Inhalt:
Gerade so dem Tod entkommen, findet Alex auch weiterhin keine Ruhe. Je intensiver ihre Suche nach den Verantwortlichen ausfällt, umso näher scheint ihr der Feind zu sein.
Da ihre bisherigen Pläne keine Wirkung zeigten, ergreift sie nicht nur ungewöhnliche Maßnahmen – sie nimmt auch die Peitsche selbst in die Hand.
Leseprobe XXL lesen:
Lesen mit Buchanimation:
Lesen ohne Buchanimation:

Carnivora 3
Carnivora
3. Teil
Novelle
© 2020 Zoe Zander
Carnivora 3. Teil
Novelle
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Covergestaltung: Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Postadresse:
Zoe Zander
Albertgasse 49/12a
1080 Wien
Email: Zander.Zoe@gmail.com
Autorenseite: www.zoe-zander.at
Widmung
an alle, die ihr Interesse bekunden
Wäre ich auf der Suche, würde ich keine Bücher schreiben, sondern eine Annonce aufgeben.
Zoe Zander
Das Buch
Gerade so dem Tod entkommen, findet Alex auch weiterhin keine Ruhe. Je intensiver ihre Suche nach den Verantwortlichen ausfällt, umso näher scheint ihr der Feind zu sein.
Da ihre bisherigen Pläne keine Wirkung zeigten, ergreift sie nicht nur ungewöhnliche Maßnahmen – sie nimmt auch die Peitsche selbst in die Hand.
Mehr Informationen zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Im Morgengrauen
Um zwei Leben zu retten,
ohne das eigene zu verlieren,
leiste ich einen Schwur.
In fremden Gemächern,
mit Stock und Nadeln,
hinterlasse ich eine Spur.
Mit Schlag der Uhr
rollt so mancher der Köpfe
vor lauter Sorgen.
Denn ich ziehe in den Kampf,
um das Gestern zu beenden,
und zeitgleich für ein neues Morgen.
Nur deshalb ich im Mondschein
tanze auf Messersschneide
den Säbeltanz für meinen Feind.
Und wie der Stern am Himmel,
ziehe auch ich mich erst zurück,
wenn der erste Sonnenstrahl erscheint.
Den ganzen Abend gehe ich
mit Fingerspitzengefühl
im Kugelhagel spazieren,
nur um am frühen Morgen
meine Freiheit endgültig in
deinen Armen zu verlieren.
Zoe Zander
3.1
Es ist die letzte Ampel auf meinem Nachhauseweg. Den Feierabendverkehr hinter mir gelassen, genieße ich die leere Straße und den Blick auf die untergehende Sonne.
Der Wochenendeinkauf klimpert und raschelt in dem Transportkorb im Kofferraum, als könnte er, ebenso wie ich, bereits die Einmündung in unsere Wohnstraße sehen.
Wir sind umgezogen. Nicht zum ersten Mal, aber diesmal bin ich mit der Gegend sehr zufrieden. Unser Sohn, den wir zum Staunen der wenigen Verwandten und Bekannten nicht Alex, sondern Felix benannt haben, kann mit etwas Glück Rehe und andere Tiere auf den Feldern hinter dem Gartenzaun beobachten.
Ich muss zwar früh aus dem Haus, um ins Büro zu gelangen, und Alex ebenso, wenn er zur Uni fährt, aber das nehmen wir beide gerne in Kauf. Abgesehen davon hatten wir keine andere Wahl. Wir mussten aus dem Apartmenthaus raus.
Die Ampel steht auf rot. Ich nutze die Zeit, hole mein Handy aus der Handtasche, die neben mir auf dem Beifahrersitz lümmelt und knipse ein Selfie. Unser Sohn freut sich über Bilder von mir. Er ist wohl der Einzige, der meine Haare faszinierend findet. Zum Glück hat er seine von seinem Vater geerbt – das behauptet zumindest Alex, denn ich habe ihn noch nie mit richtig viel Haar am Kopf gesehen.
Dieses Bild ist allerdings nicht für ihn gedacht.
Als es endlich grün wird, fahre ich weiter. Nach einigen Metern biege ich rechts in die Seitengasse ein und drücke auf die Fernbedienung, die zuerst das Gartentor und dann die Garage öffnet.
Bevor ich unser Grundstück erreiche, fällt mein Blick nach links, zum Ende der Straße. Ein schwarzer Mercedes mit verdunkelten Seitenfenstern sticht aus der Reihe der Familienfahrzeuge hervor.
„Nicht schon wieder“, seufze ich genervt und rolle langsam in die Garage hinein. Den Blick auf den Rückspiegel gerichtet, beobachte ich das Gartentor, wie es automatisch zugeht. Erst dann fängt das Garagentor an, sich zu schließen.
Ich steige aus, hebe den Einkauf aus dem Kofferraum heraus und trage ihn ins Haus.
„Hallo, ihr zwei süßesten Männer auf der ganzen Welt“, lächle ich meinen Sohn und meinen Lebensgefährten an. Nein, wir sind nicht verheiratet. Auch wenn Alex bislang bei jeder möglichen Gelegenheit um meine Hand anhält.
„Hallo Mami“, zwitschert Alex, der ebenso jeden Augenblick dazu nutzt, mir zu zeigen, wie sehr er sich freut, dass ich mich für unseren Sohn entschieden habe.
Felix ist lediglich an meinem Haar interessiert.
„Wir haben Besuch“, hängt Alex hinten dran, mit wesentlich weniger Enthusiasmus in der Stimme.
„Habe ich schon bemerkt.“
Ich trage den Einkauf weiter, gehe an den drei Männern, die in unserem Wohnzimmer sitzen und sich leise unterhalten, stumm vorbei, als wären sie ein Teil der Einrichtung. Sie weiterhin ignorierend räume ich den Einkauf ein, befülle mir ein Glas mit Wasser, trinke davon und nehme Felix in die Arme. Erst jetzt fühle ich mich richtig angekommen.
„Wir brauchen Ihre Hilfe, Frau Gerin“, tritt der erste mit mir in Kontakt.
„Hilfe?“, fragt Alex verwundert. „Zu mir haben Sie gesagt, dass Sie nur nachsehen wollen, wie es uns geht.“
Nur der Typ, der als einziger einen Anzug trägt, grinst bei Alex’s Worten.
„Warum sollte ich Ihnen helfen?“, bin ich nur daran interessiert, die Männer wieder aus meinem Haus zu bekommen.
„Weil Sie bestimmt Interesse daran haben, dass alle, die mit den Machenschaften von Dalibor Phalke und seinem Sohn Mika zu tun haben oder hatten, hinter Gittern landen.“
„Hat sich die Angelegenheit mit dem Tod der beiden etwa nicht erledigt?“, erlaube ich mir die Frage, obwohl mir die Antwort bestens bekannt ist. Denn genau diese war der Grund für all unsere bisherigen Umzüge.
Nachdem meine Geschichte in sämtlichen Fernsehnachrichten ausgestrahlt wurde und mein Gesicht samt meinen roten Haaren in jedem Kiosk des Landes den Menschen begegnet war, war es ein Leichtes, mich ausfindig zu machen. Und es fanden sich immer wieder ein paar zurückgelassene Handlanger, die meinten, mich mit ihren Drohungen und Forderungen einschüchtern zu können, oder zu sonst was bewegen zu wollen.
„Wir haben Ihnen nicht umsonst das Zeugenschutzprogramm angeboten.“
„Soll mein Kind in einem Käfig aufwachsen?“
„Glauben Sie etwa, es selbst beschützen zu können?“
„Wollen Sie mir weißmachen, Sie können es?“, werde ich direkt und bekomme wie erwartet keine Antwort.
„Wir sind der Ansicht, dass die Phalke zwar die Drahtzieher waren, aber eben nur für unser Gebiet“, sagt der Mann im Anzug. Er besitzt eine auffallend schmale Figur mit langen Gliedern.
„Wer ist wir und was heißt unser Gebiet?“, will ich wissen.
„Ich bin der zuständige Staatsanwalt“, erhebt er sich kurz, um mir seine Karte zu reichen.
„Und wer sind Sie?“, sehe ich den dritten im Bunde an.
„Ich bin gar nicht hier, wenn Sie verstehen.“
Der mir und Alex bereits bekannte Polizist fährt an Stelle des Staatsanwalts fort: „Es hat sich herausgestellt, dass die Phalke ein Teil einer grenzübergreifenden Organisation waren. Die paar Mitglieder, die noch frei herumlaufen und die wir noch nicht identifizieren konnten, werden noch eine Weile brauchen, bis die das Vater-Sohn Gespann ersetzt haben. Aber es wird passieren und Sie werden dann sicher die Erste sein, die dies zu spüren bekommt.“
„Wie weit reicht ihr Zeugenschutzprogramm? Wollen Sie uns auf den Mond schießen?“, wirft Alex in die Runde.
„Es gibt gar kein Zeugenschutzprogramm, nicht wahr? Es geht nur darum, dass ich Ihnen helfe, die anderen zu fassen.“
Die Männer schweigen.
„Wie lange soll es dauern und vor allem, wie viele Durchgänge soll diese Geschichte haben?“, begreife ich endlich, was hier gespielt wird.
Sie schweigen weiter und mir wird allmählich klar – dass es keine Aussicht auf ein Ende gibt.
Ich seh meinen Sohn an, den das Spiel mit meinem Haar müde gemacht hat und er in meinen Armen eingeschlafen ist. Ich drücke ihn fester an mich.
„Vielleicht sehen Sie sich mal ein paar Bilder an.“ Der Staatsanwalt holt seine Tablettasche, die er unter dem Couchtisch auf dem Boden zwischengelagert hat. Er breitet die Fotos mehrerer Männer und sogar einiger Frauen auf dem Tisch aus, auf dem ich für meinen Sohn sonst mit Matchbox Autos herumfahre und er sich dabei vor Lachen kugelt.
Als sich Alex’s und mein Blick treffen, nimmt er mir unseren Sohn wieder aus den Armen. Nur widerwillig lasse ich los.
„Mach schon. Da ist ja nichts dabei“, ermuntert er mich.
Also begebe ich mich an den Tisch und beuge mich über die Platte aus Glas. „Einige habe ich schon mal gesehen, aber ich weiß wirklich nicht mehr wo und schon gar nicht, wie sie heißen.“
„Schade“, räumt der Staatsanwalt die Bilder wieder zurück in seine Tasche.
Die Männer stehen auf und kommen auf mich zu.
„Frau Gerin, vielleicht sollten Sie mal einen Umzug in Erwägung ziehen“, bemerkt der dritte.
„Schon wieder?“, seufzt Alex.
„Ich meine nicht von einer Seite der Stadt auf die andere“, erklärt er weiter.
Diesmal schweige ich und starre die mittlerweile leere Glasplatte an. Als würden eines der Bilder immer noch dort liegen. „Hm“, brumme ich dann, als ich merke, dass mich die Männer beobachten.
„Wir verabschieden uns dann mal“, reichen sie mir der Reihe nach die Hand, die ich nur apathisch annehme. Ebenso in Gedanken versunken begleite ich sie zur Tür. Zwei gehen gleich weiter, nur der dritte, der angeblich gar nicht da ist, bleibt stehen. Er nimmt mir sogar die Klinke aus der Hand und macht die Tür wieder zu.
„Was wissen Sie?“, fragt er direkt nach.
„Was meinen Sie?“, erwache ich aus meinem Tran.
„Es ist die Rede von einer Frau …“
„Die Frau von Dalibor Phalke ist tot“, wiederhole ich die Schlagzeile, die vor einiger Zeit in vielen Zeitungen stand.
„Eben …“, sieht er mich an, als wäre dies ein Verhör. Aber als ich auch nach einer ganzen Weile schweige, seufzt er und fährt fort: „Ich kann Ihnen helfen.“
Ich lache laut.
„Aber Sie müssen mir auch helfen.“
Da lache ich noch lauter und will die Tür aufmachen, um ihn zum Teufel zu jagen, aber er hält sie fest. So fest, dass ich sehr viel Kraft anwenden müsste, um sie aufzubekommen.
„Kommen Sie“, drängt er mich zurück ins Wohnzimmer.
