Inhalt:
Inspektor Jalak liebt seinen Job. Und er liebt Frauen. Eine Affäre kostet ihn schließlich seine Position und er landet hinter dem Schreibtisch. Ein Kunstraub beschert ihm unverhofft die Chance, seine kriminalistischen Fähigkeiten erneut unter Beweis zu stellen. Doch bald muss er einsehen, dass es in diesem Fall um mehr geht als nur um ein paar gestohlene Kunstwerke. Die Jagd nach den Dieben führt ihn quer durch Europa bis nach Spanien. Dort wird er plötzlich mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert. Sein bester Freund ist ihm mit einem Mal völlig fremd und die Diebe scheinen nur eines im Sinn zu haben: Sein Leben zu beschützen.
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Nebelkerze
Zoe Zander
Krimi-Roman
© 2018 Zoe Zander
Nebelkerze
Krimi-Roman
Alle Rechte vorbehalten
Cover & Covergestaltung: Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Postadresse:
Zoe Zander
Albertgasse 49/12a
1080 Wien
Email: zander.zoe@gmail.com
Autorenseite: www.zoe-zander.at
Inspektor Jalak liebt seinen Job. Und er liebt Frauen. Eine Affäre kostet ihn schließlich seine Position und er landet hinter dem Schreibtisch. Ein Kunstraub beschert ihm unverhofft die Chance, seine kriminalistischen Fähigkeiten erneut unter Beweis zu stellen. Doch bald muss er einsehen, dass es in diesem Fall um mehr geht, als nur um ein paar gestohlene Kunstwerke. Die Jagd nach den Dieben führt ihn quer durch Europa bis nach Spanien. Dort wird er plötzlich mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert. Sein bester Freund ist ihm mit einem Mal völlig fremd und die Diebe scheinen nur eines im Sinn zu haben: Sein Leben zu beschützen.Verlockende Falle
Über die Flüsse und
Dächer der Skyline
folge ich willig
dem Duft deiner Haut …
Ein jeder der Hinweise
und gefundene Spuren
führen mich zum Schleier
einer wild fremden Braut.
In zahllosen Rennen
balze ich um die Gunst
deiner endlosen Beine –
doch hole dich nie ein …
Statt dem Kuss als Trostpreis,
bekomm’ nur eine Botschaft –
geliefert als Schuss
in die Nacht hinein.
Auf der Jagd nach der Wahrheit
verirre ich mich in Lügen
und verliere dein Leben
beinahe an die Diebe.
Mir bleiben nur noch Bilder
als stumme Zeugen
meiner lauten Rufe
nach deiner Liebe …
© Zoe Zander1
Theater ist nicht mein Fall. Galerien oder Museen noch weniger. Dennoch stehe ich mir im Museumsquartier die Beine in den Bauch. Statt eines kühlen Biers halte ich ein Champagnerglas in der Hand und höre dem aufgesetzten Kichern meiner Begleiterin zu.
Wie bin ich da nur hineingeraten?
Mein Blick verfängt sich in meinem verzerrten Spiegelbild an einer polierten Stahlskulptur. Darin erkenne ich mich nicht wieder. Doch die deformierte Spiegelung ist daran am wenigsten schuld.
Noch vor einem Jahr jagte ich als Mitglied einer Sondereinheit mit einer geladenen Waffe international gesuchten Verbrechern hinterher. Heute freue ich mich über jeden vermissten Teenager, wegen dem ich meinen Schreibtisch verlassen kann, um mich nicht in eine Büropflanze zu verwandeln.
Ich habe keine Vorschriften missachtet. Na gut – ich war nicht wirklich ein Lämmchen, aber man hat mich nie bei einem Vergehen erwischt. Sogar als ich meinem Vorgesetzten die Freundin ausspannte, die übrigens jetzt hier neben mir steht und mit ihrer Bekannten um die Wette kichert, bedankte er sich mit einer Beförderung. Als ich damals der Einladung in sein Büro folgte, erwartete ich mindestens einen Schlag ins Gesicht. Er meinte jedoch, dass ich bei jeder anderen Frau garantiert ein paar Zähne eingebüßt hätte. Aber bei Hayden wollte er noch was drauflegen und schickte mich mit einem Sonderauftrag zu unseren Kollegen nach Paris.
Das war meine letzte berufliche Aktivität im Ausland. Eigentlich mein letzter Fall in der gewohnten Art überhaupt, denn nach meiner Rückkehr fand ich mich an einem Schreibtisch im ersten Wiener Bezirk wieder. Diese unerwartete und alles andere als erfreuliche Veränderung hatte ich einzig meiner neuen Liebe zu verdanken, die sich mittlerweile als wohl größte Klette herausstellte.
„Hayden“, flüstere ich der – trotz aller Macken – noch immer begehrenswerten Blondine ins Ohr.
„Nicht jetzt“, schiebt sie mich zuerst unsanft von sich, um mich nur eine Sekunde später wieder an sich zu ziehen, sich an meinem Oberarm festzukrallen und sich mir – wortwörtlich – um den Hals zu hängen. „Nikolas war früher bei der WEGA …“
„Cobra“, verbessere ich sie, aber sie winkt nur mit einer Hand ab.
„Ist beides sicher nicht ungefährlich“, kontert ihre Bekannte.
„Genau! Bin ich froh, dass diese Zeiten vorbei sind. Nicht auszudenken, welche Ängste ich ausstehen müsste, wüsste ich nicht, wo er gerade im Einsatz ist und wann er wiederkommt.“
Ich wundere mich. Dafür, dass sie diese Zeiten nie und meine Tätigkeit in der international wirkenden Sondereinheit nur bedingt miterlebt hat, scheint sie sehr gut im Bilde zu sein.
Nun legt sie ihren Kopf auf meine Schulter und seufzt so herzzerreißend, dass ich glatt die Waffe ziehen könnte, um sie gegen mich selbst zu richten. Leider ist mir das nicht mehr möglich, denn …
„Also habe ich meinen Papa gebeten, seine Beziehungen spielen zu lassen, damit sich Nikolas nicht mehr in Gefahr begeben muss, regelmäßige Dienste hat, viel mehr Zeit mit mir verbringen kann und vor allem nicht ständig mit Waffen hantiert …“
„Bäng!“, entfährt mir plötzlich.
Ein echter Schuss hätte nicht mehr Aufmerksamkeit erregen können.
Ich räuspere mich sofort.
„Entschuldige Liebes, die trockene Luft tut mir nicht gut.“
Hayden verzieht leidvoll ihr Gesicht.
Längst habe ich verstanden, was mein damaliger Chef meinte, als er sagte:
„Es ist schließlich nicht mein, sondern dein Leben …“
Ja, es ist mein Leben, das mir nicht mehr gehört. Denn Hayden verfügt über mich, wie es ihr beliebt. Dabei nutzen mir die harte Ausbildung und all die Trainings rein gar nichts, denn wenn sie einmal zur Furie mutiert, würde sich an ihr sogar die stärkste Anti-Terror-Einheit die Zähne ausbeißen.
So habe ich längst aufgegeben, mich zur Wehr zu setzen und ebenso Hayden darüber aufzuklären, dass Nikola nicht eine Kurzform von Nikolas, sondern mein voller Name ist und auch als ebensolcher in allen meinen Dokumenten geschrieben steht.
„Aber, Herr Khanyi …“, wendet Haydens Bekannte ein.
„Oh, wir sind noch nicht verheiratet“, jauchzt Hayden.
„Gott behüte!“, entwischt mir unkontrolliert der nächste Schuss.
„Nikolas! Wo bleiben deine Manieren? Willst du dich nicht vorstellen?“
Ich verkneife es mir, Hayden über die guten Sitten aufzuklären und strecke der mir immer noch Unbekannten meine Hand entgegen.
„Jalak. Nikola Jalak.“
„Jalak …“, wiederholt die Frau und runzelt dabei die Stirn. „Verzeihen Sie, aber Ihr Name kommt mir so bekannt vor.“
Plötzlich dreht sie sich um und klopft dem Mann hinter ihr auf die Schulter.
„David? Entschuldige David, aber war Herr Jalak nicht früher in der gleichen Einheit wie du?“
Der Mann dreht sich zu uns um, worauf meine gute Laune endgültig flöten geht.
„Grüße dich, Nikola!“, grinst mir mein ehemaliger Chef entgegen und wendet sich gleich meiner Freundin zu: „Du siehst – wie immer – fantastisch aus, Hayden.“
In meinem Inneren brodelt es mit einem Mal vor Wut, sodass ich glatt das feingeschliffene Glas in meiner Hand zerdrücken könnte.
„Wo bin ich hier gelandet?“, deute ich mit der Hand auf die versammelte Gesellschaft. „Beim Treffen der Ehemaligen?“
Beide Frauen schenken mir empörte Blicke, worauf mich David am Arm packt und zur Seite schiebt.
„Mensch, ich könnte dich …“, knurre ich ihn an.
„Du hast sie unbedingt haben wollen, schon vergessen?“
Ich greife mir ein volles Glas vom Tablett und verabschiede mich von dem Leeren. Die Catering-Angestellte lächelt mich freundlich an und setzt sogleich ihre Runde fort.
„Du hast recht, David. Wie hast du es all die Jahre ausgehalten?“
„Wie? Indem ich mich mit ihr so oft es nur ging auf Veranstaltungen wie diesen zeigte. Hayden liebt Aufmerksamkeit. Je mehr Leute, desto besser. Glaube mir, so was war für mich im Vergleich zu den einsamen Stunden mit Hayden ein wahres Vergnügen.“
David zupft an seiner straff gebundenen Krawatte.
Dieses Geständnis überrascht mich. Weil ich gerade den Mund voll habe, deute ich, begleitet von einem fragenden Blick, auf die – wie ich sie bezeichne – Protzgesellschaft.
„Ja. Diesen Abend hast du tatsächlich mir zu verdanken.“
„Hast du etwa Erbarmen und willst mich erlösen?“ Mein Blick tastet ihn ab, obwohl mir klar ist, dass er keine Waffe bei sich trägt.
„Nein. Den Mist hast du dir selbst zuzuschreiben. Aber ich musste dich unbedingt treffen …“
David sieht sich um, als würde er jemanden suchen.
„Dich offiziell in mein Büro einzuladen, hätte zu viel Aufsehen erregt.“
„Gibst du dich etwa mit dem gewöhnlichen Beamtenvolk nicht mehr ab? Das war doch früher kein Problem für dich.“
„Lass den Sarkasmus. Denke an die Erweiterung der Kurzparkzonen. Du würdest dich gut als Parkpickerlsheriff machen …“
„Wenn ich dich so höre, könnte ich glatt denken, dass ich den Drehsessel dir zu verdanken habe und nicht … ihr …“ Ich gerate ins Stocken, da mir in Davids Augen eine eigenartige Reflexion auffällt.
„Was ist los?“
David sieht sich erneut suchend um, was endgültig alle meine Sinne in Alarmbereitschaft versetzt.
