging auf ihn zu und mit jedem seiner Schritte schwebte dein Vater näher auf den Abgrund zu. Dann tauchte die junge Frau urplötzlich auf. Sie war nackt. Als hätte er sie im Bett erwischt. Sie blieb stehen, führte sich die Hand zur Brust und machte mit dem Arm eine Bewegung, als wollte sie jemanden von sich weg stoßen. Und der Jugendliche hob ab, als hätte ihn eine starke Windböe erfasst. Er flog an deinem Vater vorbei und stürzte in die Tiefe. Sie drehte sich daraufhin um und ging weg. Ich brauchte eine halbe Ewigkeit, bis ich aufhörte mit mir zu hadern, ob das alles nur ein Traum war. Dann eilte ich deinem Vater zur Hilfe. Ich verbrachte die ganze Nacht bei ihm. Er fragte immer nach reinem Wasser. Also brachte ich ihm welches. Zum Trinken und ich wusch auch seinen Körper ab. Seine Haut war gerötet, glühte, als wäre er mit etwas Giftigem in Kontakt gekommen.“
„Die Synthetiker.“
„Ja. In seinem Wahn erwähnte er das Wort. Ich war irgendwann so erschöpft, dass ich einschlief. Als ich aufwachte, war er verschwunden. Doch ich gab nicht auf und recherchierte weiter. Auch in alten Überlieferungen. Dabei stieß ich auf die Erzählungen über eine fremde Spezies, die vor Jahrtausenden auf unserem Planeten gelandet war …“ Er sieht erneut zu mir hoch. „Später – sah ich die junge Frau wieder. Die Ermittlungen in einem anderen Fall führten mich in ein privates Spital – im Leichenschauhaus – in einer der Kühlboxen – laut Datenblatt war sie einen Tag zuvor ums Leben gekommen. Doch trotz der Kühlung war ihr Körper warm. Ich beschlagnahmte ihre Leiche und … brachte sie zu deinem Vater.“
„Zu meinem Vater?“
„Mein Alltag war nach dem Tod von Roi wieder genauso langweilig geworden, wie zuvor. Ich verbrachte viel Zeit mit Naturheilern und Schamanen und lernte, deinen Vater aufzuspüren. Sogar dich habe ich aufgespürt, als du als Mensch geboren wurdest. Ianos.“
Ich erschaure.
„Ich habe versucht, nach seinem Tod, seine Aufgaben zu übernehmen. Nur bis du alt genug warst.“
„Und?“, frage ich und grinse dabei. Ein Guter – oh ja. Aber eben nur ein Mensch.
„Ich sitze hier.“
„Ich kümmere mich drum.“
„Es ist zu spät.“
„Es ist nie zu spät. Du wirst dich deinem Sohn … Du wirst dich Tetsu erklären müssen“, duze ich ihn auf einmal. „Du hast einen Schaden angerichtet, der – wird er nicht behoben – auch deinem Sohn schaden könnte. Darum kümmere ich mich. Als Dank, dass du meinem Vater geholfen hast. Doch solltest du noch einmal schwach werden, stoße ich dich selbst von dieser Brücke.“
Es hat mich schon immer in die Pharmafabrik gezogen. Wird Zeit, dass ich diesem Impuls nachgehe …Kirschblüten
Ianos
„Nimm dir Zeit für dich …“, sagte sie zu mir und streifte mir dabei sanft durchs Haar.
Das war vor einer gefühlten Ewigkeit, und dennoch glaube ich noch immer, ihr Parfüm zu riechen. Und wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie direkt vor mir: diese feenhafte Gestalt mit dunklen Mandelaugen und glänzendem Haar.
Es war Liebe auf den zweiten Blick.
***
Zuerst hatte ich sie gar nicht bemerkt, obwohl sie mit ihren Freundinnen in dem Restaurant am Nachbartisch so laut kicherte, dass ich am liebsten das Lokal verlassen hätte. Doch in dem Augenblick, als sie dem Kellner drohte, das Restaurant zu melden, weil die Zusammensetzung der Speisen auf der Karte nicht ausgewiesen war, war ich ihr verfallen.
Ich schlang mein Essen wie ein halb Verhungerter herunter und hätte beim Verlassen des Lokals beinahe vergessen zu bezahlen, nur weil ich das kichernde Grüppchen nicht aus den Augen verlieren wollte.
Ich folgte ihr die ganze Zeit mit sicherem Abstand und wartete, bis sich alle ihre Freundinnen nach und nach verabschiedet hatten. Als ich sie dann vor einem unbeleuchteten Hauseingang ansprach, kreischte sie beinahe das ganze Viertel zusammen und drohte mir mit der Polizei – bis ich sie davon überzeugen konnte, dass ich ihr nichts Böses wollte.
In dieser Nacht hatte ich den besten Sex aller Zeiten, und das nur, weil ich die Telefonnummer von dieser Frau bekommen hatte – und das Versprechen, mich bei ihr melden zu dürfen.
Das war vor zehn Jahren. Etwas später hat mich meine Freundin verlassen, weil sie meine Geheimnistuerei nicht länger ertrug und mir nicht mehr glauben wollte, dass ich sie nicht betrog. Dabei hatte ich sie wirklich nicht betrogen. Jedenfalls nicht sexuell, denn ich war mit Ayaka noch nie im Bett gewesen. Wir waren noch nie gemeinsam essen gewesen, auch nicht im Kino. Eigentlich trafen wir uns seit dieser Nacht heute zum ersten Mal wieder. Wir hatten lediglich miteinander telefoniert und uns E-Mails geschrieben.
Dann hätte ich sie beinahe verloren, als sie mir aus heiterem Himmel offenbarte, dass sie zurück nach Fairport ziehen wollte. Ich sagte ihr damals, dass sie das nicht tun dürfe, denn ich könnte ohne sie nicht leben. Sie meinte lasch: „Dann folge mir oder sieh zu, wie du ohne mich zurechtkommst.“
Ich hatte keine Lust mehr, ohne sie zurechtzukommen. Nicht nach den wundervollen eineinhalb Jahren voller Panik, schlafloser Nächte und Momente des vollkommenen Glücks.
Zwei Tage später saß ich im Flieger und nach einem Flug um die halbe Erdkugel kam ich endlich in Fairport an. Mit mir mein gesamtes Hab und Gut in Form eines Koffers, meiner Kreditkarten und einer Festplatte voller Geschäftskontakte, die ich glücklicherweise von überall auf der Welt aus betreuen konnte.
Doch Ayaka hatte sich verändert, und widmete mir nicht mehr so viel Aufmerksamkeit wie in meiner Heimat. Ich litt sehr unter ihrer abweisenden Art und versuchte, sie immer wieder darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig sie für mich war, und wie sehr ich mich fürchtete, sie zu verlieren.
„Wenn ich länger als drei Tage nichts von dir höre, bringe ich mich um“, brach es schlussendlich gestern bei einem unserer so selten gewordenen Telefonate aus mir heraus.
„Das würdest du nicht wagen.“ Sie klang beunruhigt.
„Oh doch. Ich habe mir vor einer Woche eine Waffe besorgt, nachdem letzte Woche ein Mann aus unserem Appartementblock direkt vor der Haustür erstochen wurde. Wenn ich länger als drei Tage nichts von dir höre, erschieße ich mich.“
„Ich habe alle deine Bilder auf meiner Festplatte gespeichert …“
„Na und? Wenn ich tot bin, kannst du ja damit machen, was du willst.“
„Noch bist du es ja nicht. Du feiges Huhn hast schon oft mit Selbstmord gedroht und hast es dennoch nie getan. Ich glaube dir kein Wort. Also wenn du nochmal auch nur eine Silbe darüber verlierst, dass du dich umbringen wirst, erreicht eine Rundmail alle deine Geschäftspartner. Rund um den Globus. Innerhalb weniger Minuten. Ist das klar?“
„Das würdest du nicht tun …“ Ich seufzte laut. Nein, es war eher ein Stöhnen, als mir bewusst wurde, dass meine Finger nervös am Hosenstall hantierten.