„Nein“, stelle diesmal ich mich ihm in den Weg. „Sagen Sie mir zuerst, wer Sie sind und was Sie wirklich von mir wollen“, wende ich den Blick von dem Mann ab, der mir wie ein Deja-vu vorkommt, ich mich aber nicht mehr erinnern kann, wo ich ihn bereits gesehen haben könnte. Angespannt sehe ich über meine Schulter zu Alex, der Felix ins Bett bringen will. „Bleib da!“, herrsche ich ihn an. „Wir bleiben zusammen.“
Seit Wochen klebt man mir schon auf den Fersen. Sogar im Büro gibt es plötzlich neue Kollegen, die immer wieder Köpfe von ihren Schreibtischen heben und mir hinterher sehen, wenn ich an ihren verglasten Büros vorbei gehe und die genau dann Feierabend machen, wenn ich mich von meinem Platz erhebe und nach Hause fahren will.
„Ich heiße Luis. Das muss reichen. Ich war mal bei der Polizei.“
„Mich interessiert nur das Jetzt.“
Er legt mir die Hand auf die Schulter und bittet mich mit Kopfnicken zurück ins Wohnzimmer zu gehen. Ich lasse ihm den Vortritt und gehe ihm nach – will mir den Rücken freihalten.
Er setzt sich sofort wieder auf das Sofa, greift in seine offene Lederjacke und holt ein Bündel zusammen gerollter Papiere heraus. Als er sie auf dem Tisch ausbreitet, fällt mir auf, dass es die gleichen Bilder sind, wie die des Staatsanwalts. Und noch ein paar mehr.
„Kleine Fische, die groß werden möchten“, sortiert er gleich zu Beginn einige davon aus. „Schieber“, nimmt er die nächsten zwei weg. „Dieser hat versucht in Ihre letzte Wohnung einzubrechen.“
Ich hebe meine Augenbraue hoch.
„Woher wissen Sie das?“, erkundigt sich Alex.
„Weil uns seine Männer seit einem guten halben Jahr auf Schritt und Tritt folgen“, erkläre ich anstelle von Luis.
Der Mann lächelt kurz. Dann zeigt er auf eines der drei übrig gebliebenen Bilder.
„Ondrej Malik …“, will er mich offensichtlich prüfen, denn so einen Anfängerfehler traue ich ihm nicht zu.
„Nein“, zeige ich auf ein anderes Bild. „Das hier ist Ondrej Malik“, wäre auch blöd, würde ich behaupten, ich kann mich an keinen der Zuhälter mehr erinnern, von denen ich als Minderjährige herumgereicht wurde.
„Der hier heißt Luka. Luka …“ Ich muss nachdenken. „Schindler.“
„Wer ist das?“, fragt er so, als hätte er tatsächlich noch nie etwas von ihm gehört.
Ich seufze laut, als ich merke, dass Alex unruhig wird.
„Er ist der beste Dokumentenfälscher, den es gibt“, schwindele ich, denn die Dienste des Besten habe ich selbst öfters in Anspruch genommen, als ich noch auf der Suche nach Dalibor war. Da er mir neben falschen Papieren auch noch ein paar nützliche Tipps als Bonus drauf gelegt hat, haue ich ihn auch nach all den Jahren unter keinen Umständen in die Pfanne. „Die hergeschleppten Mädchen brauchen schließlich Dokumente.“
„Na gut“, murmelt er enttäuscht, da sich die zwei als Flop erweisen. „Und wer ist das?“, klopft er mit dem Finger auf das dritte Bild. „Und sagen Sie nicht, Sie wissen es nicht.“
Ich blicke zu Alex, als suche ich bei ihm nach Verständnis.
„Ich weiß wirklich nicht, wie er heißt. Aber er war dabei, als ich durch die Wälder der Hohen Tatra gehetzt wurde.“ Es ist der Typ, der dabei war, als Mika, der Sohn von Dalibor, der so sehr dem verstorbenen Sänger Falco ähnelte, meine Nachricht in den Baum geritzt vorgefunden hatte.
„Okay“, seufzt diesmal er. „Wir können also echt von vorne beginnen.“
„Was wollen Sie von mir?“, platze diesmal ich vor Neugier.
„Dass Sie in Ihren alten Job zurückkehren.“
„Nein“, sagen Alex und ich zeitgleich.
„Wir kleben Ihnen seit langem auf den Fersen.“
„Ja, so dicht, dass es nicht zu übersehen ist. Heute hat sogar die Kassiererin im Geschäft gefragt, ob die Bananen eines Ihrer Männer noch zu meinem Einkauf dazu gehören. Stümperhafter geht’s wohl nicht!“, werde ich wütend.
Doch der Mann reagiert anders, als wie ich erwartete.
„Meine Männer haben in dem Lebensmittelladen nichts gekauft“, zeigt er sich beunruhigt.
Daraufhin hole ich mein Handy aus der Handtasche und zeige ihm das Bild, das ich bei der letzten Ampel geschossen habe. „Dann gehört dieser Wagen wohl auch nicht zu Ihnen.“
Er nimmt daraufhin sein Handy, ruft jemanden an, fragt nach dem Kennzeichen und zeigt mir wenig später ein Bild, das er nur eine Sekunde zuvor erhalten hat.
Mich durchfährt ein Blitz und nicht nur, weil es derselbe Mann ist, wie auf dem einen Foto des Staatsanwalts. „Kenne ich nicht“, flutscht mir zügig über die Lippen, obwohl ich am liebsten „Das kann nicht sein!“ rufen würde.
Der Mann sieht deutlich älter aus, als wie ich ihn in Erinnerung habe. Ich kämpfe plötzlich mit Tränen und halte mir mit der Hand den Mund zu, um meine zitternden Lippen zu verstecken.
„Roland Hauser“, zuckt er mit den Schultern. „Ein Buchhalter in einem kleinen Bauunternehmen.“
„Sagt mir rein gar nichts“, lüge ich weiter. Es liegt jedoch nicht am Lügen selbst, weil mir dabei speiübel wird.
„Mir ist keine Verbindung zu Phalke bekannt“, informiert mich Luis weiter, als hätte er sich die Bilder des Staatsanwaltes nicht richtig angesehen.
„Na vielleicht … Vielleicht ist er auch nur rein zufällig hinter mir hergefahren“, rudere ich zurück.
„Kein Wunder, dass Sie Gespenster sehen. Aber ich verspreche Ihnen, wenn Sie uns helfen, werden wir Ihnen ein neues Leben besorgen. Haus mit Garten und Jobs für Sie beide inklusive …“, steht er endlich auf und begibt sich von alleine zur Tür.
Schweigend verabschiede ich ihn und bleibe auch dann stumm, als Alex unseren Sohn endlich ins Bett bringt und mich anschließend in der Küche mit einem Glas Wasser vorfindet.
„Du siehst echt schon Gespenster“, schließt er mich in die Arme.
„Tatsächlich dachte ich bis heute, dieser Typ könnte mir nur noch als Geist begegnen, aber, wie wir beide sehen konnten, ist er dafür noch viel zu sehr lebendig.“
„Kennst du etwa diesen Roland Hauser?“
„Ja, nur heißt er in Wirklichkeit Marcel Jakl.“
„Wieso hast du das diesem … Wie heißt er noch? Wieso hast du es ihm nicht gesagt?“
„Weil …“, stelle ich das Glas vorsichtshalber ab, da ich befürchte, es könnte mir jeden Augenblick aus der zitternden Hand rutschen. „Er ist mein Vater.“
„Dein Vater?“, stockt Alex nicht nur der Atem. „Du hast nie von ihm gesprochen. Ich dachte, er ist bereits tot.“
„Ich habe lange versucht, ihn zu finden. Aber seine Spuren verloren sich vor Jahren in nichts und das ohne einen Totenschein.“
„Vielleicht sollten wir mit diesem … ach ja, Luis … verhandeln. Das mit dem Haus und den Jobs klingt nicht schlecht.“
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn auf die Wange. Genau so, wie ich das bei Felix immer tue. „Glaube mir – es wird nie ein Haus und vor allem keine Jobs geben. Für das, dass er mal bei der Polizei war, verspricht er ganz schön viel.“
„Denkst du, er lügt?“
„Zumindest das mit der Polizei stimmt“, kann ich mich inzwischen erinnern. „Er war der Typ, der meine Mutter angerufen hat, nachdem man mich bei der Razzia in dem Bordell mitgenommen hat“, kann ich mich urplötzlich sogar an den genauen Wortlaut erinnern: „Wir haben Ihre Tochter.“
„Oh, Mann, hört es denn nie auf?“
„Nicht, wenn ich es nicht selbst in die Hand nehme. Denn die – egal ob die Staatsanwaltschaft, die Polizei oder sonst wer – sind nur an ihrem Ding interessiert. Was mit uns passiert, ist ihnen egal.“
3.2
Der Staatsanwalt ist bei meinen Chefs nicht beliebt und das liegt tatsächlich an seiner ausnahmslos gesetzeskonformen Vorgehensweise. Auch unsere Kanzlei hat schon ein paar Gerichtsverfahren verloren und die meisten dieser Niederlagen gingen auf seine Kappe.
„Verdient“, bemerkt Dr. Schirner, der eine Chef, der sich damals auf Wunsch seiner Frau des betrogenen Friseurs angenommen hat.
Die durchgehend positive Kritik des Staatsanwaltes und die Erinnerung an das abgeschiedene Domizil des Celebrity-Coiffeurs bringen mich gleich auf zwei Ideen. Die erste setze ich direkt um und kündige mich für ein Treffen bei ihm an.
Bei dem Staatsanwalt und auch bei dem Friseur.
Dr. Dr. Patrik Wiese legt mir die Kopien von einigen Dokumenten in die Hände und wartet ab, bis ich mit dem Lesen fertig werde.
„Hatten Sie Kontakt zu Ihren Großeltern?“
„Ph, ich hatte kaum Kontakt zu meiner Mutter … Warum, glauben Sie, ist das aus mir geworden, was ich … Sie wissen schon“, beende ich die Erklärung gleich wieder.
„Waltraud und Wladimir Jakl waren schon mal verheiratet. Phalke war Waltrauds Sohn aus erster Ehe und Ihr Vater …“
„Stiefbrüder?“, bläht sich mein Alptraum unerwartet bis in eine ungeahnte Dimension auf. „Verdanke ich diesen ganzen Mist etwa meinem eigenen Vater?“, versuche ich mich an die Umstände zu erinnern, als er aus meinem Leben verschwunden ist. Aber die Erinnerungen sind wie ein verdünnter Kaffee – sehr trüb. „Ich fasse es nicht!“
Mein ganzes Leben … Alles, was ich jemals für bedeutend hielt, steht mit einem Mal kopf oder löst sich allmählich in Luft auf.
Ich hebe den Kopf von den Unterlagen und sehe ihm auffordernd ins Gesicht. „Ich will alles über ihn wissen. Alles, was Sie irgendwie in Erfahrung bringen können.“
„Helfen Sie uns dann?“
„Nein. Aber Sie können mir helfen“, entscheide ich resolut.
3.3
„Was … was willst du jetzt tun?“, kommt mir Alex in die Küche nach, nachdem er Felix ins Bett gebracht hat.
„Nicht umziehen“, drehe ich mich vor der Spüle um und sehe ihn an. „Ich will endlich Wurzeln schlagen“, stehe ich den Tränen nah.
Die Geburt ist zwar schon eine Weile her und meine Hormone haben sich bestimmt auch längst beruhigt, aber ich bin immer noch nah am Wasser gebaut. Vielleicht liegt es wirklich nur daran, dass ich endlich mein Glück gefunden habe und man es mir wieder aus den Händen reißen will.
„Du … du denkst doch nicht allen Ernstes nach mitzumachen?“
„Ich sehe keine andere Möglichkeit, um zur Ruhe zu kommen.“
„Alex!“, fährt er mich an, wie er es noch nie getan hat und ich kann ihn nicht mal mit einem Pst und zum Kinderzimmer deutend zur Ruhe ermahnen. „Ein Mal – wenn du dich nur einmal anfassen lässt, bin ich weg. Und … Und Felix nehme ich mit!“
Auch wenn ich weiß, dass hierzulande kein Gericht ihm alleine unseren Sohn zusprechen wird, halte ich ihn für den besseren Elternteil von uns beiden. Aber nicht nur deshalb schweige ich ihn an.
„Alex!“, knurrt er noch einmal.