„Jemand hat die Dienstakten gehackt.“
Ich antworte mit Schweigen.
„Kurz nach dem Raub am Bodensee.“
Ich nicke nur.
„Es betrifft die Akten aller Kollegen, die in diesem Fall ermitteln.“
„Hm.“ Ich senke meinen Blick zu Boden. Die Information berührt mich nicht sonderlich; abgesehen von der Eifersucht, die ich empfinde, da ich seit einem Jahr von solch einem Auftrag nur noch träumen darf.
„Und deine“, fügt er hinzu, worauf ich überrascht zu ihm aufsehe.
Im selben Augenblick fällt mir eine Frau von der Decke fast in die Arme. Ich erschrecke mich das erste Mal seit … seit ich mich entsinnen kann. Statt nach ihr zu greifen, um sie aufzufangen, weiche ich einen Schritt zurück. Da erschrecke ich mich ein weiteres Mal, dieses Mal über meine Reaktion, da ich so ein Handeln von mir nicht gewöhnt bin und früher auf keinen Fall so reagiert hätte.
Früher war ich auch noch das, was ich sein wollte und nicht das, was Hayden aus mir gemacht hat. Im letzten Augenblick bleibt die Frau wie eine Raupe an einer breiten Stoffbahn hängen.
In meinem Körper findet gerade ein Erdbeben statt und mein Herz schießt mir beinahe wie eine Rakete aus dem Brustkorb heraus.
Ich fühle mich zwanzig Jahre zurückversetzt, als ich hautnah einer Explosion beiwohnte.
Die geladenen Gäste fangen an zu klatschen, was mich und vor allem mein Gewissen ein wenig beruhigt. Ich wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, betrachte nur kurz die weiteren zwei Frauen, die ebenfalls von der Decke hängen und allesamt Klamotten tragen, die mich an einen Zirkus erinnern. Dann suche ich auch schon wieder Blickkontakt zu David.
„Wieso?“
Die Akrobatin baumelt weiterhin vor meiner Nase und versperrt mir die Sicht. Davids letzte Aussage hat meinen Bedarf an Kultur mit einem Schlag gedeckt. Jetzt würde ich die junge Frau am liebsten zur Seite schieben, um an meinen Vorgesetzten heranzukommen und ihn weiter auszufragen.
Als er schlussendlich meinen Blickkontakt erwidert, zuckt David nur mit den Schultern. Er führt sein Glas an die Lippen und schielt daran vorbei zu den Seiltänzerinnen hinüber. Sie sind bestimmt der angekündigte Höhepunkt dieses Abends.
Als die Frau die Stoffbahn wieder ein Stückchen hinaufklettert, wage ich es erneut und rufe ihm zu: „Wieso?“
Aber David hat nur noch Augen für die Drei. Wäre ich nicht so erpicht darauf, weitere Informationen zu bekommen, könnte ich bestimmt selbst den figurbetont gekleideten und bestimmt auch sehr talentierten jungen Künstlerinnen etwas abgewinnen. Aber dunkelhaarige Frauen waren noch nie mein Ding, also beharre ich auf meinem Recht auf weitere Informationen.
David ist in gewisser Hinsicht Hayden sehr ähnlich. Wenn er sich entscheidet, irgendetwas zu tun, oder wie in meinem Falle irgendetwas nicht zu tun, dann ist daran nichts zu rütteln. Nach weiteren zwei Aufforderungen, mich aufzuklären, gebe ich es auf, pflücke mir von dem Tablett der umherwandernden Catering-Angestellten ein frisches Glas und versuche mich von der einstudierten Performance ablenken zu lassen.
Der Vorstellung zu folgen wäre bestimmt erfrischend und womöglich sogar erregend, wenn mich im Hinterkopf nicht weiter die Frage beschäftigen würde, was mich mit dem Bodenseer Kunstraub in Verbindung bringt.
Egal wie ich mir den Kopf zermartere – mir fällt nichts ein, warum man sich für meine Akte interessieren könnte.
Ich habe noch nie etwas Unerlaubtes ausgefressen und schon gar nichts, was die Öffentlichkeit nicht erfahren durfte. Zudem fand meine Versetzung lange vor dem Raub statt. Seitdem friste ich das Dasein einer grauen Büromaus. Abgesehen von ein paar Telefonaten auf Kosten der Stadt habe ich mir auch in dieser Zeit nichts zuschulden kommen lassen.
Das nicht alltägliche Spektakel ermöglicht mir dann doch, mich kurzfristig der Realität zu entziehen. Das Betrachten der durchtrainierten Körper und vor allem der vollkommenen Körperbeherrschung führt bei mir schließlich dazu, dass ich nicht merke, wie sich Hayden an mich heranpirscht, um einen roten Kussmund an meiner Wange zu hinterlassen.
Ich schiebe sie mit dem Ellenbogen von mir weg und wische mir mit dem Handrücken die Spuren vom Gesicht. Die eingeübte Performance weckt Erinnerungen in mir …
„Du bist wieder dabei“, flüstert mir David unerwartet von der anderen Seite ins Ohr.
Scheinbar bin ich völlig aus der Form geraten, denn auch ihn bemerkte ich erst, als er mich angesprochen hatte.
„Was ist mit Hayden?“, presse ich vorsichtig durch die zusammengebissenen Zähne.
„Ich dachte, du willst sie loswerden.“
Ich drehe mich zu ihm um.
„Nach vorne schauen“, ermahnt er mich und ich komme mir plötzlich vor wie in einem antiquierten Krimifilm. „Beiß die Zähne zusammen und widersetze dich. Hätte es in unserer Beziehung nicht gekriselt, hättest du damals gar keine Chance gehabt.“
„Sich zu widersetzen gleicht bei Hayden einem Todeskommando.“
„Du hast schon andere aussichtslose Fälle gemeistert“, klopft mir David auf die Schulter und schließt sich dann dem allgemeinen Klatschen an, um die Artistinnen für ihre wirklich hervorragende Leistung zu loben.
„Bravo!“, lächle ich ebenfalls sehr begeistert und denke an Die verlockende Falle mit Sean Connery. Absichtlich an Sir Connery, denn ein Gedanke an die Kurven von Zeta-Jones würde meine unerwünschte Erregung zusätzlich steigern und das hätte bestimmt keinen günstigen Einfluss auf mein Projekt: mich Haydens Wünschen zu widersetzen.
„Finde heraus, wer es war.“
„Was jetzt? Der Hacker-Angriff, oder der Diebstahl?“
„Beides“, dreht sich David entgegen seiner eigenen Anweisung zu mir um.
„Du gehst also von einem Zusammenhang aus?“
„Finde es heraus.“
Er tritt aus dem Publikum hervor, geht auf eine der Artistinnen zu und reicht ihr die Hand. Mein Französisch ist trotz der einjährigen Pause noch lange nicht eingerostet, somit verstehe ich ohne Probleme: Er ist von ihrem Auftritt hin und weg.
Ob seine Frau es genauso sieht?
Ich sehe mich um und ertappe mich bei der Frage, ob sie tatsächlich verheiratet sind. In einem Jahr kann sich vieles verändern. Vor allem, wenn der Kontakt nicht mehr gepflegt wird.
Hayden hat mir mein Leben geraubt.
Vielleicht hat David wirklich geheiratet. Aber ich merke soeben, dass der, der in diesem Jahr die größten Veränderungen durchgemacht hat – ich selbst bin.
So viele Dinge sind mir während unserer Beziehung abhandengekommen. Der Überblick. Meine gewohnten Kontakte. Meine Kondition. Der Spaß an meiner Arbeit. Und sogar der Spaß am Sex.
Voller Neid blicke ich zurück zu David und erwische ihn dabei, wie er der schwarzhaarigen Artistin etwas zuflüstert. Sie hebt zwischendurch ihren Kopf und sieht über seine Schulter zu mir hinüber.
Der Typ will mich doch nicht verkuppeln?
Ich bin entsetzt. Womöglich auch nur deshalb, weil ich in ihrem Blick weder Interesse noch Abneigung erkennen kann. Sondern …
„Eigenartig“, denke ich mir.
Ein kalter Schauer kriecht mir den Rücken hinab und das nicht, weil mich Hayden an ebendiesem streichelt. Mir scheint, als würde mich die dunkelhaarige Artistin bedauern. Wenn nicht sogar um mich sorgen.
Anscheinend trage ich meinen Frust auf der Stirn geschrieben.
„Ich wusste, dass es dir gefallen wird“, säuselt mir Hayden ins Ohr und ich versuche mir die Gänsehaut nicht anmerken zu lassen. „Ich hab mir so ein Tuch besorgt.“
Sie schlägt ihre kräftig geschminkten Wimpern zusammen und deutet zu den Tüchern, die immer noch von der Decke hängen.
Es sind lange, golden schimmernde Bahnen aus Stoff, welche die drei Frauen nur mit reiner Muskelkraft hinauf- und hinunterkletterten, rutschten, rollten und sich in sie hineinwickelten.
„Jaaa“, stöhne ich und überlege kurz, mein Mich-Widersetzen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
„Wenn du brav bist, packe ich es noch heute aus.“
Wenn ich brav bin.
Am Anfang unserer Beziehung fand ich dieses Spiel noch amüsant. Es erregte mich sogar und ja, ich gebe zu, hin und wieder kroch ich zu Kreuze und beteuerte, wie brav ich doch sei, nur damit sie mich ranließ. Mittlerweile habe ich seltener Sex als zu Zeiten meiner verdeckten Ermittlungen und Einsätze, die sich unter Umständen mehrere Wochen am Stück fernab meines Wohnortes abspielten.
„Ich glaube, ich habe zu viel von dem Champagner getrunken. Hast du eine Schmerztablette?“
Ich schiebe ihre Hand von meinem Oberarm weg und fasse mir demonstrativ an die Schläfen.
„Ach Nikolas. Du hast mir gerade die Stimmung verdorben.“
„Echt?“, kann ich mir die Freude nicht verkneifen.
Sollte es etwa so leicht werden? Ich traue dem nicht.
Ich halte erneut Ausschau nach David und muss mir eingestehen, dass ich in Wirklichkeit nach der Schwarzhaarigen suche. Rein ermittlungstechnisch, versteht sich. Um ihrem eigenartigen Blick auf den Grund zu gehen.
David steht mittlerweile mit seiner Vielleicht-Frau auf einem kleinen Podium, da sie sich gerade eben vor allen Anwesenden als Veranstalterin outete.
David ist dank seiner Funktion als Landespolizeidirektor solche Auftritte gewöhnt. Sind sie doch Teil seiner Öffentlichkeitsarbeit und –präsenz. Ich hingegen hasse es. Veranstaltungen dieser Art ebenso, wie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
Ich schließe für einen Moment die Augen und schüttle sogar den Kopf, um das Bild der Schwarzhaarigen hinauszubefördern. Es gelingt mir nicht.