„Ich lade gerade die Fotos hoch. Die vom Badezimmer. Wo du am Boden kniest und so nett in die Kamera lächelst.“
Ich griff nach dem Telefon, das mir vor lauter Zittern aus der Hand gerutscht war.
„Wie hättest du es gerne? Alphabetisch hintereinander oder soll ich die Reihenfolge selbst zusammensetzen?“
„Mach keinen Scheiß, damit würdest du mich ruinieren.“
Ich konnte mich eigentlich gar nicht richtig an die Bilder erinnern, so viele waren es mittlerweile. Natürlich hatte sie sie nicht gemacht. Ich hatte eine Kamera mit Selbstauslöser.
Sie hielt mich zuerst für geisteskrank, als ich ihr im Hauseingang mein Anliegen erklärte. Als sie den Kellner so dreist angemotzt und ihm mit einer Anzeige gedroht hatte, erlebte ich eine Erektion, von der ich bis dahin nur geträumt hatte.
Mein Leben war öde geworden. Meine Geschäfte liefen perfekt, auch wenn ich nur einer der vielen Fische in dem großen Marktbecken war. Die Kunden schätzten mein seriöses Auftreten, meine Zuverlässigkeit, meinen guten Ruf. Andere hätten sich auf ihrem Erfolg ausgeruht. Mir wurde das alles langweilig, und es kotzte mich regelrecht an, wenn ich nur an einen bevorstehenden Abschluss dachte. Aber von irgendetwas musste ich leben. Für meine eigentliche Berufung, wegen der ich unter den Menschen dieser Welt verweilte, gab es kein Geld.
„Was würden deine Geschäftspartner sagen, wenn sie wüssten, dass du fremden Frauen in dunkle Hauseingänge folgst und sie zu Tode erschreckst?“
„Ich kenne mindestens dreißig, die sofort abspringen würden.“
Mist, mit einem von denen habe ich morgen ein Meeting, wurde mir im selben Moment klar. So erregend ich den Gedanken fand, so hatte ich doch auch Angst, Verluste zu erleiden.
„Wir müssen uns treffen“, sagte Ayaka.
„Wieso?“ Meine Erregung verflüchtigte sich plötzlich. An persönlichen Treffen war ich noch nie interessiert gewesen. Ich wollte nur bedroht werden. Am liebsten aus der Ferne.
Warum bin ich ihr dann gefolgt, fragte ich mich auf einmal.
„Wir müssen die Details neu besprechen. Ich habe einen neuen Job und lebe in einer neuen Beziehung. Der Zeitplan passt nicht mehr.“
„Aha. Okay. Wann?“
„Morgen. Ich komme nach dem Frühstück zu dir.“
„Zu mir?“ Ich sah mich in meinem Appartement um. Nein, es gab nichts, wofür ich mich hätte schämen müssen. Nur war ich auf Frauenbesuch nicht eingerichtet. Mir wurde bewusst, dass ich, seitdem meine Ex Schluss mit mir gemacht hatte, mit keiner Frau mehr zusammen gewesen war. Es hatte in der Zwischenzeit nicht einmal eine Affäre gegeben.
Wieso bin ich ihr gefolgt?
In meinen Schläfen pochte es plötzlich, und mir kam die Szene in den Sinn, wie sich meine Eltern damals von mir verabschiedet hatten, bevor sie in den Urlaub flogen. In den Urlaub, in dem sie nie ankamen.
„Gut. Dann bis morgen.“
***
Sie kommt um kurz nach acht. Ich denke tatsächlich, sie will mit mir reden. Doch sie zeigt mir ihr iPad. Ihr E-Mail-Postfach ist offen. In den Entwürfen ist eine Sendung vorbereitet. Die Adressen sind mir allesamt bekannt, der Anhang beinhaltet sieben Bilder.
Ich schlucke laut.
„Wo ist deine Waffe?“
Ich bekomme es oft mit der Angst zu tun. Mein ganzes Leben bestand früher aus Verfolgung und Verfolgtwerden. Doch meine Einsätze wurden mit der Zeit rar und zusätzlich stumpfte ich ab. Kaum eine Konfrontation regte mich noch auf. Deshalb habe ich ihr all die Daten meiner Geschäftspartner übergeben und sie regelmäßig mit neuem kompromittierendem Material versorgt. Sie hätte jederzeit hinter meinem Rücken eine E-Mail verschicken können. Schon alleine der Gedanke befördert mir zusätzliches Blut in meine Lenden. Aber sie vor mir stehen zu sehen, die Gefahr so vis-à-vis zu haben, macht nicht nur mein Glied steif. Ich bin starr vor Angst. Meine gesamte Existenz steht plötzlich auf dem Spiel.
„Leg das Ding weg.“ Ich deute auf das iPad, weil sie mit den Fingern ständig über den Bildschirm streift. Ein blöder Zufall reicht völlig und alles ist aus.
„Wo hast du die Waffe?“
„Ich habe keine. Ich habe dich angelogen.“
„Ach so.“ Sie streift bewusst mit dem Finger über den Sendebutton und grinst mich dabei diabolisch an.
Ich grunze laut und kann mich nur mit viel Mühe beherrschen…
„Tu es!“ Sie zieht den Bildschirm aus meinem Sichtfeld und richtet die Linse der Kamera auf mich.
Ich schüttle verneinend den Kopf. Es ist nie meine Absicht gewesen, dass sie mir zusieht oder dass sie irgendwie anders mit meiner Neigung in Berührung kommt. Sie sollte mich lediglich erpressen.
„Tu es oder ich schicke die Mail weg …“
***
Ich knie erschöpft auf dem Boden. Erleichtert und glücklich über dieses außerordentliche Erlebnis, aber auch darüber, noch einmal glimpflich davongekommen zu sein.
„Es hätte mich sehr gewundert, wenn du mich mit der Waffe nicht angelogen hättest. Du warst schon immer ein Feigling. Einen anderen über dein Glück oder Unglück entscheiden zu lassen ist feige. Die Opferrolle, in der du dich so gerne siehst, ist dieses Verstecken vor Verantwortung. Nicht ich bedrohe dich, sondern du mich. Ich kann das Wort Selbstmord nicht mehr hören.“
Sie nimmt etwas aus der Handtasche und legt es auf den Tisch. Dann tippt sie etwas auf der Bildfläche ihres iPads ein, wartet, bis es in den Off-Modus geht, und kommt dann auf mich zu.
„Höllenhund“, spricht sie unser Codewort aus. Mich durchfährt ein Blitz. Das Wort war für mich gedacht! Ich hatte es für mich vorgesehen! Ich hätte es mir schließlich anders überlegen können und meinen Alltag plötzlich ohne die Gefahr, von ihr ruiniert zu werden, weiterführen wollen. Sie hatte doch nichts anderes zu tun gehabt, als mich regelmäßig daran zu erinnern, dass sie genug gegen mich in den Händen hatte, um meine Karriere zu beenden, um meinen Ruf zu ruinieren, meine Einnahmequelle zum Versiegen zu bringen. Das war doch nicht viel verlangt.
Sie streift mir mit der Hand durchs Haar, als sie an mir vorbeigeht, um zur Tür zu gelangen.
„Nimm dir Zeit für dich“, verabschiedet sie sich und macht die Tür hinter sich zu.
Ich starre die Waffe auf dem Tisch an. Dann meldet sich mein Laptop mit einem lauten Gong. Eine mechanische Stimme lässt mich wissen:
„Ihre Nachricht an Mr. John Card wurde soeben in Empfang genommen.“ Ich blicke durch das bodentiefe Fenster in die Ferne und betrachte die weiß-rosa blühenden Kirschbäume.
„Es ist ein sehr gefährliches Spiel, bist du dir dessen bewusst?“, hatte sie mich damals in dem dunklen Hauseingang gefragt.
„Ja“, lächelte ich sie an.
„Ich hoffe sehr für dich, dass du weißt, was du tust …“Crane Lake
Der Crane Lake entstand vor etwa fünfzig Jahren aus den Abwässern einer Kosmetik- und Pharma-Fabrik. Eigentlich mitten in der Stadt, jedenfalls in einem der alten Bezirke inmitten der klassisch ländlichen Bauten.