„Ich muss nachdenken.“
„Nachdenken?“
„Und noch ein paar weitere Erkundigungen einholen.“
„Und …?“, neigt er den Kopf mit der Stirn voran vor, als wollte er mich einschüchtern.
„Und – ich habe dich gehört. Klar und deutlich“, krame ich in Gedanken bereits die verstaubten Kontakte aus.
3.4
„Echt jetzt? Habe ich dir meinen Standpunkt nicht deutlich genug klar gemacht?!“, brüllt er mir hinterher, während ich den Maxi-Cosi zu unserem Wagen trage, den ich ausnahmsweise am Straßenrand abgestellt habe.
Einen Streit in der Garage würde nämlich kaum jemand mitbekommen.
„Jetzt schrei nicht so herum – was sollen die Leute denken?!“, sehe ich mich mit Absicht nicht um und schnalle die, mit einer bunten Windel abgedeckte Schale am Beifahrersitz an. Erst danach hebe ich den Kopf der Sonne entgegen und zupfe daraufhin die Windel über die Ränder, um für ausreichend Schatten zu sorgen.
„Alex!“, kreischt er hysterisch, ohne aus dem Haus herauszukommen.
„Wie oft willst du noch umziehen? Alle zwei Monaten – oder alle zwei Wochen? Er hat versprochen, dass wir danach endgültig Ruhe haben werden …“ Das hat dieser ominöse Luis tatsächlich getan, aber wie in alle meine bisherigen Pläne, weihte ich auch in diesen niemanden ein. Hauptsächlich deshalb, weil ich weiß, dass ich mich womöglich selbst nicht lange an ihn halten werde.
„Ich hoffe, du weißt, was du tust …“, sagt er bedeutend leiser.
„Vertraue mir … bitte“, würde ich ihm am liebsten um den Hals fallen, aber alleine deshalb, weil ich immer noch neben dem Wagen, direkt vor dem Gartentor stehe und er gute zehn Meter von mir entfernt ist, tue ich es nicht.
Ach ja, und all die, die in ihren Wägen sitzen und so tun, als wären sie gerade eingestiegen und würden ihre Navis programmieren – sind der andere Grund dafür.
„Verdammt, ich liebe dich, Alex“, runzelt er die kahle Stirn.
„Ich weiß …“, wende ich mich endgültig ab, laufe um den Wagen herum, steige ein und fahre los.
Meine Anspannung ist so groß, dass ich mir mehrmals beim an-der-Lippe-Kauen versehentlich in die Zunge beiße, weil mir der Plan, an dem ich seit Wochen getüftelt habe, plötzlich so unterirdisch schlecht vorkommt.
Alex denkt, dass ich mich mit Luis treffen will, um weitere Einzelheiten zu besprechen, und Luis wartet darauf, dass ich ihm Alex und Felix liefere, um sie an einem sicheren Ort unterzubringen. Und ich? Ich parke den Wagen in der Tiefgarage eines Shoppingcenters, um mir mit meinem Sohn ein paar Babyklamotten anzusehen.
Felix bekommt von dem Angebot nicht viel mit, weil ihn das Schaukeln in den Schlaf gewogen hat und so decke ich die Schale wieder mit der Windel ab, damit ihn das grelle Licht nicht weckt. Dann stelle ich den Babysitz auf dem Boden ab, um mir den zuckersüßen Strampler besser ansehen zu können.
Mit einem Arm, vollbehangen wie eine Kleiderstange, begebe ich mich schließlich zur Kassa. „Ich müsste noch etwas erledigen. Kann ich es kurz zurücklegen lassen?“
Die junge Frau nickt und legt mir einen Stift mit einer Karte vor, damit ich eine persönliche Notiz darauf schreibe.
Bei den Klamotten handelt es sich um Einzelstücke und das Geschäft kämpft weniger mit dem Problem, auf den zurückgelegten Sachen sitzen zu bleiben, als, dass man sie einem hinter dem Rücken einzeln wegkauft, was bei der Kundschaft für miese Laune und im Internet für schlechte Bewertungen sorgt.
„Danke“, hebe ich die Mundwinkel an, ohne wirklich zu lächeln, und verlasse den Shop, um mir in dem kleinen Rohkostlädchen auf der anderen Seite der Mole einen frischgepressten Möhrensaft zu kaufen.
Während ich an dem Strohhalm aus recyceltem Altpapier sauge und mit dem Fuß die Schale wippe, schicke ich meinen Blick durch die Wände aus Glas in den Klamottenladen zurück und betrachte das turtelnde Männerpaar mit einem Kleinkind im Arm, das gerade an der Kassa meine Auswahl bezahlt und sich diese in eine Papiertasche einpacken lässt. Die Kassiererin fragt etwas und nachdem ihr der Mann mit dem Baby im Arm antwortet, sie, als Geschenk des Shops, eine rosa-grün gestreifte Rassel zu den Klamotten in geschlechtsneutralen Farben dazulegt.
Die Männer verlassen daraufhin den Laden und das erinnert mich daran, dass ich mich ebenso auf den Weg machen muss.
*
Zuerst sieht es so aus, als hätte ich den Aufwand umsonst betrieben. Doch schon ein paar Straßen weiter bemerke ich gleich mehrere Wägen, die offensichtlich den gleichen Weg haben wie ich.
Ich reihe mich in die Spur der Auffahrt zur Autobahn ein und beschleunige, denn die langwierige Baustelle wurde am Vortag aufgelöst und der Verkehr ist endlich flüssig genug für die erlaubte Höchstgeschwindigkeit.
Nachdem ich auf die vierspurige Fahrbahn hinauf rolle, holt mich einer der Verfolger rasch ein. Ehe er die gleiche Höhe erreicht, drehe ich das Radio leiser, um mich besser konzentrieren zu können. Dann blicke ich kurz zu der Babyschale, aus der kein Babygebrabbel zu hören ist und ebenfalls keine herumstrampelnden Füße hinaus ragen. Als ich meinen Blick wieder auf die Straße richte, bemerke ich aus dem Augenwinkel den Lauf einer Waffe, worauf ich wie ferngesteuert das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrete.
Es passiert mir nicht zum ersten Mal, dass jemand auf mich zielt. Aber während ich zumindest denke, im Freien aus einer solchen Situation halbwegs unbeschadet entkommen zu können, fühle ich mich im Wageninneren, als hätte man mich auf eine Zielscheibe festgeschnallt.
Und da knallt es auch schon.
Ich spüre keinen Schmerz. Der Wagen lenkt jedoch plötzlich, und zwar ohne mein Zutun, nach links und nachdem ich dem Combi neben mir gefährlich nahe komme, reißt mir eine unbekannte Kraft das Lenkrad aus den Händen, dreht es bis zum Anschlag in die entgegengesetzte Richtung und schiebt meinen Wagen zu der durchgehenden Linie vor dem Brückengeländer.
Mit aller Kraft lenke ich dagegen, als ein zweiter Schuss ertönt und mein Auto daraufhin durch das Geländer bricht.
Die Schrecksekunde kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Der Wagen fliegt zuerst ein paar Meter geradeaus weiter, dann fängt er an vornüber in die Tiefe zu sinken. Erst als ich die dunkle, gewellte Wasseroberfläche auf mich zurasen sehe, überwinde ich endlich die Schockstarre und will nach meiner Handtasche greifen, die vor dem Beifahrersitz auf der Fußmatte liegt.
„Vergiss es!“, kommt mein Hirn endlich in die Gänge. Ich schnalle mich ab und öffne das Fenster. Dann ziehe ich die Windel vom Kindersitz und betrachte die leere Schale mit dem offenen Gurt.
Der Aufprall drückt mich gegen den Sitz und dann läuft auch schon das kalte Wasser herein.
3.5
Keuchend und röchelnd robbe ich das steinige Flussbett hoch und verkrieche mich in dem Gebüsch. Ich würge, lache hysterisch und heule zugleich …
„Nicht ganz mein Plan, aber – es hat geklappt“, kann ich den Zufall und vor allem mein Glück nicht fassen.
Mein Plan sah eine Verfolgungsjagd vor, die ich hinaufbeschwören wollte und die misslingen und tatsächlich mit dem Versenken des Wagens im Strom enden sollte. Allerdings erst auf der nächsten Brücke, unter der keine Schiffe verkehren.
Dass man auf mich in der Öffentlichkeit schießen würde, damit rechnete ich wahrlich nicht.
Ich denke an Alex, der darauf vertraut, dass das Vorhaben, von dem ich ihm nichts verraten wollte, gelingt. Und dann denke ich tatsächlich auch noch kurz an Luis, der auf der nächsten Raststation wartet.
Gleich von mehreren Seiten erreicht mich das Martinshorn. Nicht ganz ladylike spucke ich noch einmal ins Gras, dann breche ich auf, um den nächsten Punkt meines waghalsigen Vorhabens umzusetzen.
3.6
Die Tränen laufen mir in Strömen die Wangen runter und vor lauter Schluchzen bekomme ich kaum Luft, als man während der Fernsehnachrichten live zu den Bergungsarbeiten schaltet und die Kamera Alex zeigt, der am Ufer halb wahnsinnig vor Sorge auf- und abläuft.
Um nicht selbst wahnsinnig vor Trauer und Sehnsucht zu werden und meinen Plan ebenfalls nicht jetzt schon gegen die Wand zu fahren, schalte ich den Fernseher ab und setze mich an den Schminktisch, denn genau das sieht der nächste Punkt auf meinem Plan vor.
Als ich zwei Stunden später an die schwarz lackierte Tür in einem dunklen Hinterhof klopfe, zittern meine Hände immer noch. Der Schock sitzt mir tiefer in den Knochen, als ich erwartet hätte und vor allem – als mir lieb ist. Den Termin habe ich allerdings schon vor Wochen vereinbart und dieses Studio war nicht die erste Stelle, bei der ich angefragt habe. Allerdings die einzige, von der ich eine Einladung erhalten habe und nur deshalb stehe ich hier, anstatt mich sonst wo zu verstecken und im Selbstmitleid zu zergehen.
Die Tür geht auf und mir steht plötzlich ein nackter, bierbäuchiger Typ in einer Frauen-Harness, mit einer Schweinemaske und einem Peniskäfig gegenüber.
Ich schicke die saure Blase wieder die Kehle hinunter und nachdem er auf den Absätzen, die genauso hoch sind wie meine, gekonnt zur Seite springt, um mir den Weg freizumachen, steige ich die paar Stufen hinauf und betrete die knallrot tapezierten Räumlichkeiten.
„Du, Sau, wieso dauert das so lange?“
Mich durchfährt ein Blitz, denn vor nicht allzu langer Zeit gehörten Kosenamen dieser Art zu meinem Alltag.
„Coco?“, kommt mir eine Frau im Jagdoutfit aus dem hintersten Raum entgegen.
„Mistress Coco“, entgegne ich streng und zaubere ihr damit ungewollt ein breites Grinsen ins Gesicht.
„Eine Rute in der Hand macht aus dir noch lange keine Mistress. Und du hast ja nicht mal eine in der Hand, Schätzchen“, belehrt sie mich.
„Ich kann aber mit einer umgehen“, presche ich vor.
„Du, Sau …!“, ruft sie den Mann zu sich. „Dann zeig mal!“, überreicht sie mir ihre und ich finde mich plötzlich vor einer unverhofften Herausforderung, denn – es fällt mir schwer. Diese Geilheit, die der Mann in Erwartung der Hiebe an den Tag – oder mehr an die Nacht – legt, ist mir vollkommen neu.
Gekonnt biege ich das dünne Holz zwischen meinen Händen in einen perfekten Bogen und zeichne ihm schließlich einige tiefrote Striemen auf den Rücken und Po.
Streifenhörnchen – hätte ich beinahe gerufen.
Die paar Monate als Mutter haben in meiner Ausdrucksweise deutliche Spuren hinterlassen.
„Streifen-Sau“, bringt sie es auf den Punkt und für mich hat es zu bedeuten, dass das Eis gebrochen ist und ich mich entspannen kann, was sich hoffentlich auch positiv auf das Zittern meiner Hände auswirkt.
„Überleg dir einen anderen Namen. Coco klingt nach einer Pornodarstellerin“, belehrt sie mich und ich verkneife mir mit Absicht meine Meinung zu ihrem Namen.