„Was ist mit dir los, Nikolas?“
In Haydens Gesicht entdecke ich ein paar Sorgenfalten. Mist, die macht mir das Widersetzen auch nicht gerade leicht.
„Entschuldige Liebes, wenn ich dir den Abend verdorben habe. Wahrscheinlich habe ich wirklich ein Glas zu viel erwischt … Ich muss hier unbedingt kurz raus …“, suche ich auch schon nach dem Ausgang. 2
„Uff“, lehne ich mich auf die Garagenseite der Zugangstür und atme erstmals tief durch. Tausende Dinge gehen mir durch den Kopf. Erinnerungen an meine früheren Einsätze und Fälle. Sie vermischen sich mit den Bildern meiner früheren Liebschaften und werden mit jeder verstrichenen Minute blasser, bis nur mehr das Bild der Schwarzhaarigen übrig bleibt.
„Fuck“, mache ich meiner Entrüstung Luft, denn diese Frau passt absolut nicht in mein Beuteschema. Auch deshalb entlockt mir das Bild in meinem Kopf eine Gesichtsmimik, als hätte ich eine Wasserleiche gefunden.
Ich selbst bin ein dunkler Typ und schmücke mich nur allzu gern mit hellhaarigen Frauen. Je blonder umso besser. Und da kümmert es mich herzlich wenig, ob es sich um echte Haarfarbe handelt oder nur Wasserstoff. Ebenso denke ich über die begehrte Oberweite. Hauptsache zwei Hände voll. Ob von Mutter Natur oder dem Chirurgen.
Ja – schmücken. Das wird der Grund sein, warum ich Hayden immer noch ertrage …
Ein paar Stufen tiefer hole ich das Zigarettenpäckchen aus der Brusttasche meines Jacketts heraus. Rauchen war noch nie mein Laster. Diese Schachtel trage ich schon einen guten Monat mit mir herum. Hayden hasst es, wenn ich nach Zigaretten stinke und ich denke, dass ich nur deshalb mit dem Rauchen angefangen habe, um sie zu ärgern.
Ich bringe mich lieber selber um, anstatt es ihr zu überlassen. Was für ein beschissenes Arrangement. Ohne den Glimmstängel angezündet zu haben, werfe ich ihn gleich wieder weg und mache einen Schritt aus dem Schatten ins Licht, um mich in der Tiefgarage umzusehen.
Die Gewohnheit eines Polizisten. Oder Instinkt. Vielleicht einfach nur Langeweile.
Sie fallen mir sofort ins Auge. Der schwarze Lieferwagen und die dunkel gekleidete Person mit einer Kappe auf dem Kopf. Sie schlägt gerade die Tür der Ladefläche zu und klopft mit der flachen Hand darauf. Im selben Moment dreht sich diese Person um und erblickt mich.
Es sind nur Sekunden. Vielleicht nur Hundertstel von Sekunden …
„Scheiße!“, laufe ich drauflos.
Die Person pfeift laut, schlägt ein weiteres Mal, nun mit der Faust, an die Tür und rennt ebenso los. Der Wagen setzt sich in Bewegung und ich stehe plötzlich vor der Entscheidung, die diese merkwürdige Gestalt bestimmt beabsichtigt hat:
Wohin nun?
Versuche ich jetzt dem Wagen den Weg abzuscheiden, um ihn daran zu hindern, die Garage zu verlassen, oder schnappe ich mir die dunkel gekleidete Person, um zu fragen, warum sie es plötzlich so eilig hat?
Ich spüre förmlich, wie mir das Adrenalin durch den Körper schießt. Es fühlt sich beinahe wie ein Orgasmus an.
Beides vermisse ich schon seit langem.
Ich springe über die Motorhauben der abgestellten Fahrzeuge mindestens ebenso gekonnt wie der Unbekannte. Und es macht mich nicht minder stolz, dass ich zu Fuß dem fremden Läufer auch in nichts nachstehe.
So oft habe ich den früheren Zeiten nachgejammert und nun kommt es mir vor, als wäre mein letzter Einsatz gerade erst gestern gewesen. Ich lasse die vielen Stufen der Garage hinter mir und laufe dem Fremden hinterher, hinaus auf die offene Straße.
Ein kurzer Blick über die Schulter reicht aus und ich entdecke den Lieferwagen, der es durch die Schranken ebenfalls auf die Straße schaffte und sich jetzt von uns wegbewegt.
Dich kriege ich! Ich rüste mich für eine Hetzjagd, bei denen ich bislang die Beute immer zu fassen bekam.
Der Abend zu solch später Stunde ist mitten in der Stadt, dank der vielen Lichter, um nichts dunkler als ein verregneter Tag. Trotz der schwarzen Maskerade kann ich den Läufer auf die kurze Distanz sehr gut im Blick behalten.
Ein Zaun ist für ihn wie für mich kein Hindernis. Die Sprinkler im städtischen Park sind zwar lästig, aber eine angenehme Erfrischung in der spätsommerlichen Hitze und die Mauer der Brücke ist nicht hoch genug, um uns aufzuhalten.
An dieser Stelle muss ich kurz erwähnen, dass ich mir gewisse akrobatische Fähigkeiten bereits vor meiner Zeit bei der Polizei angeeignet habe. In meiner frühen Jugend träumte ich von einer Karriere als Stuntman. Zugegeben – das Hochlaufen an steilen und oftmals spiegelglatten Oberflächen und das Springen aus großer Höhe war mir auch später regelmäßig zugutegekommen. Mich jedoch an einer ungefähr fünf Zentimeter dünnen Versorgungsleitung unter der Brücke über die gesamte Flussbreite entlang zu hangeln – das ist sogar für mich eine Herausforderung. Aber eine sehr willkommene.
Meine Karriere bei der Polizei kann man mit einer Aktienkurve vergleichen. Anfangs ging es steil nach oben. Dann wurde mir die Stadt zu klein und als es bei der Sondereinheit für mich persönlich keine weiteren Aufstiegschancen mehr gab, drückte ich wieder die Schulbank. Ein paar Jahre später versuchte ich dann, selbst unserer Forensik etwas mehr Action zukommen zu lassen. Nicht immer zur Freude meiner Vorgesetzten. Wohl auch deshalb wurde ich nach und nach immer öfter zu internationalen Fällen hinzugezogen, um zur Abwechslung einmal jemand anderem auf die Nerven zu gehen. Vor fünf Jahren erlebte ich in Spanien den Höhepunkt nicht nur meiner Karriere. Auch meines Wissens und Könnens und, zugegeben, auch meiner Nerven. Die wesentlich ruhigeren Jahre danach nutzte ich hauptsächlich dazu, um mich von diesem einen Fall zu erholen und mich wieder mal neu zu orientieren. Ein kleiner Fall führte mich dann eines Tages zu David, der nach dem spanischen Fall eine neue Aufgabe angenommen hatte. Ihm imponierte mein Trieb, mich stets weiterzuentwickeln und persönlich weiterzukommen. Er gab mir jedoch unmissverständlich zu verstehen, dass der Posten des Direktors bereits besetzt war.
Wir sind zwar nie die dicksten Freunde geworden, schätzen uns aber gegenseitig sehr.
Rückblickend muss ich zugeben – mit den amerikanischen Fernsehserien hatte mein beruflicher Alltag trotz allem wenig gemeinsam. Aber hin und wieder ergaben sich Fälle, die mir auch bei mit größter Sorgfalt getroffenen Vorsichtsmaßnahmen genügend Adrenalin durch den Körper pumpten. Und gelegentlich auch das Herz in die Hose rutschen ließen.
Und dann traf ich Hayden. Das war für mich so was wie die Weltwirtschaftskrise für den Börsenmarkt.
Jetzt, in diesen Augenblicken, erlebe ich gerade meine persönliche Konjunktur.
Meine Freundin glaubt, mein regelmäßiges Joggen und Krafttraining hätten nur den Zweck, mich für sie in Form zu halten. Doch tief in mir drin hege ich immer noch die Hoffnung, eines Tages in meine Traumposition zurückkehren zu dürfen.
Ich laufe zur Höchstform auf, hetze dem Fremden wie einer Leistungsprämie nach und erwische mich sogar dabei, vor Freude zu grinsen. Kurz gesagt – ich bin erregt.
Am anderen Ufer angekommen lasse ich das Rohr los, lande trotz der kurzfristigen Anstrengung relativ sanft auf dem Schotter und laufe dem Flüchtigen sofort weiter nach. Ich sprinte die bewachsene Böschung hinauf, springe über das Gelände, hetze über die acht Spuren der Städteautobahn auf die andere Seite und sehe dem Fremden zu, wie er auf dem Beifahrersitz des schwarzen Lieferwagens Platz nimmt und mir davonfährt. Gerade so kann ich noch sein Gesicht sehen, als er sich nach mir umdreht.
Er lacht mich trotz meines Reinfalls nicht aus.
Das wundert mich sehr.
Der Blick sagt mir etwas anderes. Was, das kann ich in diesem Moment nicht einmal ansatzweise erkennen. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass sich in seinem Blick eine Botschaft versteckt.
Verärgert trete ich gegen einen Stein, der am Pannenstreifen liegt, und lehne mich mit beiden Händen an die Planke. Mein Herz pulsiert, in meinen Schläfen dröhnt es, in Gedanken renne ich dem Fremden immer noch nach.
Dann wische ich mir mit den Händen den Schweiß aus dem Gesicht, streife mir mit den Fingern durch das dichte Haar, richte mich schließlich wieder auf, rücke mein Jackett zurecht und erlaube mir tatsächlich, es amüsant zu finden.
Ich drehe mich um und setze mich auf die schmale Planke. Meine Augen folgen der Strecke zurück, während ich in meiner Brusttasche nach dem Telefon suche.
Im selben Augenblick, als ich die Nummer von David wählen will, läutet es bei mir.
„Welch ein Zufall“, puste ich in das Telefon, noch etwas außer Atem.
„Wo zum Teufel steckst du?“, schnauzt er mich an.
„Du wirst es nicht glauben“, lache ich laut und will mich gerade mit meiner immer noch sehr gut funktionierenden Kondition brüsten, als …
„Man hat uns hier direkt unter der Nase ein Gemälde gestohlen!“
Neben meiner Kinnlade rutscht mir auch das Telefon beinahe aus den Fingern.
„Red keinen Scheiß“, reime ich mir sofort zusammen, wer mir da durch die Lappen gegangen ist und finde es mit einem Mal gar nicht mehr so lustig.
„Was treibst du, Nik? Treibst du es etwa gerade?“
In Davids Stimme kann ich eindeutig Entsetzen heraushören.
„Im Gegenteil. Aber so wie es aussieht, ist mir vorhin der Dieb davongerauscht.“
„Wie …?“
„Ein schwarzer Mercedes-Lieferwagen. Ich hab sie in der Tiefgarage erwischt.“
„Bist du etwa dem Wagen nachgelaufen? Du schnaufst, ich kann dich kaum verstehen.“
„Entschuldige, aber du hast es schließlich zugelassen, dass man mich aus dem Verkehr zog. Eine Kondition erhält sich nicht von alleine.“
Ich klemme mir das Handy zwischen Ohr und Schulter, hole aus der Brusttasche das Ticket aus der Garage und einen Stift. Ich notiere mir das Kennzeichen, stecke alles wieder zurück in mein Jackett und nehme das Telefon erneut in die Hand.