Kein Baumogul hatte es geschafft, sich in ihre Reihen einzukaufen, um dort eines der modernen Hochhäuser, egal ob Wohn- oder Büroblock, hinzubauen.
Auch in Zeiten des Umweltschutzes hatte es zuerst tatsächlich niemand bemerkt: Die Fabrik entledigte sich ihres Nebenproduktes nicht permanent, nur sporadisch, und das auch nicht in größeren Mengen. Nur so viel, wie auch ein kräftiger Regenguss mit sich brachte. Doch obwohl die Zuständigen später vor Gericht behaupteten – und sogar Gutachten vorlegten –, dass es sich dabei um beanstandungsloses Kühlwasser handelte, schien es die Natur besser zu wissen und der Boden weigerte sich, dieses Abwasser aufzunehmen.
So lief das Wasser den leichten Abhang hinab und sammelte sich an der tiefsten Stelle des Waldes, wo sich bereits – so ergaben es die Untersuchungen der Umweltbehörde – im ersten Jahr ein kleiner See bildete.
Umweltfreundlich wäre es allemal gewesen, die Kanalisation auszubauen, die sich seit Jahrhunderten unter den traditionsreichen Behausungen befand. Anstatt die Natur weiter zu belasten. Dafür hätten jedoch einige der uralten und – was noch mehr zählte – Touristen anlockenden Häuser Platz machen müssen, und das wollte keiner der hiesigen Politiker verantworten.
Also entledigte sich die Fabrik auch weiterhin sporadisch ihres Abwassers und der kleine Teich wuchs zu einem kartographisch erfassbaren See.
Das Wasser war kristallklar, was niemanden daran zweifeln ließ, dass es sich tatsächlich um reines, filtriertes und unbelastetes Wasser handelte, und die Anwohner begannen darin zu baden. Die traditionsreiche Schönheit des Stadtteils lockte schon genug Touristen und viele der ansässigen Reisbauern boten nun ihre Behausungen den an Kultur interessierten Fremden als Urlaubsunterkünfte an. Für den Urlaub am See.
Seinen ersten Namen verdankte der See den Jasmin-Reisfeldern, wobei das Wasser tatsächlich nach Jasmin zu duften schien. Viele der in der Fabrik produzierten Kosmetika wurden mit Jasmin-Extrakten angereichert, was den herrlichen und verlockenden Duft erklärte, auch wenn so mancher an der Unbedenklichkeit des Wassers zu zweifeln begann. Zu der Zeit witterte jedoch die Tourismusindustrie einen fetten Profit in dem Jasminduft und bewegte sogar die Umweltbehörde dazu, die Bäume inmitten des Sees zu fällen, um den Touristen einen Badesee bieten zu können.
Dass die ersten Bewohner ihre Behausungen räumten und das Weite suchten, fiel nicht weiter auf. Vor allem, weil die kleinen Grundstücke endlich zum Verkauf standen und Platz für Hotels, Büros und die ersten Wohnblöcke inklusive Einkaufsmöglichkeiten boten.
Das alles hatte es früher nicht gegeben. Vor ungefähr hundert Jahren noch war dieser Distrikt ein selbständiges Dorf voller Selbstversorger gewesen. Es waren keine Geschäfte nötig, und wenn, dann wurde getauscht. Ein Naturalienhandel. Schulen gab es keine, denn auf Bildung legte damals niemand einen besonderen Wert, und Altare beziehungsweise winzige Tempel hatte sich jeder Reisbauer in seinem eigenen Haus errichtet, woran die gesamte Familie für reiche Ernte betete.
Der Name des damaligen Dorfes geriet später in Vergessenheit, ebenso der vom Jasminduft abgeleitete Name des Sees. Wie das?
Nicht nur die Touristen fanden Gefallen an dem kristallklaren Wasser in einer fast unberührten Gegend mit sattgrünen Wiesen und Blumen, die an teure Parfümläden erinnerten. Auch die Frösche drängelten sich plötzlich am Ufer und beanspruchten jeden Tag einen größeren Teil des Sees für sich und ihren Nachwuchs.
Die Stadtverwaltung zückte daraufhin die chemische Keule und verwandelte unbeabsichtigt den klaren See in eine grüne Jauche, in der es vor Fröschen und Kröten nur so wimmelte. Neu gebildete Kommissionen nahmen sich des Problems an, was zur Schließung der Fabrik führte. Die Touristen blieben aus, die Anwohner verließen ihre Felder und Häuser, die Firmen siedelten ihre Büros um – der einst am dichtesten besiedelte Distrikt war nun beinahe unbewohnt.
Man stieg von der Chemie auf natürliche Feinde um, aber auch die mühsam angesiedelten Kraniche konnten den Fröschen nicht Paroli bieten. Nur Mutige wagten sich noch ohne Tauchanzug in das grüne Wasser. Lediglich der Jasminduft war geblieben, der sich scheinbar in dem dichten Schilf – in das sich die farbenprächtigen Blumensträucher am Rande des Sees mit der Zeit verwandelten – verfangen hatte.
Arm ist der siebte Distrikt dennoch nicht. Die immer noch intakten Häuser dienen als Kulisse für Filme mit historischer Thematik. Die leere und mittlerweile doch recht verfallene Fabrik ist in der ganzen Welt bekannt. Nicht nur für die bislang ungelösten Kriminalfälle, die sich darin abspielten. Auch wegen des preisgekrönten Thrillers, der hier erst vor drei Jahren gedreht wurde und vor allem deshalb für Aufsehen sorgte, weil der Hauptdarsteller nach Abschluss der Dreharbeiten spurlos verschwand und bis heute nicht gefunden wurde.
Der siebte Distrikt zählt heute statt der früheren achtzigtausend Bewohner nur mehr fünfzig Personen. Die meisten wohnen an der Grenze zu den anderen Distrikten. Nur eine einzige Person sorgt dafür, dass der See nicht in Vergessenheit gerät. Ihr Haus liegt am Hügel und bietet so den rar gewordenen Gästen einen wunderschönen Blick auf den traditionsreichsten, aber auch sagenumwobensten Teil von Fairport: den Crane Lake.Ein Hilferuf
Saki
Sieben Tage ließ ich mir Zeit.
Nein.
Sieben Tage lange fragte ich mich in jeder meiner wachen Minuten, was ich tun sollte.
Endlich fand ich einen Platz, an dem ich verschont blieb von all den flüsternden Blicken. Hatte mich dazu durchgerungen, meine vier Wände zu verlassen. Und endlich war ich das Hämmern an den Wänden los, wenn meine Schreie die Nachbarn aus dem Schlaf gerissen hatten.
Ich will hier nicht weg. Nicht weg aus meiner endlich gefundenen perfekten Welt.
Nur, wie konnte ich glauben, ich könnte diesen Visionen entfliehen? Und warum ließen sie so lange Zeit auf sich warten?
War die Welt in dieser Zeit etwa ohne Verbrechen geblieben?
Das kann ich nicht glauben.
Ist es vielleicht die Rache, weil ich nie etwas unternommen habe? Keiner dieser armen Seelen geholfen habe?
Ich stehe in der Tür zu meiner Terrasse und strecke mein Gesicht dem See entgegen. Aber auch das Säuseln des Windes, der sich in der unruhigen Wasseroberfläche verfängt, will mir keine Antwort geben.
„Telefonbuch“, richte ich mein Wort an den Computer. „Takamura. Ai Takamura.“
Keine Sekunde später ertönt das Läuten.
Ingenium
Kampf der Völker
Zoe Zander
Fantasy-Roman
© 2018 Zoe Zander
Ingenium – Kampf der Völker
Fantasy-Roman
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Covergestaltung: Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Leseeulen-Verlag
Selbstverlag
Jeanette Peters
Dörwerstraße 68
44359 Dortmund
Email: Leseeulenverlag@gmx.de
Zander.Zoe@gmail.comDas Buch
Wie alle seine Vorgänger hat er keinen Namen. Auch kein Aussehen. Nur eine Mission: Seinesgleichen zu verteidigen und die Welt, in der die Ingenier leben, zu beschützen.