Was ich hier mache? Ich hoffe, dass Princess Bella mich unter ihre Fittiche nimmt. Ich brauche dringend Kohle. Da mein Absturz – zwar nicht in Begleitung von Schüssen, aber dennoch beabsichtigt war, konnte ich vorher schlecht unser gemeinsames Konto plündern, um diesen Plan finanzieren zu können. Und weil alle – Alex inklusive – mich für tot halten sollen, kann ich auch jetzt nicht mit der Karte bei einem Automaten Geld abheben. Zudem habe ich – um keine Zweifel an einem Unfall entstehen zu lassen – die Handtasche in dem Wagen liegen gelassen.
Meine Geldsorgen sind jedoch nicht der einzige Grund meiner Anwesenheit. Es gibt schließlich zig andere Möglichkeiten, um Geld zu verdienen. Laut meiner Recherche treibt sich mein Vater in solchen Etablissements herum und dem will ich auf den Grund gehen und ihm auf den Zahn fühlen …
3.7
In frühen Morgenstunden senden sie immer noch Aufnahmen von der Unfallstelle. Alex ist weiterhin vor Ort, aber diesmal empfinde ich ihn nur noch als einen Statisten. Das lässt mich im ersten Moment erschaudern, als ich mir dessen bewusst werde, doch ich beruhige mich gleich wieder und konzentriere mich auf die Auswertung meiner Nachforschungen, die ich noch von meinem Büro in der renommierten Anwaltskanzlei aus betrieben habe und die ich mit der Kanzleipost hierher schicken ließ.
Am Ende stehe ich wieder am Anfang. Sämtliche Spuren verlaufen in nichts. Die Namen, die ich in Erfahrung brachte, sind allesamt nutzlos. Alle haben zwar genug auf dem Kerbholz, aber sogar Luis hätte jetzt gesagt – es sind alles nur kleine Fische. Ihnen zu folgen, bringt mich weder den größeren näher noch kann ich sie als Köder nutzen, um den ganz großen zu fangen.
Wie Luis konnte auch ich nichts über die Frau in Erfahrung bringen, die angeblich das Zepter von den Toten übernommen hat. Carmen Fox war allerdings süchtig nach Publicity und nur das hält mich davon ab, zu denken, dass auch sie ihren Tod hätte inszenieren können, um in Ruhe die Geschäfte weiter zu führen.
Als ich vor über einem Jahrzehnt anfing nach Dalibor zu suchen, stand mir weit mehr zur Verfügung. Nicht nur weit mehr Geld – vor allem mehr Informationen.
„Ich habe echt nichts“, schiebe ich all die Notizen, Ausdrucke und Fotoabzüge vom Bett und krieche unter die Bettdecke, nachdem ich sie zuvor auf Wanzen und anderes Ungeziefer abgesucht habe.
3.8
Schnell fand ich raus, dass Reden und vor allem Schimpfen nicht mein Ding ist. Ein eigenes Studio kann ich mir im Augenblick nicht leisten. Princess Bella hat mich zwar einwandfrei unterwiesen und mir sogar das Angebot gemacht, für den Anfang ihre Räumlichkeiten an ihren freien Tagen nutzen zu dürfen …
Da ich ihren Fragen nicht weiter Antwort stehen will, lehne ich dankend ab.
Ich spucke das Wasser zurück ins Glas und drehe den Fernseher lauter.
„In frühen Morgenstunden hat ein Gassigeher den enthaupteten Körper einer Frau am Ufer angeschwemmt vorgefunden. Man geht davon aus, dass es sich dabei um Alexandra Gerin handelt, die vor zwei Monaten mit ihrem acht Monate alten Sohn mit dem Wagen verunglückte. Von dem Kleinkind fehlt nach wie vor jede Spur. Alles deutet darauf hin, dass die Mutter bei dem Versuch, sich und ihr Baby aus dem versunkenen Wagen zu retten, in eine Schiffsschraube geraten ist. Ebenso wird vermutet, dass das Kleinkind wegen des geringen Gewichtes von der Strömung fortgetragen wurde und womöglich nie gefunden wird.“
Ich starre den Bildschirm mit großen Augen und offenem Mund an.
„Der Vater möchte nicht mehr länger warten und so wird bei dem Begräbnis ein leerer Sarg zu Grabe getragen.“
„Schöne – Kacke!“, achte ich weiterhin auf meine Ausdrucksweise.
Mir war nicht klar, wie schwierig es sein würde, ein Plan für drei statt einer Person auszuarbeiten.
3.9
Mein Vorhaben ist noch nicht einmal richtig in die Gänge gekommen und ich weiche schon wieder von dem roten Faden ab. Aber ich muss Alex sehen – mich davon überzeugen, dass es ihm gut geht und so schlurfe ich ein paar Tage später durch die Gänge zwischen den Gräbern, noch ehe die Beerdigung angefangen hat.
Meine Güte, staune ich, Alex hat mehr Freunde, als es Männer gab, durch derer Hände ich in der Vergangenheit gereicht wurde!, bestaune ich die langsam wachsende Menschenansammlung.
Das Alleinsein machte mir früher nichts aus, doch plötzlich habe ich Angst vor dem Altwerden und empfinde die Einsamkeit, die ich vor der Zeit mit Alex sogar genossen habe, als schrecklich und vor allem – erbärmlich.
Der Pfarrer hält sich kurz, die Freunde legen die mitgebrachten Blumen neben das ausgehobene Doppelgrab und nachdem Alex sie verabschiedet, weil er noch länger bleiben möchte, ziehen sie in kleinen Gruppen davon. Nur seine Eltern bleiben noch und als ich schon glaube, dass sie sich endlich aussöhnen und ihn sogar dazu auffordern, wieder bei ihnen einzuziehen, platzt es aus seinem Vater heraus: „Ist eh besser so. Du bist die Verpflichtung los, kannst von vorne beginnen und es endlich richtig machen.“
„Puh“, entgeht mir, zwar leise, aber dennoch ungewollt.
„Du bist echt – das Allerletzte!“, spuckt ihm Alex entgegen, während sich der adrett gekleidete Mann noch über die geohrfeigte Wange streichelt. „Hätte ich gewusst … Hätte ich geahnt, dass du etwas derart Geschmackloses sagen würdest, hätte ich dich nicht mal benachrichtigt. Verschwinde!“
„Hast du das von ihr? Dieses unmögliche Verhalten?“, fährt ihn sein Vater an.
„Unmöglich? Meine Frau liegt noch nicht mal richtig unter der Erde und hast kein einziges schöne Wort für sie übrig!“
Meine Frau!, werden meine Augen feucht und ich muss mich echt anstrengen, um nicht die aufwändige Schminke zu ruinieren.
„Schön?“, er deutet zu dem Haufen Erde, der sich neben dem Doppelgrab türmt. „Schön!“
Es knallt ein weiteres Mal, aber dabei bleibt es nicht, denn Alex springt ihn regelrecht an, doch seine Mutter geht dieses Mal dazwischen.
„Martin, wenn du dich nicht augenblicklich entschuldigst, reiche ich die Scheidung ein.“
„Was?!“, lacht er.
„Jetzt sofort!“, entgegnet sie so resolut, dass nicht nur die zwei Männer überrascht gucken. Auch ich komme aus dem Staunen nicht raus.
„Ich wüsste nicht, wofür.“
„Gut – ich habe die Nase gestrichen voll …“, begibt sie sich in Richtung des Ausgangs.
„Wo gehst du hin?“, ruft er ihr hinterher, aber da sie sich weder umdreht, noch stehen bleibt, eilt er ihr rasch hinterher.
Alex geht ein paar Mal auf und ab, lässt sich dann auf die andere Bank nieder und legt seinen Kopf in die Hände.
Das bleibt eine ganz lange Zeit so und als ich den Entschluss fasse, mich langsam auf den Heimweg zu machen, betritt das nächste Gespann die Szene.
Sie kommen aus unterschiedlichen Richtungen. So, wie es scheint, ohne sich abgesprochen zu haben, denn der Schrecken, den ihnen die zufällige Begegnung ins Gesicht schreibt, ist sogar aus der Ferne deutlich zu erkennen.
Gerade jetzt wünsche ich mir, ein paar gewaltige Schimpfwörter parat zu haben, aber mir fällt kein einziges ein.
Und sogar Alex hebt den Kopf und sieht ihnen entgegen, bis sie schließlich direkt vor seiner Nase aufeinandertreffen.
Ich bin mir sicher, dass er nicht weiß, um wen es sich bei den beiden handelt, auch wenn er den Mann ganz kurz zwei Mal hintereinander auf einem Foto gesehen hat.
Gespannt warte ich, was passiert …
„Oh, Gott, mein Kind! Wieso?“, wirft sie sich zu Fuße der Grube auf die Knie und fängt an hysterisch zu jaulen.
„Jetzt reiß dich zusammen“, zieht er sie am Arm hoch.
„Das alles wäre nicht passiert, wärst du bei uns geblieben!“, dreht sie sich urplötzlich zu dem Mann mit einer Kopfbedeckung, die er schon damals trug, als ich noch klein war, um und schlägt ihm mit den Fäusten auf die Brust.
„Wäre ich geblieben, lägst du schon längst dort drin!“, versucht er, die Schläge abzuwehren.
„Hört auf, verdammt, hört auf!“, springt Alex auf und läuft auf sie zu, und zwar so schnell, dass ich schon denke, er würde sie in das tiefe Loch hinein stoßen. „Wo seid ihr die letzten Jahre gewesen? Ihr habt keine Ahnung, was sie durchgemacht hat und jetzt wollt ihr euch die Köpfe einschlagen? Bitte – aber wo anders! Gönnt ihr endlich die Ruhe, die sie verdient hat!“
„Und – wer sind Sie?“, fragt meine Mutter, gewohnt theatralisch und affektiert.
„Ich … Alex ist … war meine Frau“, sagt er bereits zum zweiten Mal und mir dämmert langsam, wie wichtig ihm all die Heiratsanträge waren.
Ich hole einen Stift aus meiner altbackenen Handtasche und ebenso einen kleinen Zettel, dann schreibe ich ein paar Zeilen darauf. Anschließend stehe ich auf und mache mich endlich auf den Heimweg.
Die Vorstellungen waren zwar alle sehenswert. Ich befinde mich jedoch kurz davor einzuschreiten und damit würde ich an dieser Stelle nicht nur meinen ganzen Plan zunichtemachen, sondern womöglich auch noch Alex’s Liebe verspielen.
„Sie hat geheiratet? Reicht es nicht, dass ich aus einer Zeitung erfahren musste, so jung zur Oma gemacht worden zu sein? Sie hat mich nicht mal zur Hochzeit eingeladen – alles nur deine Schuld! Es hat eben der Mann zuhause gefehlt, der ihr Manieren beigebracht hätte!“, greift sie ihn von neuem an.
„Hast du sie etwa deshalb verkauft?!“, erwähnt er etwas, das mich beinahe zum Anhalten bringt.
Während ich überlege, was ich mit dieser Aussage anfangen soll, schüttelt Alex nur mit dem Kopf und begibt sich in meine Richtung, um wahrscheinlich selbst die Flucht zu ergreifen, denn es reicht wahrhaftig an Vorwürfen.
„Oh“, rutsche ich mit dem Gehstock aus und stelle ihm damit ein Bein, sodass er stolpert und beinahe stürzt.
„Entschuldigung“, krächze ich, versucht, ihn aufzufangen, was mir, angesichts meines vorgetäuschten Alters, natürlich nicht gelingt. Dies ist jedoch die einzige Möglichkeit, ihm unbemerkt die Notiz zuzustecken.
„Nichts passiert“, richtet er sich umgehend wieder auf und geht ein paar Schritte weiter, als er unerwartet stehen bleibt und sich umdreht. Mir wird bange, denn es sieht so aus, als hätte er mich unter den Schichten Schminke, der Perücke und künstlicher Körperfülle, die ich unter dem altmodischen Kleid trage, erkannt. „Haben Sie es weit? Darf ich Sie irgendwo hinbringen?“
„Danke, junger Mann. Ich muss nur zum Bus.“
„Das ist auch ein gutes Stückchen. Kommen Sie, nach all dem Streit tut eine gute Tat auch mir gut.“
Ich hätte beinahe die Augen verdreht, denn Alex mutiert vor meinen Augen zum Helden und befördert mein schlechtes Gewissen ins Unermessliche.