„Ich bin einem von ihnen nachgelaufen. Bis über die Donau. Leider haben sie mich vorgeführt, wie einen blutigen Anfänger“, gebe ich verärgert zu. „Ich hätte ihn schon fast gehabt, da tauchte der Wagen wieder auf und …“
„… schnappte ihn dir direkt vor der Nase weg.“
„Jepp“, presse ich die Lippen zusammen.
„Mist.“
„Du sagst es.“
„Wieso hast mich nicht gleich verständigt …?“
„Sorry, aber eine solche Technik gehört seit einem Jahr nicht mehr zu meiner Ausrüstung …“
„Das wird sich ab morgen ändern.“
Ich sehe auf die Uhr.
„Es ist morgen.“
„Mach das Übliche. Bericht, Datenbank … und melde dich um acht in der Zentrale. Alles andere werde ich bis dahin in die Wege leiten.“
Ich lege ohne ein Abschiedswort auf. Dies war nicht mehr nur ein Gespräch unter Freunden, sondern eine Dienstanweisung. Bei so was legten wir schon früher keinen Wert auf Nettigkeiten.
„Das klingt gut. Das klingt echt gut“, grinse ich stumm vor mich hin und danke im Geiste den Dieben für den Gefallen, den sie mir mit ihrer Tat getan haben. 3
Sechs Stunden später kann ich mich kaum bewegen. Meine Beine fühlen sich an wie in Beton gegossen. Meine Arme haben über Nacht ebenfalls an Gewicht zugenommen, denn ich bekomme sie nicht höher als bis zu den Schultern. Als mir in der Zentrale mein ehemaliger Partner über den Weg läuft und mir auf den Rücken klopft, breche ich fast zusammen.
„Ich hab gehört, du warst letzte Nacht auf der Jagd“, grinst er mich spöttisch an. Sofort taucht das Bild des Fremden vor mir auf. In den dunklen Augen konnte ich kein bisschen Spott entdecken.
Das war es also!
Respekt. Wahrscheinlich nicht Respekt vor meiner Person, aber auf jeden Fall Respekt vor meiner Leistung.
„Ein Jahr Abstinenz hinterlässt halt Spuren“, verhöhnt er mich weiter.
Ich bin zu geschlaucht, um darauf angemessen zu reagieren, und schleppe mich den Gang vorwärts. Im Büro am Korridorende wartet man schon sehnsüchtig auf meinen Bericht.4
Die Spurensicherung kann keine brauchbaren Ergebnisse liefern. Aus dem Meer an Fingerabdrücken, das sich am Tatort finden ließ, hat man noch keine ausselektieren können, die man eindeutig den Tätern zuordnen könnte. Der Läufer trug zwar keine Handschuhe, aber es hat tatsächlich den Anschein, als wäre uns noch jemand nachgelaufen und hätte alles abgewischt, was wir beide berührt hatten. Ich bin mit ein paar Leuten von der Spurensicherung den gesamten Fluchtweg nochmals abgegangen und konnte neben keinem einzigen Fingerabdruck – weder meinem, noch einem fremden – auch keinen einzigen Schuhabdruck in der weichen Erde finden.
Das Autokennzeichen war gefälscht, der Lieferwagen seitdem nirgendwo gesichtet und auch von niemandem als gestohlen gemeldet worden. In der Garage stand er zudem im toten Winkel der Überwachungskamera. Die Aufnahmen von der Einfahrt zeigen ihn zwar bei der Ankunft und auch beim Hinausfahren, jedoch hat nicht einmal die Bildbearbeitung brauchbares Material liefern können, um den Fahrer zur Fahndung rauszugeben.
So gründlich vorbereiteten Verbrechern bin ich in meiner ganzen Laufbahn als Polizist noch nicht begegnet.
Auch die Befragung der Gäste lieferte uns bislang keine nützlichen Informationen und die Auswertung der Videoaufnahmen – da bin ich noch dabei.
Das lasse ich nicht auf mir sitzen. Ein jeder hat schließlich seine Achillesferse.5
In der besagten Nacht, oder eher in den frühen Morgenstunden, telefonierte ich nochmals mit David und anschließend mit einem Kollegen, der noch vor Ort die Ermittlungen aufnahm. Ich schlug ihm vor, von jedem Gast eine Ganzkörperaufnahme machen zu lassen.
Diese Bilder sehe ich mir nun seit Tagen an, vergleiche sie mit den Videoaufnahmen der Presse und der Überwachungskameras und suche nach Personen, die während der Darbietung der Akrobatinnen noch dabei waren, auf den Bildern meines Kollegen jedoch nicht mehr aufzufinden sind. Es sind einige, die sich frühzeitig verabschiedet haben. Die Kollegen fahren sie ab, um sie zu befragen und auch gleich ihre Aussagen zu überprüfen.
„Alle Alibis bestätigt“, seufze ich und lehne mich kurz zurück. Um mir eine kurze Pause zu gönnen und meinen Kopf durchzulüften, sehe ich mir den Auftritt der Künstlerinnen an. Konkret – die Szene, in der die eine Künstlerin wie eine Spinne am Faden von der Decke zu mir herunterrutscht. Ich sehe dabei so beschissen aus, dass ich mich selbst zum Lachen finde.
Einige Minuten später stoppe ich die Wiedergabe. Genau in dem Augenblick, in dem sich David zu ihr neigt, ihr etwas ins Ohr flüstert und sie über seine Schulter zu mir hinüberschaut. Diese Aufnahme zeigt den Vorgang aus der seitlichen Perspektive. Dabei kann ich genau erkennen, wie ihr David auf die Brust schielt. Doch das finde ich weniger interessant, als meine Erinnerung an ihre Augen. An den Blick, den sie mir dabei zuwarf.
Ihre Augen sind bemerkenswert dunkel. Fast schon schwarz. Ich selbst habe Augen wie eine sternenlose Nacht und weide mich grundsätzlich nur im klaren Blau. Bestimmt geistert mir auch deshalb ihr Blick so im Kopf herum. Weil er so anders ist als das, was ich gewohnt bin.
Ich erinnere mich an keinen sichtbaren Lidstrich. Vielleicht nur etwas Wimperntusche. Kein aufwendiges Make-up, wenn überhaupt eines. Na ja – davon verstehe ich wenig. Jedenfalls wirkte sie auf mich sehr natürlich. Und ob sie mein Typ ist oder nicht … Ich muss zugeben, dass sie auf den Aufnahmen ebenfalls aussieht wie aus einem Modemagazin ausgeschnitten.
„Heißer Feger“, grunzt mir mein Kollege mit vollem Mund über die Schulter. Ich sehe zur Seite und klopfe mir mit der Hand die Brösel vom Hemd.
„Kannst du nicht woanders herumsauen?“
„Was? Störe ich dich etwa bei einer privaten Vorstellung?“
Er holt sich einen Stuhl und setzt sich neben mich.
„Kann ich einen Abzug von ihrer Großaufnahme haben?“, zwinkert er mich lüstern an.
Da begreife ich erst wirklich, warum mir ihr Blick keine Ruhe gibt.
„Ach du …“, schnappe ich mir mein Telefon, springe auf und laufe aus dem Raum.6
„Ich bin ja so vom Cirque du Soleil fasziniert und gönne mir seit Jahren ihre Vorstellungen, die sie regelmäßig in Wien veranstalten. Vor einem halben Jahr habe ich bei solch einer Gelegenheit David kennengelernt“, schwärmt die Freundin des Polizeidirektors.
Für mich die erste brauchbare Information. Nicht unbedingt für diesen Fall, aber nun weiß ich wenigstens, dass mein Chef noch nicht verheiratet ist. Soweit ich weiß, ließ er noch nie etwas anbrennen. Aber binnen so kurzer Zeit zum Traualtar – das traute ich ihm dann doch nicht zu.
„Aber wo diese Künstlerinnen herkommen und wie Sie sie kontaktieren können, das kann ich Ihnen nicht sagen. Da müssen Sie sich an unser Eventmanagement wenden. Ich lasse Sie umgehend von meiner Assistentin zurückrufen.“
Das Telefon verstummt plötzlich.
Die legt tatsächlich auf! Ich bin entsetzt. Nein, sogar richtig erbost. Natürlich bin ich in meiner beruflichen Laufbahn zahlreichen Individuen begegnet, die glaubten, die ganze Welt würde sich nach ihnen richten und das sogar bei Mordfallermittlungen. Aber von einer Museumsleiterin hätte ich doch weit mehr Kooperation erwartet. Vielleicht, weil sie die Freundin eines Polizisten ist. Womöglich auch, weil sie sich wünschen sollte, das gestohlene Bilder rasch und unbeschädigt zurückzubekommen. Es sei denn …7
„Ich nehme an, die Ausstellung war versichert.“
„Selbstverständlich“, antwortet die Assistentin.
„Wurde die Versicherung bereits informiert?“
„Umgehend.“
„Und?“
„Was, und?“
„Wie hat die Versicherung reagiert? Wurde die Summe schon überwiesen? Oder wenigstens avisiert?“
„Hören Sie“, faucht mich die Frau unerwartet unfreundlich an. „Frau Kalim steht in engem Kontakt mit dem Besitzer des gestohlenen Gemäldes. Bei allen ausgestellten Exponaten handelt es sich lediglich um Leihgaben. Dieser Vorfall ist uns mehr als nur unangenehm und peinlich. Die Ausstellung am Bodensee war der Auftakt. Der gestrige Abend der zweite Teil einer ganzen Reihe von Veranstaltungen, die wie eine Tour in mehreren Städten der Europäischen Union stattfinden sollen. Das ganze Projekt steht auf der Kippe. Was glauben Sie, wie viel Geld das kostet und auch noch kosten wird? Abgesehen von dem Ruf unserer Organisation …“
Nun gut. Die Idee, dass die Museumsleitung selbst etwas mit dem Diebstahl zu tun haben könnte, ihn in Auftrag gegeben haben könnte, setze ich erstmal auf die Warteliste.
Das Beenden des Gespräches bleibt mir erspart, denn die aufgebrachte Assistentin legt nach diesem Monolog voller Empörung ebenfalls auf. Ich schnappe mir den Zettel mit der Adresse des Veranstaltungsunternehmens und beschließe spontan, mir die Beine zu vertreten.
Hayden ist sauer, weil ich sie in der Nacht im Museum alleine zurückließ. Sie über die Pflichten eines Polizisten aufzuklären machte noch nie viel Sinn, also habe ich es gleich gelassen.