Er ist der Auserwählte – ein einsamer Krieger. Bis zu dem Tag, an dem er ihr begegnet. Sie wird seine Lebensretterin, Geliebte und der Grundstein für die sichere Zukunft seines Volkes.
Informationen zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Jedes Licht hat seinen Schatten
„Sie haben ihn getötet!“
Die Nachricht breitet sich in dem grünen Teil des Königreichs aus wie ein Lauffeuer.
„Mehr als zweihundert Jahre hat er für unser Reich gekämpft. So lange hat noch keiner unserer Boten durchgehalten.“
Die ersten Nachrufe werden laut.
„Die Energie hält eben nicht ewig.“
„Die Zeiten haben sich geändert. Das, was ihn am Anfang dem Feind überlegen machte, wurde zum Ballast.“
Ein Gewitter braut sich zusammen. Genauso düster wie die Stimmung in dem grünen Reich. Und so wie sich die Wolken am Himmel zusammenziehen, versammeln sich auch die Volksväter und weisen Frauen, um sich zu beraten.
„Es hätte nicht so weit kommen müssen“, seufzt eine weißhaarige Frau im langen grünen Umhang. „Wir haben ihn schon vor Urzeiten aufgefordert zurückzukehren …“
„Es war zu gefährlich. Zu gefährlich für unser Reich, dort in der Welt nicht vertreten zu sein.“
„Wir wollten ja nicht, dass er auf ewig zu uns zurückkommt. Aber wir haben ihn dem Feind schutzlos ausgeliefert. Zweihundert Jahre hat er getrennt von uns gelebt, nicht an unserem Fortschritt teilgenommen. Das hat ihn schlussendlich getötet.“
„Nicht das. Der Feind war das.“
„Und wir tragen die Schuld. Sie halten ihre Boten immer auf dem neuesten Stand …“
„Nur deshalb konnte er sie der Reihe nach finden und vernichten. Weil sie immer wieder in ihr Reich zurückgekehrt waren. Man kann nicht durch die Pforten gehen ohne Spuren seiner Herkunft mitzunehmen. Irgendetwas bleibt immer an einem hängen. Der Duft …“
„Eher der Gestank“, kann jemand in den Reihen der Trauernden seine Zunge nicht zügeln.
„Seien wir ehrlich, nur deshalb konnte er sie aufspüren, ihre Pläne vereiteln, unser Reich schützen. Nur deshalb hat er so lange unentdeckt bleiben können.“
„Wir müssen seinen Nachfolger bestimmen.“
„Die Wahl ist bereits gefallen.“
„Doch nicht auf diesen Hitzkopf!“
„Er hat als Einziger alle Prüfungen bestanden …“
„Ich protestiere!“, meldet sich die Frau mit dem langen grünen Umhang wieder zu Wort.
„Hast du einen besseren Kandidaten zu bieten?“
Sie verstummt, denn sie hat nicht. Jedenfalls keinen, der diesem eigensinnigen Wesen in jeder Hinsicht ebenbürtig wäre.
„Wir haben keine Zeit. Holt ihn her und schickt ihn auf die Reise …“
Die Versammlung löst sich langsam auf. Während sich der Mann, gekleidet in einen grauen, panzerartigen Anzug, auf das Treffen mit seinem Kandidaten vorbereiten geht, beugt sich die Frau mit dem grünen Umhang über den toten Körper, den das Wasser angespült hat.
„Sprich zu mir.“ Dabei streift sie der leblosen Hülle über das nasse Haar, während zwei junge Mädchen Blumen über den Toten streuen. Doch weder ihre Worte noch die Blumen können dem Toten eine Botschaft entlocken.
Sie verweilt eine Zeitlang in der Position, und den Blumenmädchen scheint es tatsächlich so, als würde der reglose Körper plötzlich zu ihr sprechen. Die Frau runzelt ihre makellose Stirn, als wäre sie mit der Nachricht nicht zufrieden.
„Holt sie zu mir!“, befiehlt sie, ohne einen Namen zu nennen – weder den jener Frau noch dessen, an den der Befehl gerichtet ist.
Die Mauer hinter ihr bewegt sich. Dort, wo man vorhin noch einen Stein vermutet hätte, steht nun ein Mann.
„Tatur hat bereits entschieden. Wollt Ihr seine Wahl weiterhin infrage stellen?“
„Nein. Soll er seinen Boten entsenden. Wir schicken unseren.“
„Zwei Boten? Das gab es noch nie! Das entspricht nicht den Regeln“, rügt der Mann seine Herrin.
„Der Krieg hat keine Regeln. Schon gar nicht werde ich mich an Regeln halten, die der Feind aufstellt, ohne sich selbst daran zu halten.“ Dann erhebt sie sich endlich, worauf sich der tote Körper augenblicklich in Asche verwandelt, die der Wind sogleich mit sich fortträgt.
„Wie meint Ihr das?“, fragt der Mann aus dem Felsen.
„Der Feind agiert nicht alleine …“
„Aber man kann nicht mehrere von uns und auch nicht von ihnen zur gleichen Zeit durch die Pforten schicken …“
„Sie müssen einen Weg gefunden haben. Und wenn nicht, dann einen Weg, ihre bösartige Energie auf die Menschen zu übertragen und sie so zu ihren Gunsten zu beeinflussen.“
Die weise Frau begibt sich in den Wald. Der Mann aus dem Felsen bleibt wie versteinert auf der Stelle stehen und sieht ihr erschrocken nach.
„Hol sie! Wir dürfen keine Zeit verlieren.“ Sie geht auf einen der Bäume zu. Dann dreht sie sich nochmals um, als würde sie die Bedenken ihres Untertanen spüren. „Dieser Hitzkopf soll als Bote seine Aufgabe erfüllen. Sie soll dafür sorgen, dass er länger durchhält als nur die zweihundert Jahre …“ Dann wird sie eins mit dem Baum.
***
„Er ist wunderschön. Genauso wunderschön wie du, Liebling.“
„Ja“, seufzt sie erschöpft und glücklich zugleich.
„Und? Welchen der tausend Namen, die du ausgesucht hast, willst du ihm jetzt geben?“
„Ianos.“
„Ianos?“, fragt er etwas verwundert.
„Ja. Er sieht genau wie ein Ianos aus“, antwortet sie und streicht ihrem neugeborenen Sohn sanft über die Wange.Väter und Söhne
Ianos
Schon komisch. Da nehme ich ein Leben pro Woche und nun versuche ich, seit Stunden eines zu retten.
Der Mann sitzt auf der Balustrade und blickt in die Tiefe. Den Fluss gab es hier schon zu Zeiten meines Urgroßvaters und diese Zeit heißt bei einem wie mir – schon zu Zeiten der ersten Siedler auf dem amerikanischen Kontinent. Damals war er an dieser Stelle viel tiefer als heute. Am Tag kann man den Grund sogar von hier oben erkennen. Lauter Steine, die bei einem Fall von dieser Höhe den Schädel spalten können.
„Es gibt nichts, was Ihnen Ihre Familie nicht verzeihen würde.“
Der Mann seufzt und nickt zustimmend mit dem Kopf.
„Ihr Sohn würde Sie sehr vermissen. Gerade jetzt braucht er Sie mehr denn je.“
Es klingt wie ein gequältes Lachen.
„Das hat schon dein Vater zu mir gesagt.“
Seit Stunden stehe ich an dieser Stelle. Eigentlich hatte ich nicht vor, ihm noch näher zu kommen. Gerettete haben oftmals den Drang, sich ihrem Retter für ewig verbunden zu fühlen. Ich mag keine ewigen Verbindungen. Die können bei einem wie mir verdammt lange dauern. Doch seine Worte bewegen mich dazu, dieser Gewohnheit ausnahmsweise nicht zu folgen, und ich komme ihm näher. Mehr noch. Ich steige ebenso über die Absperrung und setze mich zu ihm auf die Balustrade.
„Mein Vater?“ Meine Zieheltern waren nie im Fairport. Sie starben, als ich noch ziemlich jung war. Jung als Mensch. Mein Vater war ein Mathematik-Lehrer. Meine Mutter unterrichtete Musik. Woher sollten sie den ehemaligen Fairporter Polizeipräsidenten kennen?