„Ich weiß nicht“, krächze ich weiter, denn die Lösung, die ich für die Fälle gegurgelt habe, dass ich mich äußern müsste, hält, was sie versprochen hat.
„Ich bin anständig“, setzt er dem Ganzen eine Krone auf und ich komme gerade so um das Lachen herum.
Er bietet mir seinen Ellenbogen an und ich hänge mich ein, dann passt er sich meinem Tempo an und schlurft mit mir gemeinsam zum Friedhofsausgang.
Auf dem Parkplatz erkenne ich den Wagen, mit dem ich einige Male verfolgt wurde. Ich ordne ihn meinem Vater zu. Neben dem Auto, das Alex gehört, steht hier noch ein Taxi mit laufendem Motor und ich frage mich, ob meine Mutter etwa meinetwegen so tief in die Tasche greift, denn sie hatte noch nie Geld für ein Taxi übrig.
Plötzlich frage ich mich, ob meine Mutter all die Jahre wusste, dass mein Vater lebt und auch, wo er lebt und was er macht und sie mich in frühen Jahren anlog, als ich etwas über ihn wissen wollte. Dann wiederum kommt mir der Vorwurf meines Vaters in den Sinn und ich sehe vor meinem geistigen Auge erneut dieses eine Foto, auf dem ich den Zettel in der Hand halte, auf dem – meine Seele für deine Liebe – geschrieben stand.
„So – bitte sehr“, öffnet er die Tür und damit auch meinen Geist wieder für das Hier und Jetzt. Ich lasse mir helfen, denn mit bandagiertem Knie und einem Gehstock ist das Einsteigen echt eine Herausforderung.
Alex setzt sich hinter das Lenkrad und fährt los.
Wir schweigen den kurzen Weg, denn die Bushaltestelle ist im Nu erreicht.
„Wie …?“, stelle ich mich dumm an.
„Einen Moment“, neigt er sich bis zu meiner Tür, um sie zu öffnen. Ich neige mich ebenfalls vor und dann passiert das Unvermeidbare – ich setze ihm wie durch Zufall einen Kuss direkt auf den Mund. Während er vor Schreck erstarrt, schaffe ich es unter Stöhnen und Ächzen aus dem Wagen heraus. Ich schlurfe die paar Meter zu der Haltestelle, denn der Bus kommt genau in diesem Moment an, und ich habe keine Lust auf den nächsten zu warten, der sich erst in einer geschlagenen Stunde sehen lässt.
Alex kommt zu sich und kramt in seinen Hosentaschen nach einem Taschentuch, um sich die Spuren von den Lippen abzuwischen.
Der Busfahrer verlässt seinen Platz, um mir die Stufen hinauf zu helfen, und nachdem ich den Aufstieg endlich geschafft habe, blicke ich durch die große Frontscheibe und entdecke, dass er statt einem Tuch meine Notiz gefunden hat.
Alex liest die paar Zeilen und schaut durch die Heckscheibe des Wagens zu dem Bus.
Der Fahrer wartet, bis ich neben dem Fenster Platz nehme, dann schließt er die Türen und fährt los. Als wir an dem Wagen vorbeifahren, dreht sich Alex um und sieht mir nach, bis wir uns aus dem Blick verlieren.
Ich schließe die Augen und erinnere mich daran, wie meine Hand vor Aufregung gezittert hat, als ich geschrieben habe: Felix geht es gut. Ich liebe dich!
Wahrscheinlich stellt er sich gerade dieselbe Frage, mit der ich mich seit dem Abend beschäftige, an dem ich von der Beerdigung in den Nachrichten gehört habe: „Wer ist die Frau in dem Sarg?“
3.10
„Du kommst reichlich spät“, nehme ich den Mann in Empfang, der mit einem großen Stoß an Unterlagen soeben durch die Tür des Konferenzraumes kommt.
„Verzeihung. Die Auswertungen haben länger gedauert, als ich gedacht habe.“ Er stößt mit dem Fuß die Tür zu und nähert sich langsam dem langen Tisch, an dessen Kopfende ich sitze.
Ich nehme die Brille von der Nase runter und stecke mir den linken Bügel zwischen die kirschroten Lippen. Mit halb zugekniffenen Augen sehe ich ihm zu, wie er den Stapel bis zu meinem Platz balanciert, ehe er ihn neben meinem Laptop abstellt und die Hände, mit den Handflächen nach oben, darauf legt.
Ich beende meine Recherche, schalte das Gerät ab und klappe es zu. Dann stehe ich auf und mache einen Schritt hinter dem Tisch hervor und auf den Mann zu.
Sein Blick ist gesenkt, jedoch nicht auf den Stapel gerichtet. Auch nicht auf mich, sondern auf das Utensil, das ich mit vielem anderem Arbeitsmaterial mit in dieses Gebäude brachte und das nun auf dem Tisch liegt.
Ich nehme es in die Hand.
So langsam ich es hochhebe, so schnell schlage ich damit zu.
Er kneift die Augen zu, zieht die Stirn in tiefe Falten, legt den Kopf weit in den Nacken und holt tief Luft, ohne die Hände von dem Stapel zu nehmen.
Der rote Strich, den ihm die Gerte auf den Handflächen hinterließ, verblasst in Zeitlupe.
„Ich mag keine Verspätungen.“
„Verzeihung, Miss …“
„Mistress“, schlage ich erneut zu.
Dieses Mal saugt er seine Lippe zwischen die Zähne und brummt leise.
Ich lege die Gerte auf seinen Handflächen ab, nehme die Karte, die mit einem Clip an seinem Hosenbund befestigt ist und ziehe sie ab. Dann gehe ich Hüften schwingend zur Tür und lege die Karte kurz auf das Identifizierungsterminal.
„73JK“, verrät mir der Mann auch ohne Aufforderung.
Das Schloss wird automatisch aktiviert. Die Jalousien lasse ich mit einem Tastendruck hinunter fahren.
„Hinknien!“
Er folgt umgehend, ohne die Gerte aus den Händen weg zu legen.
Ich bleibe neben der Tür stehen und betrachte ihn einmal ausgiebig. Der Anblick ist schon besonders. Ein Mann, der um einen guten Kopf größer ist als ich, gut durchtrainiert, mit gleich zwei Doktor-Abschlüssen, kniet meinetwegen, kaum merkbar zitternd, auf dem Bodenbelag des Konferenzraumes eines großen IT-Unternehmens.
Ich komme auf ihn zu, gehe neben ihm in die Knie, spreize diese dabei so weit, dass nur ein Blinder dem Drang widerstehen könnte, mir nicht, zumindest aus dem Augenwinkel, in den Schritt zu schauen. Zu sehen bekommt er nichts, außer dem glänzenden Latex, in den mein Körper von den Zehenspitzen bis zum Kinn verhüllt ist.
Dennoch seufzt er schwer und erzittert nun deutlich sichtbarer.
Ich stecke meine Hand in seine Sakkotasche und hole das dicke Bündel Geld heraus, das er bei sich trägt und das für mich bestimmt ist.
So, dass er es sehen kann, zähle ich flüchtig die Scheine durch. Erst dann richte ich mich auf, gehe zu meinem Laptop und lege die Kohle in die Aktentasche. Anschließend hole ich aus dieser ein weiteres Utensil, einen schmalen Ledergürtel, heraus und kehre zu ihm zurück. Ich lege ihm diesen um den Hals, ziehe das lose Ende durch die Schnalle hindurch und schnalle ihn so eng, dass er kaum schlucken kann, aber dennoch ausreichend Luft bekommt.
Kaum spürt er den Druck auf dem Adamsapfel, unterliegt er dem Drang, ununterbrochen zu schlucken. Ich habe schon die Erfahrung gemacht, dass er damit den ganzen Abend zu tun haben kann. Dennoch habe ich nicht vor, etwas daran zu ändern.
Ich nehme ihm die Gerte aus den offenen Händen und schlage mit ihr einmal kräftig auf den Tisch. Er zuckt bei dem lauten Knall und ich kann ihm von der gerunzelten Stirn ablesen, dass er befürchtet, man könnte dies hinter der versperrten Tür hören. Manche der Büros im Stock sind noch besetzt. Zahlreiche seiner Angestellten laufen durch die Gänge: zum Kopierer, Drucker, oder, um sich beim Automaten einen Kaffee zu holen.
„Leck sie!“
Er wirft sich umgehend auf alle viere, senkt den Kopf und streckt die Zunge weit hinaus. Zaghaft nähert er sich meiner Schuhspitze. Dann stockt er für einen ewig langen Moment, ehe er sich noch tiefer vorbeugt, und damit beginnt, meinen Schuh sorgfältig abzulecken.
Seine Unsicherheit ist mit Garantie auf die Spiegelung zurückzuführen. Mit Absicht habe ich diese Schuhe gewählt. Nicht nur wegen ihrer hohen Absätze, auch wegen der spiegelglatten, auf Hochglanz polierten Oberfläche.
Nur kurz sehe ich ihm zu, prüfend, ob er sich auch Mühe gibt. Dann schicke ich meinen Blick durch die bodentiefen Fenster zu der, in die untergehende Sonne getauchten, Skyline. Nebenher mache ich meinen Gürtel auf und nehme ihn ab. Das enge Catsuit hat eine Korsage eingearbeitet, die mir auch ohne einen zusätzlichen Gürtel eine enge Wespentaille verleiht.
Ein Mal rolle ich den Gürtel zu einer Schnecke zusammen. Dann entziehe ich ihm den Schuh.
Verunsichert sieht er ihm hinterher.
„Zieh dich aus!“
Während er kniet, zieht er sich das Sakko aus. Als er es über die Stuhllehne legen möchte, stoße ich den Stuhl mit dem Fuß um.
„Der Boden ist gut genug für dich.“
Mir fällt auf, wie ihm ein Lächeln über das Gesicht springt.
Er wirft das Sakko auf den Boden und fährt mit dem Entkleiden fort. Der Krawatte folgt das Hemd und danach das Unterhemd.
„Weiter!“, ermahne ich ihn, als ich merke, dass er glaubt, aufhören zu können.
Diesmal ist ihm anzusehen, dass er sich knapp an seiner Grenze bewegt.
Da dies nicht zu den Dingen gehört, auf die ich laut Absprache Rücksicht nehmen soll, warte ich, mit dem Schuh am Boden klopfend, bis er sich komplett entkleidet.
Die Schnalle fest in der Hand, hole ich aus. Mit lautem Sausen löst sich die Spirale auf und der Gürtel landet, der ganzen Länge nach, auf seinem nackten Rücken. Die zurückgebliebene Spur reicht von seiner rechten Pobacke bis zum linken Schulterblatt.
Ein Zischen erreicht mein Gehör. Mir fällt die Anspannung in seinen Armen auf, die bis zu den Fingern reicht. Der Hieb kostet mich viel Kraft, aber dies ist schließlich kein Tête-à-Tête, sondern eine harte Session, die er genau so bei mir bestellt hat.
„Weiter“, ich stelle den Schuh wieder zurück und kaum, dass er mit der Zungenspitze den Schuh berührt, schlage ich erneut zu.
Hinter der mit Jalousien bedeckten Wand ziehen Schritte den Gang entlang. Das Sausen ist laut und ich schlage mit Absicht genau dann, wenn uns die Schritte am nahesten sind.
Der Mann hat Mühe, den Schmerz schweigend zu ertragen.
Sogar die Reinigungsleute sind bereits in ihren wohlverdienten Feierabend gegangen, als ich den Gürtel wieder um meine Taille lege und die Schnalle schließe. Der zusammengekauerte Haufen Mensch am Boden schnieft und schnauft, die Haut auf seinem gewölbten Rücken glüht. Hier und da hat sie den Schlägen nicht standgehalten, Abschürfungen und die ersten Blutergüsse sind zu sehen.
Ich hebe mein Bein an, lege ihm die Schuhspitze unter das Kinn und fordere ihn mit leichtem Druck auf, den Kopf zu heben und den Oberkörper aufzurichten. Nachdem er sich auf die Fersen setzt, nehme ich ihm den Lederriemen vom Hals ab und verstaue ihn gemeinsam mit meinem Laptop und der Gerte in der Aktentasche. Dann ziehe ich mir meine Lederjacke an, setze die Brille wieder auf und begebe mich zur Tür.