Sie verbannte mich auf die Wohnzimmercouch. Diese mag vielleicht gerade wegen ihres Designs sehr modern sein, aber sie entspricht nicht annähernd meiner Körpergröße und so verbringe ich seitdem die Nächte in der Fötusstellung. Auch deshalb will ich raus aus dem Büro, um meinem Körper wieder mal Raum zu bieten. Nicht dass zum Schluss meine aufrechte Haltung einen dauerhaften Schaden davonträgt.
Nebelkerze
Zoe Zander
Krimi-Roman
© 2018 Zoe Zander
Nebelkerze
Krimi-Roman
Alle Rechte vorbehalten
Cover & Covergestaltung: Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Postadresse:
Zoe Zander
Albertgasse 49/12a
1080 Wien
Email: zander.zoe@gmail.com
Autorenseite: www.zoe-zander.at
Das Buch
Inspektor Jalak liebt seinen Job. Und er liebt Frauen. Eine Affäre kostet ihn schließlich seine Position und er landet hinter dem Schreibtisch. Ein Kunstraub beschert ihm unverhofft die Chance, seine kriminalistischen Fähigkeiten erneut unter Beweis zu stellen. Doch bald muss er einsehen, dass es in diesem Fall um mehr geht, als nur um ein paar gestohlene Kunstwerke. Die Jagd nach den Dieben führt ihn quer durch Europa bis nach Spanien. Dort wird er plötzlich mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert. Sein bester Freund ist ihm mit einem Mal völlig fremd und die Diebe scheinen nur eines im Sinn zu haben: Sein Leben zu beschützen.Verlockende Falle
Über die Flüsse und
Dächer der Skyline
folge ich willig
dem Duft deiner Haut …
Ein jeder der Hinweise
und gefundene Spuren
führen mich zum Schleier
einer wild fremden Braut.
In zahllosen Rennen
balze ich um die Gunst
deiner endlosen Beine –
doch hole dich nie ein …
Statt dem Kuss als Trostpreis,
bekomm’ nur eine Botschaft –
geliefert als Schuss
in die Nacht hinein.
Auf der Jagd nach der Wahrheit
verirre ich mich in Lügen
und verliere dein Leben
beinahe an die Diebe.
Mir bleiben nur noch Bilder
als stumme Zeugen
meiner lauten Rufe
nach deiner Liebe …
© Zoe Zander1
Theater ist nicht mein Fall. Galerien oder Museen noch weniger. Dennoch stehe ich mir im Museumsquartier die Beine in den Bauch. Statt eines kühlen Biers halte ich ein Champagnerglas in der Hand und höre dem aufgesetzten Kichern meiner Begleiterin zu.
Wie bin ich da nur hineingeraten?
Mein Blick verfängt sich in meinem verzerrten Spiegelbild an einer polierten Stahlskulptur. Darin erkenne ich mich nicht wieder. Doch die deformierte Spiegelung ist daran am wenigsten schuld.
Noch vor einem Jahr jagte ich als Mitglied einer Sondereinheit mit einer geladenen Waffe international gesuchten Verbrechern hinterher. Heute freue ich mich über jeden vermissten Teenager, wegen dem ich meinen Schreibtisch verlassen kann, um mich nicht in eine Büropflanze zu verwandeln.
Ich habe keine Vorschriften missachtet. Na gut – ich war nicht wirklich ein Lämmchen, aber man hat mich nie bei einem Vergehen erwischt. Sogar als ich meinem Vorgesetzten die Freundin ausspannte, die übrigens jetzt hier neben mir steht und mit ihrer Bekannten um die Wette kichert, bedankte er sich mit einer Beförderung. Als ich damals der Einladung in sein Büro folgte, erwartete ich mindestens einen Schlag ins Gesicht. Er meinte jedoch, dass ich bei jeder anderen Frau garantiert ein paar Zähne eingebüßt hätte. Aber bei Hayden wollte er noch was drauflegen und schickte mich mit einem Sonderauftrag zu unseren Kollegen nach Paris.
Das war meine letzte berufliche Aktivität im Ausland. Eigentlich mein letzter Fall in der gewohnten Art überhaupt, denn nach meiner Rückkehr fand ich mich an einem Schreibtisch im ersten Wiener Bezirk wieder. Diese unerwartete und alles andere als erfreuliche Veränderung hatte ich einzig meiner neuen Liebe zu verdanken, die sich mittlerweile als wohl größte Klette herausstellte.
„Hayden“, flüstere ich der – trotz aller Macken – noch immer begehrenswerten Blondine ins Ohr.
„Nicht jetzt“, schiebt sie mich zuerst unsanft von sich, um mich nur eine Sekunde später wieder an sich zu ziehen, sich an meinem Oberarm festzukrallen und sich mir – wortwörtlich – um den Hals zu hängen. „Nikolas war früher bei der WEGA …“
„Cobra“, verbessere ich sie, aber sie winkt nur mit einer Hand ab.
„Ist beides sicher nicht ungefährlich“, kontert ihre Bekannte.
„Genau! Bin ich froh, dass diese Zeiten vorbei sind. Nicht auszudenken, welche Ängste ich ausstehen müsste, wüsste ich nicht, wo er gerade im Einsatz ist und wann er wiederkommt.“
Ich wundere mich. Dafür, dass sie diese Zeiten nie und meine Tätigkeit in der international wirkenden Sondereinheit nur bedingt miterlebt hat, scheint sie sehr gut im Bilde zu sein.
Nun legt sie ihren Kopf auf meine Schulter und seufzt so herzzerreißend, dass ich glatt die Waffe ziehen könnte, um sie gegen mich selbst zu richten. Leider ist mir das nicht mehr möglich, denn …
„Also habe ich meinen Papa gebeten, seine Beziehungen spielen zu lassen, damit sich Nikolas nicht mehr in Gefahr begeben muss, regelmäßige Dienste hat, viel mehr Zeit mit mir verbringen kann und vor allem nicht ständig mit Waffen hantiert …“
„Bäng!“, entfährt mir plötzlich.
Ein echter Schuss hätte nicht mehr Aufmerksamkeit erregen können.
Ich räuspere mich sofort.
„Entschuldige Liebes, die trockene Luft tut mir nicht gut.“
Hayden verzieht leidvoll ihr Gesicht.
Längst habe ich verstanden, was mein damaliger Chef meinte, als er sagte:
„Es ist schließlich nicht mein, sondern dein Leben …“
Ja, es ist mein Leben, das mir nicht mehr gehört. Denn Hayden verfügt über mich, wie es ihr beliebt. Dabei nutzen mir die harte Ausbildung und all die Trainings rein gar nichts, denn wenn sie einmal zur Furie mutiert, würde sich an ihr sogar die stärkste Anti-Terror-Einheit die Zähne ausbeißen.
So habe ich längst aufgegeben, mich zur Wehr zu setzen und ebenso Hayden darüber aufzuklären, dass Nikola nicht eine Kurzform von Nikolas, sondern mein voller Name ist und auch als ebensolcher in allen meinen Dokumenten geschrieben steht.
„Aber, Herr Khanyi …“, wendet Haydens Bekannte ein.
„Oh, wir sind noch nicht verheiratet“, jauchzt Hayden.
„Gott behüte!“, entwischt mir unkontrolliert der nächste Schuss.
„Nikolas! Wo bleiben deine Manieren? Willst du dich nicht vorstellen?“
Ich verkneife es mir, Hayden über die guten Sitten aufzuklären und strecke der mir immer noch Unbekannten meine Hand entgegen.
„Jalak. Nikola Jalak.“
„Jalak …“, wiederholt die Frau und runzelt dabei die Stirn. „Verzeihen Sie, aber Ihr Name kommt mir so bekannt vor.“
Plötzlich dreht sie sich um und klopft dem Mann hinter ihr auf die Schulter.
„David? Entschuldige David, aber war Herr Jalak nicht früher in der gleichen Einheit wie du?“
Der Mann dreht sich zu uns um, worauf meine gute Laune endgültig flöten geht.
„Grüße dich, Nikola!“, grinst mir mein ehemaliger Chef entgegen und wendet sich gleich meiner Freundin zu: „Du siehst – wie immer – fantastisch aus, Hayden.“
In meinem Inneren brodelt es mit einem Mal vor Wut, sodass ich glatt das feingeschliffene Glas in meiner Hand zerdrücken könnte.
„Wo bin ich hier gelandet?“, deute ich mit der Hand auf die versammelte Gesellschaft. „Beim Treffen der Ehemaligen?“
Beide Frauen schenken mir empörte Blicke, worauf mich David am Arm packt und zur Seite schiebt.
„Mensch, ich könnte dich …“, knurre ich ihn an.
„Du hast sie unbedingt haben wollen, schon vergessen?“
Ich greife mir ein volles Glas vom Tablett und verabschiede mich von dem Leeren. Die Catering-Angestellte lächelt mich freundlich an und setzt sogleich ihre Runde fort.
„Du hast recht, David. Wie hast du es all die Jahre ausgehalten?“
„Wie? Indem ich mich mit ihr so oft es nur ging auf Veranstaltungen wie diesen zeigte. Hayden liebt Aufmerksamkeit. Je mehr Leute, desto besser. Glaube mir, so was war für mich im Vergleich zu den einsamen Stunden mit Hayden ein wahres Vergnügen.“
David zupft an seiner straff gebundenen Krawatte.
Dieses Geständnis überrascht mich. Weil ich gerade den Mund voll habe, deute ich, begleitet von einem fragenden Blick, auf die – wie ich sie bezeichne – Protzgesellschaft.
„Ja. Diesen Abend hast du tatsächlich mir zu verdanken.“
„Hast du etwa Erbarmen und willst mich erlösen?“ Mein Blick tastet ihn ab, obwohl mir klar ist, dass er keine Waffe bei sich trägt.
„Nein. Den Mist hast du dir selbst zuzuschreiben. Aber ich musste dich unbedingt treffen …“
David sieht sich um, als würde er jemanden suchen.
„Dich offiziell in mein Büro einzuladen, hätte zu viel Aufsehen erregt.“
„Gibst du dich etwa mit dem gewöhnlichen Beamtenvolk nicht mehr ab? Das war doch früher kein Problem für dich.“
„Lass den Sarkasmus. Denke an die Erweiterung der Kurzparkzonen. Du würdest dich gut als Parkpickerlsheriff machen …“
„Wenn ich dich so höre, könnte ich glatt denken, dass ich den Drehsessel dir zu verdanken habe und nicht … ihr …“ Ich gerate ins Stocken, da mir in Davids Augen eine eigenartige Reflexion auffällt.
„Was ist los?“
David sieht sich erneut suchend um, was endgültig alle meine Sinne in Alarmbereitschaft versetzt.
„Jemand hat die Dienstakten gehackt.“
Ich antworte mit Schweigen.
„Kurz nach dem Raub am Bodensee.“
Ich nicke nur.
„Es betrifft die Akten aller Kollegen, die in diesem Fall ermitteln.“
„Hm.“ Ich senke meinen Blick zu Boden. Die Information berührt mich nicht sonderlich; abgesehen von der Eifersucht, die ich empfinde, da ich seit einem Jahr von solch einem Auftrag nur noch träumen darf.