„Dein richtiger Vater.“ Nun dreht sich der Mann um und sieht mich an. Nur der Mond erleuchtet sein Gesicht. Es reicht aus, um in seinen Augen zu erkennen, dass er die Wahrheit sagt.
„Woher …?“
„Ich wusste, was er für einer war. Er hat mir beigebracht auch die anderen zu erkennen.“
In meinem Kopf sausen Gedanken umher. So schnell, dass ich mich keinem einzigen von ihnen länger widmen kann.
„Ich habe versucht, ihm zu helfen. Suchte auf eigene Faust nach diesen Kreaturen. Alles nur mit mäßigen Erfolg.“
„Ist das der Grund …?“
„Warum ich hier stehe?“ Er gibt schon wieder dieses eigenartige Geräusch von sich. Ich mag Lachen. Aufrichtiges – herzliches Lachen. Nicht dieses Knurren. Es sieht zu sehr den Synthetikern ähnlich.
„Nein. Warum Sie sich so nutzlos fühlten und wieder mit diesem Scheiß angefangen haben.“ Ich blicke zum Mond und fasse den Entschluss, dass, sollte er noch einmal dieses Geräusch machen, ich ihn selbst von der Brücke stoße.
„Ich habe ihn gesehen. Er war ein Held …“
„Ja, das war er.“ Ich schmunzle. Ich weiß, dass mich jetzt unser Nachwuchs vergöttert und sie alle ihr Bestes geben, nur, um als Nachfolger infrage zu kommen, wenn es mich eines Tages erwischt.
„Als ich ihn damals fand, war es, als hätte ich Superman vor mir liegen. Ich habe einem Helden das Leben gerettet und wollte eigentlich genauso werden, wie er es war.“
„Das Leben gerettet?“
„Na gut, mit der Reihenfolge stimmt was nicht.“
Ich klopfe ihm vorsichtig auf den Rücken. Nur so viel, dass ich ihn nicht von der Brücke stoße. Er lacht schon wieder so komisch und ich knurre ihn daraufhin bedrohlich an.
„Ich war bereits über zehn Jahre Polizeipräsident. Jeden Tag bekam ich in der Früh von meiner Sekretärin einen Kaffee auf den Tisch gestellt, gerade, als ich in den Aufzug gestiegen war. Immer die gleichen Anrufe, Veranstaltungen und sogar die Verbrechen bekamen nach einiger Zeit ein gewisses Schema. Aber so was kennst du ja nicht.“
Ich schweige. Nicht, dass ich mit Lügen ein Problem hätte, aber die Balustrade ist schmal und drückt unangenehm ins Sitzfleisch. Ich will mich nicht erklären.
„Jeder Straßenpolizist führte ein aufregenderes Leben als ich, also erschuf ich mir meinen eigenen Krimi.“
„Aha.“
„Ein namhafter Architekt wurde erpresst. Er hatte viele Beziehungen und eine dieser Beziehungen bat mich darum, ein Auge auf den Fall zu werfen. Der Architekt hatte ein eigenartiges Hobby. Er goss nackte Frauen in Gips und als dieser hart wurde, hatte er mit den Skulpturen Sex. Leider hat ihn dabei jemand fotografiert und plötzlich stand nicht nur seine Familie, sondern seine gesamte Existenz auf dem Spiel. Während er mich täglich anflehte, den Täter zu fassen, fand ich mit jedem Tag mehr Gefallen an der Idee. Nur gab es nichts in meinem Leben, was man mir irgendwie vorhalten hätte können. Also fing ich mit kleinen Parkdelikten und Geschwindigkeitsübertretungen an und steigerte mich immer weiter, bis ich eines Tages …“
„Ja?“ Persönliche Schicksale anderer interessierten mich noch nie. Doch hier habe ich das Gefühl, dass es interessant werden könnte.
„Ich fing eine Affäre an. Sie war jung, wunderschön und hatte keine Ahnung, wer ich war.“
„Und?“ Ich bin enttäuscht.
„Aber sie hätte es jederzeit herausfinden können. Und das bescherte mir den Kick. Anfangs …“, gibt er zum Schluss selbst geknickt zu. „Also half ich nach, doch als sie dann erfuhr, dass ich längst verheiratet war und sogar einen Sohn hatte – war es ihr egal.“
„Na das ist ja ein Ding“, bemerke ich aufgesetzt – entsetzt.
„Ich machte Schluss und versuchte in einer Bar meine Enttäuschung zu ertränken, als ich auf eine Frau aufmerksam wurde. Die Olive in ihrem Drink war angeblich nicht frisch und sie brüllte sogar den Lokalbesitzer in Grund und Boden, sodass er ihr für ein Jahr lang freie Getränke anbot, nur damit sie endlich den Mund hielt. Als er von ihrem Tisch weg ging, stand ich auf und ging zu ihr. Ich machte ihr direkt das Angebot – mit mir ein Spiel zu spielen. Ein junges Ding wie sie könnte doch Geld brauchen und ich würde ihr Geld geben. Monatlich eine Summe, für die sie sich etwas Schönes kaufen könnte. So fing es an. Mit dem Geld schickte ich ihr immer wieder das Bildmaterial, womit sie mich bloßstellen hätte können. Anfangs waren es Aufnahmen meines Wagens im Parkverbot. Später – wie ich im Stadtpark Zigarettenstummel auf den Boden warf.“
Meine Güte – denke ich mir und verdrehe dabei gelangweilt die Augen.
„Bis irgendwann ein Foto von mir und meiner früheren Geliebten dazwischen geriet.“
„Okay …“ Ich erhebe die Augenbrauen, was er – weil er ins Wasser starrt – nicht sehen kann.
„Irgendwann suchte ich nach dem Bild und dachte sofort, dass es mir reingerutscht sein musste. Aber sie reagierte nicht und so atmete ich erleichtert auf. Gleichzeitig wurde ich mir jedoch der Erregung bewusst, die ich bei der Suche und vor allem bei dem Gedanken – es ihr zugeschickt haben zu können – erlebte. Danach nahm die Geschichte eine ganz schlimme Entwicklung an.“
„Ich verstehe.“ Ich verstehe nicht viel, aber auf irgendwelche Schweinereien habe ich keine Lust.