Er ist immer noch nackt und ringt nach Luft. Sein Körper ist schweißbedeckt.
Nur noch einmal sehe ich zu ihm rüber, bevor ich die Tür mit seiner Karte wieder öffne.
„Vielen Dank, Mistress …“, flüstert er zwischen den tiefen Atemzügen.
Ich werfe ihm die Karte zu. Sie landet zwischen seinen Knien. Ich wende mich von ihm ab und verlasse den Raum …
Carnivora 3
Carnivora
3. Teil
Novelle
© 2020 Zoe Zander
Carnivora 3. Teil
Novelle
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Covergestaltung: Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Postadresse:
Zoe Zander
Albertgasse 49/12a
1080 Wien
Email: Zander.Zoe@gmail.com
Autorenseite: www.zoe-zander.at
Widmung
an alle, die ihr Interesse bekunden
Wäre ich auf der Suche, würde ich keine Bücher schreiben, sondern eine Annonce aufgeben.
Zoe Zander
Das Buch
Gerade so dem Tod entkommen, findet Alex auch weiterhin keine Ruhe. Je intensiver ihre Suche nach den Verantwortlichen ausfällt, umso näher scheint ihr der Feind zu sein.
Da ihre bisherigen Pläne keine Wirkung zeigten, ergreift sie nicht nur ungewöhnliche Maßnahmen – sie nimmt auch die Peitsche selbst in die Hand.
Mehr Informationen zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Im Morgengrauen
Um zwei Leben zu retten,
ohne das eigene zu verlieren,
leiste ich einen Schwur.
In fremden Gemächern,
mit Stock und Nadeln,
hinterlasse ich eine Spur.
Mit Schlag der Uhr
rollt so mancher der Köpfe
vor lauter Sorgen.
Denn ich ziehe in den Kampf,
um das Gestern zu beenden,
und zeitgleich für ein neues Morgen.
Nur deshalb ich im Mondschein
tanze auf Messersschneide
den Säbeltanz für meinen Feind.
Und wie der Stern am Himmel,
ziehe auch ich mich erst zurück,
wenn der erste Sonnenstrahl erscheint.
Den ganzen Abend gehe ich
mit Fingerspitzengefühl
im Kugelhagel spazieren,
nur um am frühen Morgen
meine Freiheit endgültig in
deinen Armen zu verlieren.
Zoe Zander
3.1
Es ist die letzte Ampel auf meinem Nachhauseweg. Den Feierabendverkehr hinter mir gelassen, genieße ich die leere Straße und den Blick auf die untergehende Sonne.
Der Wochenendeinkauf klimpert und raschelt in dem Transportkorb im Kofferraum, als könnte er, ebenso wie ich, bereits die Einmündung in unsere Wohnstraße sehen.
Wir sind umgezogen. Nicht zum ersten Mal, aber diesmal bin ich mit der Gegend sehr zufrieden. Unser Sohn, den wir zum Staunen der wenigen Verwandten und Bekannten nicht Alex, sondern Felix benannt haben, kann mit etwas Glück Rehe und andere Tiere auf den Feldern hinter dem Gartenzaun beobachten.
Ich muss zwar früh aus dem Haus, um ins Büro zu gelangen, und Alex ebenso, wenn er zur Uni fährt, aber das nehmen wir beide gerne in Kauf. Abgesehen davon hatten wir keine andere Wahl. Wir mussten aus dem Apartmenthaus raus.
Die Ampel steht auf rot. Ich nutze die Zeit, hole mein Handy aus der Handtasche, die neben mir auf dem Beifahrersitz lümmelt und knipse ein Selfie. Unser Sohn freut sich über Bilder von mir. Er ist wohl der Einzige, der meine Haare faszinierend findet. Zum Glück hat er seine von seinem Vater geerbt – das behauptet zumindest Alex, denn ich habe ihn noch nie mit richtig viel Haar am Kopf gesehen.
Dieses Bild ist allerdings nicht für ihn gedacht.
Als es endlich grün wird, fahre ich weiter. Nach einigen Metern biege ich rechts in die Seitengasse ein und drücke auf die Fernbedienung, die zuerst das Gartentor und dann die Garage öffnet.
Bevor ich unser Grundstück erreiche, fällt mein Blick nach links, zum Ende der Straße. Ein schwarzer Mercedes mit verdunkelten Seitenfenstern sticht aus der Reihe der Familienfahrzeuge hervor.
„Nicht schon wieder“, seufze ich genervt und rolle langsam in die Garage hinein. Den Blick auf den Rückspiegel gerichtet, beobachte ich das Gartentor, wie es automatisch zugeht. Erst dann fängt das Garagentor an, sich zu schließen.
Ich steige aus, hebe den Einkauf aus dem Kofferraum heraus und trage ihn ins Haus.
„Hallo, ihr zwei süßesten Männer auf der ganzen Welt“, lächle ich meinen Sohn und meinen Lebensgefährten an. Nein, wir sind nicht verheiratet. Auch wenn Alex bislang bei jeder möglichen Gelegenheit um meine Hand anhält.
„Hallo Mami“, zwitschert Alex, der ebenso jeden Augenblick dazu nutzt, mir zu zeigen, wie sehr er sich freut, dass ich mich für unseren Sohn entschieden habe.
Felix ist lediglich an meinem Haar interessiert.
„Wir haben Besuch“, hängt Alex hinten dran, mit wesentlich weniger Enthusiasmus in der Stimme.
„Habe ich schon bemerkt.“
Ich trage den Einkauf weiter, gehe an den drei Männern, die in unserem Wohnzimmer sitzen und sich leise unterhalten, stumm vorbei, als wären sie ein Teil der Einrichtung. Sie weiterhin ignorierend räume ich den Einkauf ein, befülle mir ein Glas mit Wasser, trinke davon und nehme Felix in die Arme. Erst jetzt fühle ich mich richtig angekommen.
„Wir brauchen Ihre Hilfe, Frau Gerin“, tritt der erste mit mir in Kontakt.
„Hilfe?“, fragt Alex verwundert. „Zu mir haben Sie gesagt, dass Sie nur nachsehen wollen, wie es uns geht.“
Nur der Typ, der als einziger einen Anzug trägt, grinst bei Alex’s Worten.
„Warum sollte ich Ihnen helfen?“, bin ich nur daran interessiert, die Männer wieder aus meinem Haus zu bekommen.
„Weil Sie bestimmt Interesse daran haben, dass alle, die mit den Machenschaften von Dalibor Phalke und seinem Sohn Mika zu tun haben oder hatten, hinter Gittern landen.“
„Hat sich die Angelegenheit mit dem Tod der beiden etwa nicht erledigt?“, erlaube ich mir die Frage, obwohl mir die Antwort bestens bekannt ist. Denn genau diese war der Grund für all unsere bisherigen Umzüge.
Nachdem meine Geschichte in sämtlichen Fernsehnachrichten ausgestrahlt wurde und mein Gesicht samt meinen roten Haaren in jedem Kiosk des Landes den Menschen begegnet war, war es ein Leichtes, mich ausfindig zu machen. Und es fanden sich immer wieder ein paar zurückgelassene Handlanger, die meinten, mich mit ihren Drohungen und Forderungen einschüchtern zu können, oder zu sonst was bewegen zu wollen.
„Wir haben Ihnen nicht umsonst das Zeugenschutzprogramm angeboten.“
„Soll mein Kind in einem Käfig aufwachsen?“
„Glauben Sie etwa, es selbst beschützen zu können?“
„Wollen Sie mir weißmachen, Sie können es?“, werde ich direkt und bekomme wie erwartet keine Antwort.
„Wir sind der Ansicht, dass die Phalke zwar die Drahtzieher waren, aber eben nur für unser Gebiet“, sagt der Mann im Anzug. Er besitzt eine auffallend schmale Figur mit langen Gliedern.
„Wer ist wir und was heißt unser Gebiet?“, will ich wissen.
„Ich bin der zuständige Staatsanwalt“, erhebt er sich kurz, um mir seine Karte zu reichen.
„Und wer sind Sie?“, sehe ich den dritten im Bunde an.
„Ich bin gar nicht hier, wenn Sie verstehen.“
Der mir und Alex bereits bekannte Polizist fährt an Stelle des Staatsanwalts fort: „Es hat sich herausgestellt, dass die Phalke ein Teil einer grenzübergreifenden Organisation waren. Die paar Mitglieder, die noch frei herumlaufen und die wir noch nicht identifizieren konnten, werden noch eine Weile brauchen, bis die das Vater-Sohn Gespann ersetzt haben. Aber es wird passieren und Sie werden dann sicher die Erste sein, die dies zu spüren bekommt.“
„Wie weit reicht ihr Zeugenschutzprogramm? Wollen Sie uns auf den Mond schießen?“, wirft Alex in die Runde.
„Es gibt gar kein Zeugenschutzprogramm, nicht wahr? Es geht nur darum, dass ich Ihnen helfe, die anderen zu fassen.“
Die Männer schweigen.
„Wie lange soll es dauern und vor allem, wie viele Durchgänge soll diese Geschichte haben?“, begreife ich endlich, was hier gespielt wird.
Sie schweigen weiter und mir wird allmählich klar – dass es keine Aussicht auf ein Ende gibt.
Ich seh meinen Sohn an, den das Spiel mit meinem Haar müde gemacht hat und er in meinen Armen eingeschlafen ist. Ich drücke ihn fester an mich.
„Vielleicht sehen Sie sich mal ein paar Bilder an.“ Der Staatsanwalt holt seine Tablettasche, die er unter dem Couchtisch auf dem Boden zwischengelagert hat. Er breitet die Fotos mehrerer Männer und sogar einiger Frauen auf dem Tisch aus, auf dem ich für meinen Sohn sonst mit Matchbox Autos herumfahre und er sich dabei vor Lachen kugelt.
Als sich Alex’s und mein Blick treffen, nimmt er mir unseren Sohn wieder aus den Armen. Nur widerwillig lasse ich los.
„Mach schon. Da ist ja nichts dabei“, ermuntert er mich.
Also begebe ich mich an den Tisch und beuge mich über die Platte aus Glas. „Einige habe ich schon mal gesehen, aber ich weiß wirklich nicht mehr wo und schon gar nicht, wie sie heißen.“
„Schade“, räumt der Staatsanwalt die Bilder wieder zurück in seine Tasche.
Die Männer stehen auf und kommen auf mich zu.
„Frau Gerin, vielleicht sollten Sie mal einen Umzug in Erwägung ziehen“, bemerkt der dritte.
„Schon wieder?“, seufzt Alex.
„Ich meine nicht von einer Seite der Stadt auf die andere“, erklärt er weiter.
Diesmal schweige ich und starre die mittlerweile leere Glasplatte an. Als würden eines der Bilder immer noch dort liegen. „Hm“, brumme ich dann, als ich merke, dass mich die Männer beobachten.
„Wir verabschieden uns dann mal“, reichen sie mir der Reihe nach die Hand, die ich nur apathisch annehme. Ebenso in Gedanken versunken begleite ich sie zur Tür. Zwei gehen gleich weiter, nur der dritte, der angeblich gar nicht da ist, bleibt stehen. Er nimmt mir sogar die Klinke aus der Hand und macht die Tür wieder zu.
„Was wissen Sie?“, fragt er direkt nach.
„Was meinen Sie?“, erwache ich aus meinem Tran.
„Es ist die Rede von einer Frau …“
„Die Frau von Dalibor Phalke ist tot“, wiederhole ich die Schlagzeile, die vor einiger Zeit in vielen Zeitungen stand.
„Eben …“, sieht er mich an, als wäre dies ein Verhör. Aber als ich auch nach einer ganzen Weile schweige, seufzt er und fährt fort: „Ich kann Ihnen helfen.“
Ich lache laut.
„Aber Sie müssen mir auch helfen.“
Da lache ich noch lauter und will die Tür aufmachen, um ihn zum Teufel zu jagen, aber er hält sie fest. So fest, dass ich sehr viel Kraft anwenden müsste, um sie aufzubekommen.
„Kommen Sie“, drängt er mich zurück ins Wohnzimmer.