„Und deine“, fügt er hinzu, worauf ich überrascht zu ihm aufsehe.
Im selben Augenblick fällt mir eine Frau von der Decke fast in die Arme. Ich erschrecke mich das erste Mal seit … seit ich mich entsinnen kann. Statt nach ihr zu greifen, um sie aufzufangen, weiche ich einen Schritt zurück. Da erschrecke ich mich ein weiteres Mal, dieses Mal über meine Reaktion, da ich so ein Handeln von mir nicht gewöhnt bin und früher auf keinen Fall so reagiert hätte.
Früher war ich auch noch das, was ich sein wollte und nicht das, was Hayden aus mir gemacht hat. Im letzten Augenblick bleibt die Frau wie eine Raupe an einer breiten Stoffbahn hängen.
In meinem Körper findet gerade ein Erdbeben statt und mein Herz schießt mir beinahe wie eine Rakete aus dem Brustkorb heraus.
Ich fühle mich zwanzig Jahre zurückversetzt, als ich hautnah einer Explosion beiwohnte.
Die geladenen Gäste fangen an zu klatschen, was mich und vor allem mein Gewissen ein wenig beruhigt. Ich wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, betrachte nur kurz die weiteren zwei Frauen, die ebenfalls von der Decke hängen und allesamt Klamotten tragen, die mich an einen Zirkus erinnern. Dann suche ich auch schon wieder Blickkontakt zu David.
„Wieso?“
Die Akrobatin baumelt weiterhin vor meiner Nase und versperrt mir die Sicht. Davids letzte Aussage hat meinen Bedarf an Kultur mit einem Schlag gedeckt. Jetzt würde ich die junge Frau am liebsten zur Seite schieben, um an meinen Vorgesetzten heranzukommen und ihn weiter auszufragen.
Als er schlussendlich meinen Blickkontakt erwidert, zuckt David nur mit den Schultern. Er führt sein Glas an die Lippen und schielt daran vorbei zu den Seiltänzerinnen hinüber. Sie sind bestimmt der angekündigte Höhepunkt dieses Abends.
Als die Frau die Stoffbahn wieder ein Stückchen hinaufklettert, wage ich es erneut und rufe ihm zu: „Wieso?“
Aber David hat nur noch Augen für die Drei. Wäre ich nicht so erpicht darauf, weitere Informationen zu bekommen, könnte ich bestimmt selbst den figurbetont gekleideten und bestimmt auch sehr talentierten jungen Künstlerinnen etwas abgewinnen. Aber dunkelhaarige Frauen waren noch nie mein Ding, also beharre ich auf meinem Recht auf weitere Informationen.
David ist in gewisser Hinsicht Hayden sehr ähnlich. Wenn er sich entscheidet, irgendetwas zu tun, oder wie in meinem Falle irgendetwas nicht zu tun, dann ist daran nichts zu rütteln. Nach weiteren zwei Aufforderungen, mich aufzuklären, gebe ich es auf, pflücke mir von dem Tablett der umherwandernden Catering-Angestellten ein frisches Glas und versuche mich von der einstudierten Performance ablenken zu lassen.
Der Vorstellung zu folgen wäre bestimmt erfrischend und womöglich sogar erregend, wenn mich im Hinterkopf nicht weiter die Frage beschäftigen würde, was mich mit dem Bodenseer Kunstraub in Verbindung bringt.
Egal wie ich mir den Kopf zermartere – mir fällt nichts ein, warum man sich für meine Akte interessieren könnte.
Ich habe noch nie etwas Unerlaubtes ausgefressen und schon gar nichts, was die Öffentlichkeit nicht erfahren durfte. Zudem fand meine Versetzung lange vor dem Raub statt. Seitdem friste ich das Dasein einer grauen Büromaus. Abgesehen von ein paar Telefonaten auf Kosten der Stadt habe ich mir auch in dieser Zeit nichts zuschulden kommen lassen.
Das nicht alltägliche Spektakel ermöglicht mir dann doch, mich kurzfristig der Realität zu entziehen. Das Betrachten der durchtrainierten Körper und vor allem der vollkommenen Körperbeherrschung führt bei mir schließlich dazu, dass ich nicht merke, wie sich Hayden an mich heranpirscht, um einen roten Kussmund an meiner Wange zu hinterlassen.
Ich schiebe sie mit dem Ellenbogen von mir weg und wische mir mit dem Handrücken die Spuren vom Gesicht. Die eingeübte Performance weckt Erinnerungen in mir …
„Du bist wieder dabei“, flüstert mir David unerwartet von der anderen Seite ins Ohr.
Scheinbar bin ich völlig aus der Form geraten, denn auch ihn bemerkte ich erst, als er mich angesprochen hatte.
„Was ist mit Hayden?“, presse ich vorsichtig durch die zusammengebissenen Zähne.
„Ich dachte, du willst sie loswerden.“
Ich drehe mich zu ihm um.
„Nach vorne schauen“, ermahnt er mich und ich komme mir plötzlich vor wie in einem antiquierten Krimifilm. „Beiß die Zähne zusammen und widersetze dich. Hätte es in unserer Beziehung nicht gekriselt, hättest du damals gar keine Chance gehabt.“
„Sich zu widersetzen gleicht bei Hayden einem Todeskommando.“
„Du hast schon andere aussichtslose Fälle gemeistert“, klopft mir David auf die Schulter und schließt sich dann dem allgemeinen Klatschen an, um die Artistinnen für ihre wirklich hervorragende Leistung zu loben.
„Bravo!“, lächle ich ebenfalls sehr begeistert und denke an Die verlockende Falle mit Sean Connery. Absichtlich an Sir Connery, denn ein Gedanke an die Kurven von Zeta-Jones würde meine unerwünschte Erregung zusätzlich steigern und das hätte bestimmt keinen günstigen Einfluss auf mein Projekt: mich Haydens Wünschen zu widersetzen.
„Finde heraus, wer es war.“
„Was jetzt? Der Hacker-Angriff, oder der Diebstahl?“
„Beides“, dreht sich David entgegen seiner eigenen Anweisung zu mir um.
„Du gehst also von einem Zusammenhang aus?“
„Finde es heraus.“
Er tritt aus dem Publikum hervor, geht auf eine der Artistinnen zu und reicht ihr die Hand. Mein Französisch ist trotz der einjährigen Pause noch lange nicht eingerostet, somit verstehe ich ohne Probleme: Er ist von ihrem Auftritt hin und weg.
Ob seine Frau es genauso sieht?
Ich sehe mich um und ertappe mich bei der Frage, ob sie tatsächlich verheiratet sind. In einem Jahr kann sich vieles verändern. Vor allem, wenn der Kontakt nicht mehr gepflegt wird.
Hayden hat mir mein Leben geraubt.
Vielleicht hat David wirklich geheiratet. Aber ich merke soeben, dass der, der in diesem Jahr die größten Veränderungen durchgemacht hat – ich selbst bin.
So viele Dinge sind mir während unserer Beziehung abhandengekommen. Der Überblick. Meine gewohnten Kontakte. Meine Kondition. Der Spaß an meiner Arbeit. Und sogar der Spaß am Sex.
Voller Neid blicke ich zurück zu David und erwische ihn dabei, wie er der schwarzhaarigen Artistin etwas zuflüstert. Sie hebt zwischendurch ihren Kopf und sieht über seine Schulter zu mir hinüber.
Der Typ will mich doch nicht verkuppeln?
Ich bin entsetzt. Womöglich auch nur deshalb, weil ich in ihrem Blick weder Interesse noch Abneigung erkennen kann. Sondern …
„Eigenartig“, denke ich mir.
Ein kalter Schauer kriecht mir den Rücken hinab und das nicht, weil mich Hayden an ebendiesem streichelt. Mir scheint, als würde mich die dunkelhaarige Artistin bedauern. Wenn nicht sogar um mich sorgen.
Anscheinend trage ich meinen Frust auf der Stirn geschrieben.
„Ich wusste, dass es dir gefallen wird“, säuselt mir Hayden ins Ohr und ich versuche mir die Gänsehaut nicht anmerken zu lassen. „Ich hab mir so ein Tuch besorgt.“
Sie schlägt ihre kräftig geschminkten Wimpern zusammen und deutet zu den Tüchern, die immer noch von der Decke hängen.
Es sind lange, golden schimmernde Bahnen aus Stoff, welche die drei Frauen nur mit reiner Muskelkraft hinauf- und hinunterkletterten, rutschten, rollten und sich in sie hineinwickelten.
„Jaaa“, stöhne ich und überlege kurz, mein Mich-Widersetzen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
„Wenn du brav bist, packe ich es noch heute aus.“
Wenn ich brav bin.
Am Anfang unserer Beziehung fand ich dieses Spiel noch amüsant. Es erregte mich sogar und ja, ich gebe zu, hin und wieder kroch ich zu Kreuze und beteuerte, wie brav ich doch sei, nur damit sie mich ranließ. Mittlerweile habe ich seltener Sex als zu Zeiten meiner verdeckten Ermittlungen und Einsätze, die sich unter Umständen mehrere Wochen am Stück fernab meines Wohnortes abspielten.
„Ich glaube, ich habe zu viel von dem Champagner getrunken. Hast du eine Schmerztablette?“
Ich schiebe ihre Hand von meinem Oberarm weg und fasse mir demonstrativ an die Schläfen.
„Ach Nikolas. Du hast mir gerade die Stimmung verdorben.“
„Echt?“, kann ich mir die Freude nicht verkneifen.
Sollte es etwa so leicht werden? Ich traue dem nicht.
Ich halte erneut Ausschau nach David und muss mir eingestehen, dass ich in Wirklichkeit nach der Schwarzhaarigen suche. Rein ermittlungstechnisch, versteht sich. Um ihrem eigenartigen Blick auf den Grund zu gehen.
David steht mittlerweile mit seiner Vielleicht-Frau auf einem kleinen Podium, da sie sich gerade eben vor allen Anwesenden als Veranstalterin outete.
David ist dank seiner Funktion als Landespolizeidirektor solche Auftritte gewöhnt. Sind sie doch Teil seiner Öffentlichkeitsarbeit und –präsenz. Ich hingegen hasse es. Veranstaltungen dieser Art ebenso, wie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
Ich schließe für einen Moment die Augen und schüttle sogar den Kopf, um das Bild der Schwarzhaarigen hinauszubefördern. Es gelingt mir nicht.
„Was ist mit dir los, Nikolas?“
In Haydens Gesicht entdecke ich ein paar Sorgenfalten. Mist, die macht mir das Widersetzen auch nicht gerade leicht.