„Eines Tages fand ich einen Brief in meinem Büro. Ich wunderte mich sehr, dass die Sekretärin ihn nicht aufgemacht hatte. Nachher war ich froh darüber, dass sie es nicht getan hatte. Ab da häuften sich solche Sendungen, und mir glitt das ganze Spiel aus den Händen. Sie wollte kein Geld.“
„Nein? Was dann?“
„Daten. Die Daten der Sicherheitsanlage des alten Pharmakonzerns.“ Ich pfeife leise. Der pensionierte Polizeipräsident sieht zu mir hoch. „Der Architekt gestand mir in einem unserer Gespräche, dass er sich sehr wohl der Gefahr bewusst war. Es jedoch wie eine Droge empfand und nicht davon lassen konnte. Ich hatte es ebenso zu weit getrieben und sah dann nur noch einen Ausweg.“ Nun blickt er erneut ins Wasser. „Ich wartete auf sie vor dem Lokal, wo sie sich jeden Mittwoch ihren Gratisdrink holte. Meine Pistole war geladen, aber den Schuss feuerte ein anderer ab.“
„Mein Vater?“
„Ich hatte ihn zuvor noch nie gesehen. Und auch da sah er mich nicht an. Er sagte nur – einer wie ich sollte mir nichts zu Schulden kommen lassen. Und aus den Fehlern lernen.“
„Weise Worte.“
„Er verschwand, wie er gekommen war. Ich aber nutzte die Gelegenheit und stellte ein paar Ermittlungen an, um dahinter zu kommen, wer Interesse an den Daten des Sicherheitssystems haben könnte. Und irgendwann kreuzten sich unsere Wege erneut. Ab da folgte ich ihm. Und fand ihn eines Tages wieder, als er mit einer Frau in einem Hotel verschwand. Ich nahm mir ebenfalls ein Zimmer, direkt neben seinem und wartete. Ich wartete einen ganzen Tag, bis hinter der Wand die Hölle los brach und er von einem Halbwüchsigen nur in der Unterhose auf die Terrasse getrieben wurde. Er kroch auf dem Boden und hob dann ab. Er schwebte über dem Boden und mir kam es so vor, als hätte sein ungebetener Gast etwas damit zu tun, nur konnte ich mir das nicht erklären. Ich hielt meine geladene Waffe in der Hand, versteckte mich hinter dem Vorhang meines Zimmers und sah dem Spektakel zu – unfähig einzugreifen. Der junge Mann ging auf ihn zu und mit jedem seiner Schritte schwebte dein Vater näher auf den Abgrund zu. Dann tauchte die junge Frau urplötzlich auf. Sie war nackt. Als hätte er sie im Bett erwischt. Sie blieb stehen, führte sich die Hand zur Brust und machte mit dem Arm eine Bewegung, als wollte sie jemanden von sich weg stoßen. Und der Jugendliche hob ab, als hätte ihn eine starke Windböe erfasst. Er flog an deinem Vater vorbei und stürzte in die Tiefe. Sie drehte sich daraufhin um und ging weg. Ich brauchte eine halbe Ewigkeit, bis ich aufhörte mit mir zu hadern, ob das alles nur ein Traum war. Dann eilte ich deinem Vater zur Hilfe. Ich verbrachte die ganze Nacht bei ihm. Er fragte immer nach reinem Wasser. Also brachte ich ihm welches. Zum Trinken und ich wusch auch seinen Körper ab. Seine Haut war gerötet, glühte, als wäre er mit etwas Giftigem in Kontakt gekommen.“
„Die Synthetiker.“
„Ja. In seinem Wahn erwähnte er das Wort. Ich war irgendwann so erschöpft, dass ich einschlief. Als ich aufwachte, war er verschwunden. Doch ich gab nicht auf und recherchierte weiter. Auch in alten Überlieferungen. Dabei stieß ich auf die Erzählungen über eine fremde Spezies, die vor Jahrtausenden auf unserem Planeten gelandet war …“ Er sieht erneut zu mir hoch. „Später – sah ich die junge Frau wieder. Die Ermittlungen in einem anderen Fall führten mich in ein privates Spital – im Leichenschauhaus – in einer der Kühlboxen – laut Datenblatt war sie einen Tag zuvor ums Leben gekommen. Doch trotz der Kühlung war ihr Körper warm. Ich beschlagnahmte ihre Leiche und … brachte sie zu deinem Vater.“
„Zu meinem Vater?“
„Mein Alltag war nach dem Tod von Roi wieder genauso langweilig geworden, wie zuvor. Ich verbrachte viel Zeit mit Naturheilern und Schamanen und lernte, deinen Vater aufzuspüren. Sogar dich habe ich aufgespürt, als du als Mensch geboren wurdest. Ianos.“
Ich erschaure.
„Ich habe versucht, nach seinem Tod, seine Aufgaben zu übernehmen. Nur bis du alt genug warst.“
„Und?“, frage ich und grinse dabei. Ein Guter – oh ja. Aber eben nur ein Mensch.
„Ich sitze hier.“
„Ich kümmere mich drum.“
„Es ist zu spät.“
„Es ist nie zu spät. Du wirst dich deinem Sohn … Du wirst dich Tetsu erklären müssen“, duze ich ihn auf einmal. „Du hast einen Schaden angerichtet, der – wird er nicht behoben – auch deinem Sohn schaden könnte. Darum kümmere ich mich. Als Dank, dass du meinem Vater geholfen hast. Doch solltest du noch einmal schwach werden, stoße ich dich selbst von dieser Brücke.“
Es hat mich schon immer in die Pharmafabrik gezogen. Wird Zeit, dass ich diesem Impuls nachgehe …Kirschblüten
Ianos
„Nimm dir Zeit für dich …“, sagte sie zu mir und streifte mir dabei sanft durchs Haar.
Das war vor einer gefühlten Ewigkeit, und dennoch glaube ich noch immer, ihr Parfüm zu riechen. Und wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie direkt vor mir: diese feenhafte Gestalt mit dunklen Mandelaugen und glänzendem Haar.
Es war Liebe auf den zweiten Blick.
***
Zuerst hatte ich sie gar nicht bemerkt, obwohl sie mit ihren Freundinnen in dem Restaurant am Nachbartisch so laut kicherte, dass ich am liebsten das Lokal verlassen hätte. Doch in dem Augenblick, als sie dem Kellner drohte, das Restaurant zu melden, weil die Zusammensetzung der Speisen auf der Karte nicht ausgewiesen war, war ich ihr verfallen.
Ich schlang mein Essen wie ein halb Verhungerter herunter und hätte beim Verlassen des Lokals beinahe vergessen zu bezahlen, nur weil ich das kichernde Grüppchen nicht aus den Augen verlieren wollte.
Ich folgte ihr die ganze Zeit mit sicherem Abstand und wartete, bis sich alle ihre Freundinnen nach und nach verabschiedet hatten. Als ich sie dann vor einem unbeleuchteten Hauseingang ansprach, kreischte sie beinahe das ganze Viertel zusammen und drohte mir mit der Polizei – bis ich sie davon überzeugen konnte, dass ich ihr nichts Böses wollte.
In dieser Nacht hatte ich den besten Sex aller Zeiten, und das nur, weil ich die Telefonnummer von dieser Frau bekommen hatte – und das Versprechen, mich bei ihr melden zu dürfen.
Das war vor zehn Jahren. Etwas später hat mich meine Freundin verlassen, weil sie meine Geheimnistuerei nicht länger ertrug und mir nicht mehr glauben wollte, dass ich sie nicht betrog. Dabei hatte ich sie wirklich nicht betrogen. Jedenfalls nicht sexuell, denn ich war mit Ayaka noch nie im Bett gewesen. Wir waren noch nie gemeinsam essen gewesen, auch nicht im Kino. Eigentlich trafen wir uns seit dieser Nacht heute zum ersten Mal wieder. Wir hatten lediglich miteinander telefoniert und uns E-Mails geschrieben.
Dann hätte ich sie beinahe verloren, als sie mir aus heiterem Himmel offenbarte, dass sie zurück nach Fairport ziehen wollte. Ich sagte ihr damals, dass sie das nicht tun dürfe, denn ich könnte ohne sie nicht leben. Sie meinte lasch: „Dann folge mir oder sieh zu, wie du ohne mich zurechtkommst.“
Ich hatte keine Lust mehr, ohne sie zurechtzukommen. Nicht nach den wundervollen eineinhalb Jahren voller Panik, schlafloser Nächte und Momente des vollkommenen Glücks.
Zwei Tage später saß ich im Flieger und nach einem Flug um die halbe Erdkugel kam ich endlich in Fairport an. Mit mir mein gesamtes Hab und Gut in Form eines Koffers, meiner Kreditkarten und einer Festplatte voller Geschäftskontakte, die ich glücklicherweise von überall auf der Welt aus betreuen konnte.
Doch Ayaka hatte sich verändert, und widmete mir nicht mehr so viel Aufmerksamkeit wie in meiner Heimat. Ich litt sehr unter ihrer abweisenden Art und versuchte, sie immer wieder darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig sie für mich war, und wie sehr ich mich fürchtete, sie zu verlieren.
„Wenn ich länger als drei Tage nichts von dir höre, bringe ich mich um“, brach es schlussendlich gestern bei einem unserer so selten gewordenen Telefonate aus mir heraus.
„Das würdest du nicht wagen.“ Sie klang beunruhigt.