„Nein“, stelle diesmal ich mich ihm in den Weg. „Sagen Sie mir zuerst, wer Sie sind und was Sie wirklich von mir wollen“, wende ich den Blick von dem Mann ab, der mir wie ein Deja-vu vorkommt, ich mich aber nicht mehr erinnern kann, wo ich ihn bereits gesehen haben könnte. Angespannt sehe ich über meine Schulter zu Alex, der Felix ins Bett bringen will. „Bleib da!“, herrsche ich ihn an. „Wir bleiben zusammen.“
Seit Wochen klebt man mir schon auf den Fersen. Sogar im Büro gibt es plötzlich neue Kollegen, die immer wieder Köpfe von ihren Schreibtischen heben und mir hinterher sehen, wenn ich an ihren verglasten Büros vorbei gehe und die genau dann Feierabend machen, wenn ich mich von meinem Platz erhebe und nach Hause fahren will.
„Ich heiße Luis. Das muss reichen. Ich war mal bei der Polizei.“
„Mich interessiert nur das Jetzt.“
Er legt mir die Hand auf die Schulter und bittet mich mit Kopfnicken zurück ins Wohnzimmer zu gehen. Ich lasse ihm den Vortritt und gehe ihm nach – will mir den Rücken freihalten.
Er setzt sich sofort wieder auf das Sofa, greift in seine offene Lederjacke und holt ein Bündel zusammen gerollter Papiere heraus. Als er sie auf dem Tisch ausbreitet, fällt mir auf, dass es die gleichen Bilder sind, wie die des Staatsanwalts. Und noch ein paar mehr.
„Kleine Fische, die groß werden möchten“, sortiert er gleich zu Beginn einige davon aus. „Schieber“, nimmt er die nächsten zwei weg. „Dieser hat versucht in Ihre letzte Wohnung einzubrechen.“
Ich hebe meine Augenbraue hoch.
„Woher wissen Sie das?“, erkundigt sich Alex.
„Weil uns seine Männer seit einem guten halben Jahr auf Schritt und Tritt folgen“, erkläre ich anstelle von Luis.
Der Mann lächelt kurz. Dann zeigt er auf eines der drei übrig gebliebenen Bilder.
„Ondrej Malik …“, will er mich offensichtlich prüfen, denn so einen Anfängerfehler traue ich ihm nicht zu.
„Nein“, zeige ich auf ein anderes Bild. „Das hier ist Ondrej Malik“, wäre auch blöd, würde ich behaupten, ich kann mich an keinen der Zuhälter mehr erinnern, von denen ich als Minderjährige herumgereicht wurde.
„Der hier heißt Luka. Luka …“ Ich muss nachdenken. „Schindler.“
„Wer ist das?“, fragt er so, als hätte er tatsächlich noch nie etwas von ihm gehört.
Ich seufze laut, als ich merke, dass Alex unruhig wird.
„Er ist der beste Dokumentenfälscher, den es gibt“, schwindele ich, denn die Dienste des Besten habe ich selbst öfters in Anspruch genommen, als ich noch auf der Suche nach Dalibor war. Da er mir neben falschen Papieren auch noch ein paar nützliche Tipps als Bonus drauf gelegt hat, haue ich ihn auch nach all den Jahren unter keinen Umständen in die Pfanne. „Die hergeschleppten Mädchen brauchen schließlich Dokumente.“
„Na gut“, murmelt er enttäuscht, da sich die zwei als Flop erweisen. „Und wer ist das?“, klopft er mit dem Finger auf das dritte Bild. „Und sagen Sie nicht, Sie wissen es nicht.“
Ich blicke zu Alex, als suche ich bei ihm nach Verständnis.
„Ich weiß wirklich nicht, wie er heißt. Aber er war dabei, als ich durch die Wälder der Hohen Tatra gehetzt wurde.“ Es ist der Typ, der dabei war, als Mika, der Sohn von Dalibor, der so sehr dem verstorbenen Sänger Falco ähnelte, meine Nachricht in den Baum geritzt vorgefunden hatte.
„Okay“, seufzt diesmal er. „Wir können also echt von vorne beginnen.“
„Was wollen Sie von mir?“, platze diesmal ich vor Neugier.
„Dass Sie in Ihren alten Job zurückkehren.“
„Nein“, sagen Alex und ich zeitgleich.
„Wir kleben Ihnen seit langem auf den Fersen.“
„Ja, so dicht, dass es nicht zu übersehen ist. Heute hat sogar die Kassiererin im Geschäft gefragt, ob die Bananen eines Ihrer Männer noch zu meinem Einkauf dazu gehören. Stümperhafter geht’s wohl nicht!“, werde ich wütend.
Doch der Mann reagiert anders, als wie ich erwartete.
„Meine Männer haben in dem Lebensmittelladen nichts gekauft“, zeigt er sich beunruhigt.
Daraufhin hole ich mein Handy aus der Handtasche und zeige ihm das Bild, das ich bei der letzten Ampel geschossen habe. „Dann gehört dieser Wagen wohl auch nicht zu Ihnen.“
Er nimmt daraufhin sein Handy, ruft jemanden an, fragt nach dem Kennzeichen und zeigt mir wenig später ein Bild, das er nur eine Sekunde zuvor erhalten hat.
Mich durchfährt ein Blitz und nicht nur, weil es derselbe Mann ist, wie auf dem einen Foto des Staatsanwalts. „Kenne ich nicht“, flutscht mir zügig über die Lippen, obwohl ich am liebsten „Das kann nicht sein!“ rufen würde.
Der Mann sieht deutlich älter aus, als wie ich ihn in Erinnerung habe. Ich kämpfe plötzlich mit Tränen und halte mir mit der Hand den Mund zu, um meine zitternden Lippen zu verstecken.
„Roland Hauser“, zuckt er mit den Schultern. „Ein Buchhalter in einem kleinen Bauunternehmen.“
„Sagt mir rein gar nichts“, lüge ich weiter. Es liegt jedoch nicht am Lügen selbst, weil mir dabei speiübel wird.
„Mir ist keine Verbindung zu Phalke bekannt“, informiert mich Luis weiter, als hätte er sich die Bilder des Staatsanwaltes nicht richtig angesehen.
„Na vielleicht … Vielleicht ist er auch nur rein zufällig hinter mir hergefahren“, rudere ich zurück.
„Kein Wunder, dass Sie Gespenster sehen. Aber ich verspreche Ihnen, wenn Sie uns helfen, werden wir Ihnen ein neues Leben besorgen. Haus mit Garten und Jobs für Sie beide inklusive …“, steht er endlich auf und begibt sich von alleine zur Tür.
Schweigend verabschiede ich ihn und bleibe auch dann stumm, als Alex unseren Sohn endlich ins Bett bringt und mich anschließend in der Küche mit einem Glas Wasser vorfindet.
„Du siehst echt schon Gespenster“, schließt er mich in die Arme.
„Tatsächlich dachte ich bis heute, dieser Typ könnte mir nur noch als Geist begegnen, aber, wie wir beide sehen konnten, ist er dafür noch viel zu sehr lebendig.“
„Kennst du etwa diesen Roland Hauser?“
„Ja, nur heißt er in Wirklichkeit Marcel Jakl.“
„Wieso hast du das diesem … Wie heißt er noch? Wieso hast du es ihm nicht gesagt?“
„Weil …“, stelle ich das Glas vorsichtshalber ab, da ich befürchte, es könnte mir jeden Augenblick aus der zitternden Hand rutschen. „Er ist mein Vater.“
„Dein Vater?“, stockt Alex nicht nur der Atem. „Du hast nie von ihm gesprochen. Ich dachte, er ist bereits tot.“
„Ich habe lange versucht, ihn zu finden. Aber seine Spuren verloren sich vor Jahren in nichts und das ohne einen Totenschein.“
„Vielleicht sollten wir mit diesem … ach ja, Luis … verhandeln. Das mit dem Haus und den Jobs klingt nicht schlecht.“
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn auf die Wange. Genau so, wie ich das bei Felix immer tue. „Glaube mir – es wird nie ein Haus und vor allem keine Jobs geben. Für das, dass er mal bei der Polizei war, verspricht er ganz schön viel.“
„Denkst du, er lügt?“
„Zumindest das mit der Polizei stimmt“, kann ich mich inzwischen erinnern. „Er war der Typ, der meine Mutter angerufen hat, nachdem man mich bei der Razzia in dem Bordell mitgenommen hat“, kann ich mich urplötzlich sogar an den genauen Wortlaut erinnern: „Wir haben Ihre Tochter.“
„Oh, Mann, hört es denn nie auf?“
„Nicht, wenn ich es nicht selbst in die Hand nehme. Denn die – egal ob die Staatsanwaltschaft, die Polizei oder sonst wer – sind nur an ihrem Ding interessiert. Was mit uns passiert, ist ihnen egal.“
3.2
Der Staatsanwalt ist bei meinen Chefs nicht beliebt und das liegt tatsächlich an seiner ausnahmslos gesetzeskonformen Vorgehensweise. Auch unsere Kanzlei hat schon ein paar Gerichtsverfahren verloren und die meisten dieser Niederlagen gingen auf seine Kappe.
„Verdient“, bemerkt Dr. Schirner, der eine Chef, der sich damals auf Wunsch seiner Frau des betrogenen Friseurs angenommen hat.
Die durchgehend positive Kritik des Staatsanwaltes und die Erinnerung an das abgeschiedene Domizil des Celebrity-Coiffeurs bringen mich gleich auf zwei Ideen. Die erste setze ich direkt um und kündige mich für ein Treffen bei ihm an.
Bei dem Staatsanwalt und auch bei dem Friseur.
Dr. Dr. Patrik Wiese legt mir die Kopien von einigen Dokumenten in die Hände und wartet ab, bis ich mit dem Lesen fertig werde.
„Hatten Sie Kontakt zu Ihren Großeltern?“
„Ph, ich hatte kaum Kontakt zu meiner Mutter … Warum, glauben Sie, ist das aus mir geworden, was ich … Sie wissen schon“, beende ich die Erklärung gleich wieder.
„Waltraud und Wladimir Jakl waren schon mal verheiratet. Phalke war Waltrauds Sohn aus erster Ehe und Ihr Vater …“
„Stiefbrüder?“, bläht sich mein Alptraum unerwartet bis in eine ungeahnte Dimension auf. „Verdanke ich diesen ganzen Mist etwa meinem eigenen Vater?“, versuche ich mich an die Umstände zu erinnern, als er aus meinem Leben verschwunden ist. Aber die Erinnerungen sind wie ein verdünnter Kaffee – sehr trüb. „Ich fasse es nicht!“
Mein ganzes Leben … Alles, was ich jemals für bedeutend hielt, steht mit einem Mal kopf oder löst sich allmählich in Luft auf.
Ich hebe den Kopf von den Unterlagen und sehe ihm auffordernd ins Gesicht. „Ich will alles über ihn wissen. Alles, was Sie irgendwie in Erfahrung bringen können.“
„Helfen Sie uns dann?“
„Nein. Aber Sie können mir helfen“, entscheide ich resolut.
3.3
„Was … was willst du jetzt tun?“, kommt mir Alex in die Küche nach, nachdem er Felix ins Bett gebracht hat.
„Nicht umziehen“, drehe ich mich vor der Spüle um und sehe ihn an. „Ich will endlich Wurzeln schlagen“, stehe ich den Tränen nah.
Die Geburt ist zwar schon eine Weile her und meine Hormone haben sich bestimmt auch längst beruhigt, aber ich bin immer noch nah am Wasser gebaut. Vielleicht liegt es wirklich nur daran, dass ich endlich mein Glück gefunden habe und man es mir wieder aus den Händen reißen will.
„Du … du denkst doch nicht allen Ernstes nach mitzumachen?“
„Ich sehe keine andere Möglichkeit, um zur Ruhe zu kommen.“
„Alex!“, fährt er mich an, wie er es noch nie getan hat und ich kann ihn nicht mal mit einem Pst und zum Kinderzimmer deutend zur Ruhe ermahnen. „Ein Mal – wenn du dich nur einmal anfassen lässt, bin ich weg. Und … Und Felix nehme ich mit!“
Auch wenn ich weiß, dass hierzulande kein Gericht ihm alleine unseren Sohn zusprechen wird, halte ich ihn für den besseren Elternteil von uns beiden. Aber nicht nur deshalb schweige ich ihn an.