„Entschuldige Liebes, wenn ich dir den Abend verdorben habe. Wahrscheinlich habe ich wirklich ein Glas zu viel erwischt … Ich muss hier unbedingt kurz raus …“, suche ich auch schon nach dem Ausgang. 2
„Uff“, lehne ich mich auf die Garagenseite der Zugangstür und atme erstmals tief durch. Tausende Dinge gehen mir durch den Kopf. Erinnerungen an meine früheren Einsätze und Fälle. Sie vermischen sich mit den Bildern meiner früheren Liebschaften und werden mit jeder verstrichenen Minute blasser, bis nur mehr das Bild der Schwarzhaarigen übrig bleibt.
„Fuck“, mache ich meiner Entrüstung Luft, denn diese Frau passt absolut nicht in mein Beuteschema. Auch deshalb entlockt mir das Bild in meinem Kopf eine Gesichtsmimik, als hätte ich eine Wasserleiche gefunden.
Ich selbst bin ein dunkler Typ und schmücke mich nur allzu gern mit hellhaarigen Frauen. Je blonder umso besser. Und da kümmert es mich herzlich wenig, ob es sich um echte Haarfarbe handelt oder nur Wasserstoff. Ebenso denke ich über die begehrte Oberweite. Hauptsache zwei Hände voll. Ob von Mutter Natur oder dem Chirurgen.
Ja – schmücken. Das wird der Grund sein, warum ich Hayden immer noch ertrage …
Ein paar Stufen tiefer hole ich das Zigarettenpäckchen aus der Brusttasche meines Jacketts heraus. Rauchen war noch nie mein Laster. Diese Schachtel trage ich schon einen guten Monat mit mir herum. Hayden hasst es, wenn ich nach Zigaretten stinke und ich denke, dass ich nur deshalb mit dem Rauchen angefangen habe, um sie zu ärgern.
Ich bringe mich lieber selber um, anstatt es ihr zu überlassen. Was für ein beschissenes Arrangement. Ohne den Glimmstängel angezündet zu haben, werfe ich ihn gleich wieder weg und mache einen Schritt aus dem Schatten ins Licht, um mich in der Tiefgarage umzusehen.
Die Gewohnheit eines Polizisten. Oder Instinkt. Vielleicht einfach nur Langeweile.
Sie fallen mir sofort ins Auge. Der schwarze Lieferwagen und die dunkel gekleidete Person mit einer Kappe auf dem Kopf. Sie schlägt gerade die Tür der Ladefläche zu und klopft mit der flachen Hand darauf. Im selben Moment dreht sich diese Person um und erblickt mich.
Es sind nur Sekunden. Vielleicht nur Hundertstel von Sekunden …
„Scheiße!“, laufe ich drauflos.
Die Person pfeift laut, schlägt ein weiteres Mal, nun mit der Faust, an die Tür und rennt ebenso los. Der Wagen setzt sich in Bewegung und ich stehe plötzlich vor der Entscheidung, die diese merkwürdige Gestalt bestimmt beabsichtigt hat:
Wohin nun?
Versuche ich jetzt dem Wagen den Weg abzuscheiden, um ihn daran zu hindern, die Garage zu verlassen, oder schnappe ich mir die dunkel gekleidete Person, um zu fragen, warum sie es plötzlich so eilig hat?
Ich spüre förmlich, wie mir das Adrenalin durch den Körper schießt. Es fühlt sich beinahe wie ein Orgasmus an.
Beides vermisse ich schon seit langem.
Ich springe über die Motorhauben der abgestellten Fahrzeuge mindestens ebenso gekonnt wie der Unbekannte. Und es macht mich nicht minder stolz, dass ich zu Fuß dem fremden Läufer auch in nichts nachstehe.
So oft habe ich den früheren Zeiten nachgejammert und nun kommt es mir vor, als wäre mein letzter Einsatz gerade erst gestern gewesen. Ich lasse die vielen Stufen der Garage hinter mir und laufe dem Fremden hinterher, hinaus auf die offene Straße.
Ein kurzer Blick über die Schulter reicht aus und ich entdecke den Lieferwagen, der es durch die Schranken ebenfalls auf die Straße schaffte und sich jetzt von uns wegbewegt.
Dich kriege ich! Ich rüste mich für eine Hetzjagd, bei denen ich bislang die Beute immer zu fassen bekam.
Der Abend zu solch später Stunde ist mitten in der Stadt, dank der vielen Lichter, um nichts dunkler als ein verregneter Tag. Trotz der schwarzen Maskerade kann ich den Läufer auf die kurze Distanz sehr gut im Blick behalten.
Ein Zaun ist für ihn wie für mich kein Hindernis. Die Sprinkler im städtischen Park sind zwar lästig, aber eine angenehme Erfrischung in der spätsommerlichen Hitze und die Mauer der Brücke ist nicht hoch genug, um uns aufzuhalten.
An dieser Stelle muss ich kurz erwähnen, dass ich mir gewisse akrobatische Fähigkeiten bereits vor meiner Zeit bei der Polizei angeeignet habe. In meiner frühen Jugend träumte ich von einer Karriere als Stuntman. Zugegeben – das Hochlaufen an steilen und oftmals spiegelglatten Oberflächen und das Springen aus großer Höhe war mir auch später regelmäßig zugutegekommen. Mich jedoch an einer ungefähr fünf Zentimeter dünnen Versorgungsleitung unter der Brücke über die gesamte Flussbreite entlang zu hangeln – das ist sogar für mich eine Herausforderung. Aber eine sehr willkommene.
Meine Karriere bei der Polizei kann man mit einer Aktienkurve vergleichen. Anfangs ging es steil nach oben. Dann wurde mir die Stadt zu klein und als es bei der Sondereinheit für mich persönlich keine weiteren Aufstiegschancen mehr gab, drückte ich wieder die Schulbank. Ein paar Jahre später versuchte ich dann, selbst unserer Forensik etwas mehr Action zukommen zu lassen. Nicht immer zur Freude meiner Vorgesetzten. Wohl auch deshalb wurde ich nach und nach immer öfter zu internationalen Fällen hinzugezogen, um zur Abwechslung einmal jemand anderem auf die Nerven zu gehen. Vor fünf Jahren erlebte ich in Spanien den Höhepunkt nicht nur meiner Karriere. Auch meines Wissens und Könnens und, zugegeben, auch meiner Nerven. Die wesentlich ruhigeren Jahre danach nutzte ich hauptsächlich dazu, um mich von diesem einen Fall zu erholen und mich wieder mal neu zu orientieren. Ein kleiner Fall führte mich dann eines Tages zu David, der nach dem spanischen Fall eine neue Aufgabe angenommen hatte. Ihm imponierte mein Trieb, mich stets weiterzuentwickeln und persönlich weiterzukommen. Er gab mir jedoch unmissverständlich zu verstehen, dass der Posten des Direktors bereits besetzt war.
Wir sind zwar nie die dicksten Freunde geworden, schätzen uns aber gegenseitig sehr.
Rückblickend muss ich zugeben – mit den amerikanischen Fernsehserien hatte mein beruflicher Alltag trotz allem wenig gemeinsam. Aber hin und wieder ergaben sich Fälle, die mir auch bei mit größter Sorgfalt getroffenen Vorsichtsmaßnahmen genügend Adrenalin durch den Körper pumpten. Und gelegentlich auch das Herz in die Hose rutschen ließen.
Und dann traf ich Hayden. Das war für mich so was wie die Weltwirtschaftskrise für den Börsenmarkt.
Jetzt, in diesen Augenblicken, erlebe ich gerade meine persönliche Konjunktur.
Meine Freundin glaubt, mein regelmäßiges Joggen und Krafttraining hätten nur den Zweck, mich für sie in Form zu halten. Doch tief in mir drin hege ich immer noch die Hoffnung, eines Tages in meine Traumposition zurückkehren zu dürfen.
Ich laufe zur Höchstform auf, hetze dem Fremden wie einer Leistungsprämie nach und erwische mich sogar dabei, vor Freude zu grinsen. Kurz gesagt – ich bin erregt.
Am anderen Ufer angekommen lasse ich das Rohr los, lande trotz der kurzfristigen Anstrengung relativ sanft auf dem Schotter und laufe dem Flüchtigen sofort weiter nach. Ich sprinte die bewachsene Böschung hinauf, springe über das Gelände, hetze über die acht Spuren der Städteautobahn auf die andere Seite und sehe dem Fremden zu, wie er auf dem Beifahrersitz des schwarzen Lieferwagens Platz nimmt und mir davonfährt. Gerade so kann ich noch sein Gesicht sehen, als er sich nach mir umdreht.
Er lacht mich trotz meines Reinfalls nicht aus.
Das wundert mich sehr.
Der Blick sagt mir etwas anderes. Was, das kann ich in diesem Moment nicht einmal ansatzweise erkennen. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass sich in seinem Blick eine Botschaft versteckt.
Verärgert trete ich gegen einen Stein, der am Pannenstreifen liegt, und lehne mich mit beiden Händen an die Planke. Mein Herz pulsiert, in meinen Schläfen dröhnt es, in Gedanken renne ich dem Fremden immer noch nach.
Dann wische ich mir mit den Händen den Schweiß aus dem Gesicht, streife mir mit den Fingern durch das dichte Haar, richte mich schließlich wieder auf, rücke mein Jackett zurecht und erlaube mir tatsächlich, es amüsant zu finden.
Ich drehe mich um und setze mich auf die schmale Planke. Meine Augen folgen der Strecke zurück, während ich in meiner Brusttasche nach dem Telefon suche.
Im selben Augenblick, als ich die Nummer von David wählen will, läutet es bei mir.
„Welch ein Zufall“, puste ich in das Telefon, noch etwas außer Atem.
„Wo zum Teufel steckst du?“, schnauzt er mich an.
„Du wirst es nicht glauben“, lache ich laut und will mich gerade mit meiner immer noch sehr gut funktionierenden Kondition brüsten, als …
„Man hat uns hier direkt unter der Nase ein Gemälde gestohlen!“
Neben meiner Kinnlade rutscht mir auch das Telefon beinahe aus den Fingern.
„Red keinen Scheiß“, reime ich mir sofort zusammen, wer mir da durch die Lappen gegangen ist und finde es mit einem Mal gar nicht mehr so lustig.
„Was treibst du, Nik? Treibst du es etwa gerade?“
In Davids Stimme kann ich eindeutig Entsetzen heraushören.
„Im Gegenteil. Aber so wie es aussieht, ist mir vorhin der Dieb davongerauscht.“
„Wie …?“
„Ein schwarzer Mercedes-Lieferwagen. Ich hab sie in der Tiefgarage erwischt.“
„Bist du etwa dem Wagen nachgelaufen? Du schnaufst, ich kann dich kaum verstehen.“
„Entschuldige, aber du hast es schließlich zugelassen, dass man mich aus dem Verkehr zog. Eine Kondition erhält sich nicht von alleine.“
Ich klemme mir das Handy zwischen Ohr und Schulter, hole aus der Brusttasche das Ticket aus der Garage und einen Stift. Ich notiere mir das Kennzeichen, stecke alles wieder zurück in mein Jackett und nehme das Telefon erneut in die Hand.