„Oh doch. Ich habe mir vor einer Woche eine Waffe besorgt, nachdem letzte Woche ein Mann aus unserem Appartementblock direkt vor der Haustür erstochen wurde. Wenn ich länger als drei Tage nichts von dir höre, erschieße ich mich.“
„Ich habe alle deine Bilder auf meiner Festplatte gespeichert …“
„Na und? Wenn ich tot bin, kannst du ja damit machen, was du willst.“
„Noch bist du es ja nicht. Du feiges Huhn hast schon oft mit Selbstmord gedroht und hast es dennoch nie getan. Ich glaube dir kein Wort. Also wenn du nochmal auch nur eine Silbe darüber verlierst, dass du dich umbringen wirst, erreicht eine Rundmail alle deine Geschäftspartner. Rund um den Globus. Innerhalb weniger Minuten. Ist das klar?“
„Das würdest du nicht tun …“ Ich seufzte laut. Nein, es war eher ein Stöhnen, als mir bewusst wurde, dass meine Finger nervös am Hosenstall hantierten.
„Ich lade gerade die Fotos hoch. Die vom Badezimmer. Wo du am Boden kniest und so nett in die Kamera lächelst.“
Ich griff nach dem Telefon, das mir vor lauter Zittern aus der Hand gerutscht war.
„Wie hättest du es gerne? Alphabetisch hintereinander oder soll ich die Reihenfolge selbst zusammensetzen?“
„Mach keinen Scheiß, damit würdest du mich ruinieren.“
Ich konnte mich eigentlich gar nicht richtig an die Bilder erinnern, so viele waren es mittlerweile. Natürlich hatte sie sie nicht gemacht. Ich hatte eine Kamera mit Selbstauslöser.
Sie hielt mich zuerst für geisteskrank, als ich ihr im Hauseingang mein Anliegen erklärte. Als sie den Kellner so dreist angemotzt und ihm mit einer Anzeige gedroht hatte, erlebte ich eine Erektion, von der ich bis dahin nur geträumt hatte.
Mein Leben war öde geworden. Meine Geschäfte liefen perfekt, auch wenn ich nur einer der vielen Fische in dem großen Marktbecken war. Die Kunden schätzten mein seriöses Auftreten, meine Zuverlässigkeit, meinen guten Ruf. Andere hätten sich auf ihrem Erfolg ausgeruht. Mir wurde das alles langweilig, und es kotzte mich regelrecht an, wenn ich nur an einen bevorstehenden Abschluss dachte. Aber von irgendetwas musste ich leben. Für meine eigentliche Berufung, wegen der ich unter den Menschen dieser Welt verweilte, gab es kein Geld.
„Was würden deine Geschäftspartner sagen, wenn sie wüssten, dass du fremden Frauen in dunkle Hauseingänge folgst und sie zu Tode erschreckst?“
„Ich kenne mindestens dreißig, die sofort abspringen würden.“
Mist, mit einem von denen habe ich morgen ein Meeting, wurde mir im selben Moment klar. So erregend ich den Gedanken fand, so hatte ich doch auch Angst, Verluste zu erleiden.
„Wir müssen uns treffen“, sagte Ayaka.
„Wieso?“ Meine Erregung verflüchtigte sich plötzlich. An persönlichen Treffen war ich noch nie interessiert gewesen. Ich wollte nur bedroht werden. Am liebsten aus der Ferne.
Warum bin ich ihr dann gefolgt, fragte ich mich auf einmal.
„Wir müssen die Details neu besprechen. Ich habe einen neuen Job und lebe in einer neuen Beziehung. Der Zeitplan passt nicht mehr.“
„Aha. Okay. Wann?“
„Morgen. Ich komme nach dem Frühstück zu dir.“
„Zu mir?“ Ich sah mich in meinem Appartement um. Nein, es gab nichts, wofür ich mich hätte schämen müssen. Nur war ich auf Frauenbesuch nicht eingerichtet. Mir wurde bewusst, dass ich, seitdem meine Ex Schluss mit mir gemacht hatte, mit keiner Frau mehr zusammen gewesen war. Es hatte in der Zwischenzeit nicht einmal eine Affäre gegeben.
Wieso bin ich ihr gefolgt?
In meinen Schläfen pochte es plötzlich, und mir kam die Szene in den Sinn, wie sich meine Eltern damals von mir verabschiedet hatten, bevor sie in den Urlaub flogen. In den Urlaub, in dem sie nie ankamen.
„Gut. Dann bis morgen.“
***
Sie kommt um kurz nach acht. Ich denke tatsächlich, sie will mit mir reden. Doch sie zeigt mir ihr iPad. Ihr E-Mail-Postfach ist offen. In den Entwürfen ist eine Sendung vorbereitet. Die Adressen sind mir allesamt bekannt, der Anhang beinhaltet sieben Bilder.
Ich schlucke laut.
„Wo ist deine Waffe?“
Ich bekomme es oft mit der Angst zu tun. Mein ganzes Leben bestand früher aus Verfolgung und Verfolgtwerden. Doch meine Einsätze wurden mit der Zeit rar und zusätzlich stumpfte ich ab. Kaum eine Konfrontation regte mich noch auf. Deshalb habe ich ihr all die Daten meiner Geschäftspartner übergeben und sie regelmäßig mit neuem kompromittierendem Material versorgt. Sie hätte jederzeit hinter meinem Rücken eine E-Mail verschicken können. Schon alleine der Gedanke befördert mir zusätzliches Blut in meine Lenden. Aber sie vor mir stehen zu sehen, die Gefahr so vis-à-vis zu haben, macht nicht nur mein Glied steif. Ich bin starr vor Angst. Meine gesamte Existenz steht plötzlich auf dem Spiel.
„Leg das Ding weg.“ Ich deute auf das iPad, weil sie mit den Fingern ständig über den Bildschirm streift. Ein blöder Zufall reicht völlig und alles ist aus.
„Wo hast du die Waffe?“
„Ich habe keine. Ich habe dich angelogen.“
„Ach so.“ Sie streift bewusst mit dem Finger über den Sendebutton und grinst mich dabei diabolisch an.
Ich grunze laut und kann mich nur mit viel Mühe beherrschen…
„Tu es!“ Sie zieht den Bildschirm aus meinem Sichtfeld und richtet die Linse der Kamera auf mich.
Ich schüttle verneinend den Kopf. Es ist nie meine Absicht gewesen, dass sie mir zusieht oder dass sie irgendwie anders mit meiner Neigung in Berührung kommt. Sie sollte mich lediglich erpressen.
„Tu es oder ich schicke die Mail weg …“
***
Ich knie erschöpft auf dem Boden. Erleichtert und glücklich über dieses außerordentliche Erlebnis, aber auch darüber, noch einmal glimpflich davongekommen zu sein.
„Es hätte mich sehr gewundert, wenn du mich mit der Waffe nicht angelogen hättest. Du warst schon immer ein Feigling. Einen anderen über dein Glück oder Unglück entscheiden zu lassen ist feige. Die Opferrolle, in der du dich so gerne siehst, ist dieses Verstecken vor Verantwortung. Nicht ich bedrohe dich, sondern du mich. Ich kann das Wort Selbstmord nicht mehr hören.“
Sie nimmt etwas aus der Handtasche und legt es auf den Tisch. Dann tippt sie etwas auf der Bildfläche ihres iPads ein, wartet, bis es in den Off-Modus geht, und kommt dann auf mich zu.
„Höllenhund“, spricht sie unser Codewort aus. Mich durchfährt ein Blitz. Das Wort war für mich gedacht! Ich hatte es für mich vorgesehen! Ich hätte es mir schließlich anders überlegen können und meinen Alltag plötzlich ohne die Gefahr, von ihr ruiniert zu werden, weiterführen wollen. Sie hatte doch nichts anderes zu tun gehabt, als mich regelmäßig daran zu erinnern, dass sie genug gegen mich in den Händen hatte, um meine Karriere zu beenden, um meinen Ruf zu ruinieren, meine Einnahmequelle zum Versiegen zu bringen. Das war doch nicht viel verlangt.
Sie streift mir mit der Hand durchs Haar, als sie an mir vorbeigeht, um zur Tür zu gelangen.
„Nimm dir Zeit für dich“, verabschiedet sie sich und macht die Tür hinter sich zu.
Ich starre die Waffe auf dem Tisch an. Dann meldet sich mein Laptop mit einem lauten Gong. Eine mechanische Stimme lässt mich wissen:
„Ihre Nachricht an Mr. John Card wurde soeben in Empfang genommen.“ Ich blicke durch das bodentiefe Fenster in die Ferne und betrachte die weiß-rosa blühenden Kirschbäume.