„Ich bin einem von ihnen nachgelaufen. Bis über die Donau. Leider haben sie mich vorgeführt, wie einen blutigen Anfänger“, gebe ich verärgert zu. „Ich hätte ihn schon fast gehabt, da tauchte der Wagen wieder auf und …“
„… schnappte ihn dir direkt vor der Nase weg.“
„Jepp“, presse ich die Lippen zusammen.
„Mist.“
„Du sagst es.“
„Wieso hast mich nicht gleich verständigt …?“
„Sorry, aber eine solche Technik gehört seit einem Jahr nicht mehr zu meiner Ausrüstung …“
„Das wird sich ab morgen ändern.“
Ich sehe auf die Uhr.
„Es ist morgen.“
„Mach das Übliche. Bericht, Datenbank … und melde dich um acht in der Zentrale. Alles andere werde ich bis dahin in die Wege leiten.“
Ich lege ohne ein Abschiedswort auf. Dies war nicht mehr nur ein Gespräch unter Freunden, sondern eine Dienstanweisung. Bei so was legten wir schon früher keinen Wert auf Nettigkeiten.
„Das klingt gut. Das klingt echt gut“, grinse ich stumm vor mich hin und danke im Geiste den Dieben für den Gefallen, den sie mir mit ihrer Tat getan haben. 3
Sechs Stunden später kann ich mich kaum bewegen. Meine Beine fühlen sich an wie in Beton gegossen. Meine Arme haben über Nacht ebenfalls an Gewicht zugenommen, denn ich bekomme sie nicht höher als bis zu den Schultern. Als mir in der Zentrale mein ehemaliger Partner über den Weg läuft und mir auf den Rücken klopft, breche ich fast zusammen.
„Ich hab gehört, du warst letzte Nacht auf der Jagd“, grinst er mich spöttisch an. Sofort taucht das Bild des Fremden vor mir auf. In den dunklen Augen konnte ich kein bisschen Spott entdecken.
Das war es also!
Respekt. Wahrscheinlich nicht Respekt vor meiner Person, aber auf jeden Fall Respekt vor meiner Leistung.
„Ein Jahr Abstinenz hinterlässt halt Spuren“, verhöhnt er mich weiter.
Ich bin zu geschlaucht, um darauf angemessen zu reagieren, und schleppe mich den Gang vorwärts. Im Büro am Korridorende wartet man schon sehnsüchtig auf meinen Bericht.4
Die Spurensicherung kann keine brauchbaren Ergebnisse liefern. Aus dem Meer an Fingerabdrücken, das sich am Tatort finden ließ, hat man noch keine ausselektieren können, die man eindeutig den Tätern zuordnen könnte. Der Läufer trug zwar keine Handschuhe, aber es hat tatsächlich den Anschein, als wäre uns noch jemand nachgelaufen und hätte alles abgewischt, was wir beide berührt hatten. Ich bin mit ein paar Leuten von der Spurensicherung den gesamten Fluchtweg nochmals abgegangen und konnte neben keinem einzigen Fingerabdruck – weder meinem, noch einem fremden – auch keinen einzigen Schuhabdruck in der weichen Erde finden.
Das Autokennzeichen war gefälscht, der Lieferwagen seitdem nirgendwo gesichtet und auch von niemandem als gestohlen gemeldet worden. In der Garage stand er zudem im toten Winkel der Überwachungskamera. Die Aufnahmen von der Einfahrt zeigen ihn zwar bei der Ankunft und auch beim Hinausfahren, jedoch hat nicht einmal die Bildbearbeitung brauchbares Material liefern können, um den Fahrer zur Fahndung rauszugeben.
So gründlich vorbereiteten Verbrechern bin ich in meiner ganzen Laufbahn als Polizist noch nicht begegnet.
Auch die Befragung der Gäste lieferte uns bislang keine nützlichen Informationen und die Auswertung der Videoaufnahmen – da bin ich noch dabei.
Das lasse ich nicht auf mir sitzen. Ein jeder hat schließlich seine Achillesferse.5
In der besagten Nacht, oder eher in den frühen Morgenstunden, telefonierte ich nochmals mit David und anschließend mit einem Kollegen, der noch vor Ort die Ermittlungen aufnahm. Ich schlug ihm vor, von jedem Gast eine Ganzkörperaufnahme machen zu lassen.
Diese Bilder sehe ich mir nun seit Tagen an, vergleiche sie mit den Videoaufnahmen der Presse und der Überwachungskameras und suche nach Personen, die während der Darbietung der Akrobatinnen noch dabei waren, auf den Bildern meines Kollegen jedoch nicht mehr aufzufinden sind. Es sind einige, die sich frühzeitig verabschiedet haben. Die Kollegen fahren sie ab, um sie zu befragen und auch gleich ihre Aussagen zu überprüfen.
„Alle Alibis bestätigt“, seufze ich und lehne mich kurz zurück. Um mir eine kurze Pause zu gönnen und meinen Kopf durchzulüften, sehe ich mir den Auftritt der Künstlerinnen an. Konkret – die Szene, in der die eine Künstlerin wie eine Spinne am Faden von der Decke zu mir herunterrutscht. Ich sehe dabei so beschissen aus, dass ich mich selbst zum Lachen finde.
Einige Minuten später stoppe ich die Wiedergabe. Genau in dem Augenblick, in dem sich David zu ihr neigt, ihr etwas ins Ohr flüstert und sie über seine Schulter zu mir hinüberschaut. Diese Aufnahme zeigt den Vorgang aus der seitlichen Perspektive. Dabei kann ich genau erkennen, wie ihr David auf die Brust schielt. Doch das finde ich weniger interessant, als meine Erinnerung an ihre Augen. An den Blick, den sie mir dabei zuwarf.
Ihre Augen sind bemerkenswert dunkel. Fast schon schwarz. Ich selbst habe Augen wie eine sternenlose Nacht und weide mich grundsätzlich nur im klaren Blau. Bestimmt geistert mir auch deshalb ihr Blick so im Kopf herum. Weil er so anders ist als das, was ich gewohnt bin.
Ich erinnere mich an keinen sichtbaren Lidstrich. Vielleicht nur etwas Wimperntusche. Kein aufwendiges Make-up, wenn überhaupt eines. Na ja – davon verstehe ich wenig. Jedenfalls wirkte sie auf mich sehr natürlich. Und ob sie mein Typ ist oder nicht … Ich muss zugeben, dass sie auf den Aufnahmen ebenfalls aussieht wie aus einem Modemagazin ausgeschnitten.
„Heißer Feger“, grunzt mir mein Kollege mit vollem Mund über die Schulter. Ich sehe zur Seite und klopfe mir mit der Hand die Brösel vom Hemd.
„Kannst du nicht woanders herumsauen?“
„Was? Störe ich dich etwa bei einer privaten Vorstellung?“
Er holt sich einen Stuhl und setzt sich neben mich.
„Kann ich einen Abzug von ihrer Großaufnahme haben?“, zwinkert er mich lüstern an.
Da begreife ich erst wirklich, warum mir ihr Blick keine Ruhe gibt.
„Ach du …“, schnappe ich mir mein Telefon, springe auf und laufe aus dem Raum.6
„Ich bin ja so vom Cirque du Soleil fasziniert und gönne mir seit Jahren ihre Vorstellungen, die sie regelmäßig in Wien veranstalten. Vor einem halben Jahr habe ich bei solch einer Gelegenheit David kennengelernt“, schwärmt die Freundin des Polizeidirektors.
Für mich die erste brauchbare Information. Nicht unbedingt für diesen Fall, aber nun weiß ich wenigstens, dass mein Chef noch nicht verheiratet ist. Soweit ich weiß, ließ er noch nie etwas anbrennen. Aber binnen so kurzer Zeit zum Traualtar – das traute ich ihm dann doch nicht zu.
„Aber wo diese Künstlerinnen herkommen und wie Sie sie kontaktieren können, das kann ich Ihnen nicht sagen. Da müssen Sie sich an unser Eventmanagement wenden. Ich lasse Sie umgehend von meiner Assistentin zurückrufen.“
Das Telefon verstummt plötzlich.
Die legt tatsächlich auf! Ich bin entsetzt. Nein, sogar richtig erbost. Natürlich bin ich in meiner beruflichen Laufbahn zahlreichen Individuen begegnet, die glaubten, die ganze Welt würde sich nach ihnen richten und das sogar bei Mordfallermittlungen. Aber von einer Museumsleiterin hätte ich doch weit mehr Kooperation erwartet. Vielleicht, weil sie die Freundin eines Polizisten ist. Womöglich auch, weil sie sich wünschen sollte, das gestohlene Bilder rasch und unbeschädigt zurückzubekommen. Es sei denn …7
„Ich nehme an, die Ausstellung war versichert.“
„Selbstverständlich“, antwortet die Assistentin.
„Wurde die Versicherung bereits informiert?“
„Umgehend.“
„Und?“
„Was, und?“
„Wie hat die Versicherung reagiert? Wurde die Summe schon überwiesen? Oder wenigstens avisiert?“
„Hören Sie“, faucht mich die Frau unerwartet unfreundlich an. „Frau Kalim steht in engem Kontakt mit dem Besitzer des gestohlenen Gemäldes. Bei allen ausgestellten Exponaten handelt es sich lediglich um Leihgaben. Dieser Vorfall ist uns mehr als nur unangenehm und peinlich. Die Ausstellung am Bodensee war der Auftakt. Der gestrige Abend der zweite Teil einer ganzen Reihe von Veranstaltungen, die wie eine Tour in mehreren Städten der Europäischen Union stattfinden sollen. Das ganze Projekt steht auf der Kippe. Was glauben Sie, wie viel Geld das kostet und auch noch kosten wird? Abgesehen von dem Ruf unserer Organisation …“
Nun gut. Die Idee, dass die Museumsleitung selbst etwas mit dem Diebstahl zu tun haben könnte, ihn in Auftrag gegeben haben könnte, setze ich erstmal auf die Warteliste.
Das Beenden des Gespräches bleibt mir erspart, denn die aufgebrachte Assistentin legt nach diesem Monolog voller Empörung ebenfalls auf. Ich schnappe mir den Zettel mit der Adresse des Veranstaltungsunternehmens und beschließe spontan, mir die Beine zu vertreten.
Hayden ist sauer, weil ich sie in der Nacht im Museum alleine zurückließ. Sie über die Pflichten eines Polizisten aufzuklären machte noch nie viel Sinn, also habe ich es gleich gelassen.
Sie verbannte mich auf die Wohnzimmercouch. Diese mag vielleicht gerade wegen ihres Designs sehr modern sein, aber sie entspricht nicht annähernd meiner Körpergröße und so verbringe ich seitdem die Nächte in der Fötusstellung. Auch deshalb will ich raus aus dem Büro, um meinem Körper wieder mal Raum zu bieten. Nicht dass zum Schluss meine aufrechte Haltung einen dauerhaften Schaden davonträgt.