„Es ist ein sehr gefährliches Spiel, bist du dir dessen bewusst?“, hatte sie mich damals in dem dunklen Hauseingang gefragt.
„Ja“, lächelte ich sie an.
„Ich hoffe sehr für dich, dass du weißt, was du tust …“Crane Lake
Der Crane Lake entstand vor etwa fünfzig Jahren aus den Abwässern einer Kosmetik- und Pharma-Fabrik. Eigentlich mitten in der Stadt, jedenfalls in einem der alten Bezirke inmitten der klassisch ländlichen Bauten.
Kein Baumogul hatte es geschafft, sich in ihre Reihen einzukaufen, um dort eines der modernen Hochhäuser, egal ob Wohn- oder Büroblock, hinzubauen.
Auch in Zeiten des Umweltschutzes hatte es zuerst tatsächlich niemand bemerkt: Die Fabrik entledigte sich ihres Nebenproduktes nicht permanent, nur sporadisch, und das auch nicht in größeren Mengen. Nur so viel, wie auch ein kräftiger Regenguss mit sich brachte. Doch obwohl die Zuständigen später vor Gericht behaupteten – und sogar Gutachten vorlegten –, dass es sich dabei um beanstandungsloses Kühlwasser handelte, schien es die Natur besser zu wissen und der Boden weigerte sich, dieses Abwasser aufzunehmen.
So lief das Wasser den leichten Abhang hinab und sammelte sich an der tiefsten Stelle des Waldes, wo sich bereits – so ergaben es die Untersuchungen der Umweltbehörde – im ersten Jahr ein kleiner See bildete.
Umweltfreundlich wäre es allemal gewesen, die Kanalisation auszubauen, die sich seit Jahrhunderten unter den traditionsreichen Behausungen befand. Anstatt die Natur weiter zu belasten. Dafür hätten jedoch einige der uralten und – was noch mehr zählte – Touristen anlockenden Häuser Platz machen müssen, und das wollte keiner der hiesigen Politiker verantworten.
Also entledigte sich die Fabrik auch weiterhin sporadisch ihres Abwassers und der kleine Teich wuchs zu einem kartographisch erfassbaren See.
Das Wasser war kristallklar, was niemanden daran zweifeln ließ, dass es sich tatsächlich um reines, filtriertes und unbelastetes Wasser handelte, und die Anwohner begannen darin zu baden. Die traditionsreiche Schönheit des Stadtteils lockte schon genug Touristen und viele der ansässigen Reisbauern boten nun ihre Behausungen den an Kultur interessierten Fremden als Urlaubsunterkünfte an. Für den Urlaub am See.
Seinen ersten Namen verdankte der See den Jasmin-Reisfeldern, wobei das Wasser tatsächlich nach Jasmin zu duften schien. Viele der in der Fabrik produzierten Kosmetika wurden mit Jasmin-Extrakten angereichert, was den herrlichen und verlockenden Duft erklärte, auch wenn so mancher an der Unbedenklichkeit des Wassers zu zweifeln begann. Zu der Zeit witterte jedoch die Tourismusindustrie einen fetten Profit in dem Jasminduft und bewegte sogar die Umweltbehörde dazu, die Bäume inmitten des Sees zu fällen, um den Touristen einen Badesee bieten zu können.
Dass die ersten Bewohner ihre Behausungen räumten und das Weite suchten, fiel nicht weiter auf. Vor allem, weil die kleinen Grundstücke endlich zum Verkauf standen und Platz für Hotels, Büros und die ersten Wohnblöcke inklusive Einkaufsmöglichkeiten boten.
Das alles hatte es früher nicht gegeben. Vor ungefähr hundert Jahren noch war dieser Distrikt ein selbständiges Dorf voller Selbstversorger gewesen. Es waren keine Geschäfte nötig, und wenn, dann wurde getauscht. Ein Naturalienhandel. Schulen gab es keine, denn auf Bildung legte damals niemand einen besonderen Wert, und Altare beziehungsweise winzige Tempel hatte sich jeder Reisbauer in seinem eigenen Haus errichtet, woran die gesamte Familie für reiche Ernte betete.
Der Name des damaligen Dorfes geriet später in Vergessenheit, ebenso der vom Jasminduft abgeleitete Name des Sees. Wie das?
Nicht nur die Touristen fanden Gefallen an dem kristallklaren Wasser in einer fast unberührten Gegend mit sattgrünen Wiesen und Blumen, die an teure Parfümläden erinnerten. Auch die Frösche drängelten sich plötzlich am Ufer und beanspruchten jeden Tag einen größeren Teil des Sees für sich und ihren Nachwuchs.
Die Stadtverwaltung zückte daraufhin die chemische Keule und verwandelte unbeabsichtigt den klaren See in eine grüne Jauche, in der es vor Fröschen und Kröten nur so wimmelte. Neu gebildete Kommissionen nahmen sich des Problems an, was zur Schließung der Fabrik führte. Die Touristen blieben aus, die Anwohner verließen ihre Felder und Häuser, die Firmen siedelten ihre Büros um – der einst am dichtesten besiedelte Distrikt war nun beinahe unbewohnt.
Man stieg von der Chemie auf natürliche Feinde um, aber auch die mühsam angesiedelten Kraniche konnten den Fröschen nicht Paroli bieten. Nur Mutige wagten sich noch ohne Tauchanzug in das grüne Wasser. Lediglich der Jasminduft war geblieben, der sich scheinbar in dem dichten Schilf – in das sich die farbenprächtigen Blumensträucher am Rande des Sees mit der Zeit verwandelten – verfangen hatte.
Arm ist der siebte Distrikt dennoch nicht. Die immer noch intakten Häuser dienen als Kulisse für Filme mit historischer Thematik. Die leere und mittlerweile doch recht verfallene Fabrik ist in der ganzen Welt bekannt. Nicht nur für die bislang ungelösten Kriminalfälle, die sich darin abspielten. Auch wegen des preisgekrönten Thrillers, der hier erst vor drei Jahren gedreht wurde und vor allem deshalb für Aufsehen sorgte, weil der Hauptdarsteller nach Abschluss der Dreharbeiten spurlos verschwand und bis heute nicht gefunden wurde.
Der siebte Distrikt zählt heute statt der früheren achtzigtausend Bewohner nur mehr fünfzig Personen. Die meisten wohnen an der Grenze zu den anderen Distrikten. Nur eine einzige Person sorgt dafür, dass der See nicht in Vergessenheit gerät. Ihr Haus liegt am Hügel und bietet so den rar gewordenen Gästen einen wunderschönen Blick auf den traditionsreichsten, aber auch sagenumwobensten Teil von Fairport: den Crane Lake.Ein Hilferuf
Saki
Sieben Tage ließ ich mir Zeit.
Nein.
Sieben Tage lange fragte ich mich in jeder meiner wachen Minuten, was ich tun sollte.
Endlich fand ich einen Platz, an dem ich verschont blieb von all den flüsternden Blicken. Hatte mich dazu durchgerungen, meine vier Wände zu verlassen. Und endlich war ich das Hämmern an den Wänden los, wenn meine Schreie die Nachbarn aus dem Schlaf gerissen hatten.
Ich will hier nicht weg. Nicht weg aus meiner endlich gefundenen perfekten Welt.
Nur, wie konnte ich glauben, ich könnte diesen Visionen entfliehen? Und warum ließen sie so lange Zeit auf sich warten?
War die Welt in dieser Zeit etwa ohne Verbrechen geblieben?
Das kann ich nicht glauben.
Ist es vielleicht die Rache, weil ich nie etwas unternommen habe? Keiner dieser armen Seelen geholfen habe?
Ich stehe in der Tür zu meiner Terrasse und strecke mein Gesicht dem See entgegen. Aber auch das Säuseln des Windes, der sich in der unruhigen Wasseroberfläche verfängt, will mir keine Antwort geben.
„Telefonbuch“, richte ich mein Wort an den Computer. „Takamura. Ai Takamura.“
Keine Sekunde später ertönt das Läuten.