„Alex!“, knurrt er noch einmal.
„Ich muss nachdenken.“
„Nachdenken?“
„Und noch ein paar weitere Erkundigungen einholen.“
„Und …?“, neigt er den Kopf mit der Stirn voran vor, als wollte er mich einschüchtern.
„Und – ich habe dich gehört. Klar und deutlich“, krame ich in Gedanken bereits die verstaubten Kontakte aus.
3.4
„Echt jetzt? Habe ich dir meinen Standpunkt nicht deutlich genug klar gemacht?!“, brüllt er mir hinterher, während ich den Maxi-Cosi zu unserem Wagen trage, den ich ausnahmsweise am Straßenrand abgestellt habe.
Einen Streit in der Garage würde nämlich kaum jemand mitbekommen.
„Jetzt schrei nicht so herum – was sollen die Leute denken?!“, sehe ich mich mit Absicht nicht um und schnalle die, mit einer bunten Windel abgedeckte Schale am Beifahrersitz an. Erst danach hebe ich den Kopf der Sonne entgegen und zupfe daraufhin die Windel über die Ränder, um für ausreichend Schatten zu sorgen.
„Alex!“, kreischt er hysterisch, ohne aus dem Haus herauszukommen.
„Wie oft willst du noch umziehen? Alle zwei Monaten – oder alle zwei Wochen? Er hat versprochen, dass wir danach endgültig Ruhe haben werden …“ Das hat dieser ominöse Luis tatsächlich getan, aber wie in alle meine bisherigen Pläne, weihte ich auch in diesen niemanden ein. Hauptsächlich deshalb, weil ich weiß, dass ich mich womöglich selbst nicht lange an ihn halten werde.
„Ich hoffe, du weißt, was du tust …“, sagt er bedeutend leiser.
„Vertraue mir … bitte“, würde ich ihm am liebsten um den Hals fallen, aber alleine deshalb, weil ich immer noch neben dem Wagen, direkt vor dem Gartentor stehe und er gute zehn Meter von mir entfernt ist, tue ich es nicht.
Ach ja, und all die, die in ihren Wägen sitzen und so tun, als wären sie gerade eingestiegen und würden ihre Navis programmieren – sind der andere Grund dafür.
„Verdammt, ich liebe dich, Alex“, runzelt er die kahle Stirn.
„Ich weiß …“, wende ich mich endgültig ab, laufe um den Wagen herum, steige ein und fahre los.
Meine Anspannung ist so groß, dass ich mir mehrmals beim an-der-Lippe-Kauen versehentlich in die Zunge beiße, weil mir der Plan, an dem ich seit Wochen getüftelt habe, plötzlich so unterirdisch schlecht vorkommt.
Alex denkt, dass ich mich mit Luis treffen will, um weitere Einzelheiten zu besprechen, und Luis wartet darauf, dass ich ihm Alex und Felix liefere, um sie an einem sicheren Ort unterzubringen. Und ich? Ich parke den Wagen in der Tiefgarage eines Shoppingcenters, um mir mit meinem Sohn ein paar Babyklamotten anzusehen.
Felix bekommt von dem Angebot nicht viel mit, weil ihn das Schaukeln in den Schlaf gewogen hat und so decke ich die Schale wieder mit der Windel ab, damit ihn das grelle Licht nicht weckt. Dann stelle ich den Babysitz auf dem Boden ab, um mir den zuckersüßen Strampler besser ansehen zu können.
Mit einem Arm, vollbehangen wie eine Kleiderstange, begebe ich mich schließlich zur Kassa. „Ich müsste noch etwas erledigen. Kann ich es kurz zurücklegen lassen?“
Die junge Frau nickt und legt mir einen Stift mit einer Karte vor, damit ich eine persönliche Notiz darauf schreibe.
Bei den Klamotten handelt es sich um Einzelstücke und das Geschäft kämpft weniger mit dem Problem, auf den zurückgelegten Sachen sitzen zu bleiben, als, dass man sie einem hinter dem Rücken einzeln wegkauft, was bei der Kundschaft für miese Laune und im Internet für schlechte Bewertungen sorgt.
„Danke“, hebe ich die Mundwinkel an, ohne wirklich zu lächeln, und verlasse den Shop, um mir in dem kleinen Rohkostlädchen auf der anderen Seite der Mole einen frischgepressten Möhrensaft zu kaufen.
Während ich an dem Strohhalm aus recyceltem Altpapier sauge und mit dem Fuß die Schale wippe, schicke ich meinen Blick durch die Wände aus Glas in den Klamottenladen zurück und betrachte das turtelnde Männerpaar mit einem Kleinkind im Arm, das gerade an der Kassa meine Auswahl bezahlt und sich diese in eine Papiertasche einpacken lässt. Die Kassiererin fragt etwas und nachdem ihr der Mann mit dem Baby im Arm antwortet, sie, als Geschenk des Shops, eine rosa-grün gestreifte Rassel zu den Klamotten in geschlechtsneutralen Farben dazulegt.
Die Männer verlassen daraufhin den Laden und das erinnert mich daran, dass ich mich ebenso auf den Weg machen muss.
*
Zuerst sieht es so aus, als hätte ich den Aufwand umsonst betrieben. Doch schon ein paar Straßen weiter bemerke ich gleich mehrere Wägen, die offensichtlich den gleichen Weg haben wie ich.
Ich reihe mich in die Spur der Auffahrt zur Autobahn ein und beschleunige, denn die langwierige Baustelle wurde am Vortag aufgelöst und der Verkehr ist endlich flüssig genug für die erlaubte Höchstgeschwindigkeit.
Nachdem ich auf die vierspurige Fahrbahn hinauf rolle, holt mich einer der Verfolger rasch ein. Ehe er die gleiche Höhe erreicht, drehe ich das Radio leiser, um mich besser konzentrieren zu können. Dann blicke ich kurz zu der Babyschale, aus der kein Babygebrabbel zu hören ist und ebenfalls keine herumstrampelnden Füße hinaus ragen. Als ich meinen Blick wieder auf die Straße richte, bemerke ich aus dem Augenwinkel den Lauf einer Waffe, worauf ich wie ferngesteuert das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrete.
Es passiert mir nicht zum ersten Mal, dass jemand auf mich zielt. Aber während ich zumindest denke, im Freien aus einer solchen Situation halbwegs unbeschadet entkommen zu können, fühle ich mich im Wageninneren, als hätte man mich auf eine Zielscheibe festgeschnallt.
Und da knallt es auch schon.
Ich spüre keinen Schmerz. Der Wagen lenkt jedoch plötzlich, und zwar ohne mein Zutun, nach links und nachdem ich dem Combi neben mir gefährlich nahe komme, reißt mir eine unbekannte Kraft das Lenkrad aus den Händen, dreht es bis zum Anschlag in die entgegengesetzte Richtung und schiebt meinen Wagen zu der durchgehenden Linie vor dem Brückengeländer.
Mit aller Kraft lenke ich dagegen, als ein zweiter Schuss ertönt und mein Auto daraufhin durch das Geländer bricht.
Die Schrecksekunde kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Der Wagen fliegt zuerst ein paar Meter geradeaus weiter, dann fängt er an vornüber in die Tiefe zu sinken. Erst als ich die dunkle, gewellte Wasseroberfläche auf mich zurasen sehe, überwinde ich endlich die Schockstarre und will nach meiner Handtasche greifen, die vor dem Beifahrersitz auf der Fußmatte liegt.
„Vergiss es!“, kommt mein Hirn endlich in die Gänge. Ich schnalle mich ab und öffne das Fenster. Dann ziehe ich die Windel vom Kindersitz und betrachte die leere Schale mit dem offenen Gurt.
Der Aufprall drückt mich gegen den Sitz und dann läuft auch schon das kalte Wasser herein.
3.5
Keuchend und röchelnd robbe ich das steinige Flussbett hoch und verkrieche mich in dem Gebüsch. Ich würge, lache hysterisch und heule zugleich …
„Nicht ganz mein Plan, aber – es hat geklappt“, kann ich den Zufall und vor allem mein Glück nicht fassen.
Mein Plan sah eine Verfolgungsjagd vor, die ich hinaufbeschwören wollte und die misslingen und tatsächlich mit dem Versenken des Wagens im Strom enden sollte. Allerdings erst auf der nächsten Brücke, unter der keine Schiffe verkehren.
Dass man auf mich in der Öffentlichkeit schießen würde, damit rechnete ich wahrlich nicht.
Ich denke an Alex, der darauf vertraut, dass das Vorhaben, von dem ich ihm nichts verraten wollte, gelingt. Und dann denke ich tatsächlich auch noch kurz an Luis, der auf der nächsten Raststation wartet.
Gleich von mehreren Seiten erreicht mich das Martinshorn. Nicht ganz ladylike spucke ich noch einmal ins Gras, dann breche ich auf, um den nächsten Punkt meines waghalsigen Vorhabens umzusetzen.
3.6
Die Tränen laufen mir in Strömen die Wangen runter und vor lauter Schluchzen bekomme ich kaum Luft, als man während der Fernsehnachrichten live zu den Bergungsarbeiten schaltet und die Kamera Alex zeigt, der am Ufer halb wahnsinnig vor Sorge auf- und abläuft.
Um nicht selbst wahnsinnig vor Trauer und Sehnsucht zu werden und meinen Plan ebenfalls nicht jetzt schon gegen die Wand zu fahren, schalte ich den Fernseher ab und setze mich an den Schminktisch, denn genau das sieht der nächste Punkt auf meinem Plan vor.
Als ich zwei Stunden später an die schwarz lackierte Tür in einem dunklen Hinterhof klopfe, zittern meine Hände immer noch. Der Schock sitzt mir tiefer in den Knochen, als ich erwartet hätte und vor allem – als mir lieb ist. Den Termin habe ich allerdings schon vor Wochen vereinbart und dieses Studio war nicht die erste Stelle, bei der ich angefragt habe. Allerdings die einzige, von der ich eine Einladung erhalten habe und nur deshalb stehe ich hier, anstatt mich sonst wo zu verstecken und im Selbstmitleid zu zergehen.
Die Tür geht auf und mir steht plötzlich ein nackter, bierbäuchiger Typ in einer Frauen-Harness, mit einer Schweinemaske und einem Peniskäfig gegenüber.
Ich schicke die saure Blase wieder die Kehle hinunter und nachdem er auf den Absätzen, die genauso hoch sind wie meine, gekonnt zur Seite springt, um mir den Weg freizumachen, steige ich die paar Stufen hinauf und betrete die knallrot tapezierten Räumlichkeiten.
„Du, Sau, wieso dauert das so lange?“
Mich durchfährt ein Blitz, denn vor nicht allzu langer Zeit gehörten Kosenamen dieser Art zu meinem Alltag.
„Coco?“, kommt mir eine Frau im Jagdoutfit aus dem hintersten Raum entgegen.
„Mistress Coco“, entgegne ich streng und zaubere ihr damit ungewollt ein breites Grinsen ins Gesicht.
„Eine Rute in der Hand macht aus dir noch lange keine Mistress. Und du hast ja nicht mal eine in der Hand, Schätzchen“, belehrt sie mich.
„Ich kann aber mit einer umgehen“, presche ich vor.
„Du, Sau …!“, ruft sie den Mann zu sich. „Dann zeig mal!“, überreicht sie mir ihre und ich finde mich plötzlich vor einer unverhofften Herausforderung, denn – es fällt mir schwer. Diese Geilheit, die der Mann in Erwartung der Hiebe an den Tag – oder mehr an die Nacht – legt, ist mir vollkommen neu.
Gekonnt biege ich das dünne Holz zwischen meinen Händen in einen perfekten Bogen und zeichne ihm schließlich einige tiefrote Striemen auf den Rücken und Po.
Streifenhörnchen – hätte ich beinahe gerufen.
Die paar Monate als Mutter haben in meiner Ausdrucksweise deutliche Spuren hinterlassen.
„Streifen-Sau“, bringt sie es auf den Punkt und für mich hat es zu bedeuten, dass das Eis gebrochen ist und ich mich entspannen kann, was sich hoffentlich auch positiv auf das Zittern meiner Hände auswirkt.
„Überleg dir einen anderen Namen. Coco klingt nach einer Pornodarstellerin“, belehrt sie mich und ich verkneife mir mit Absicht meine Meinung zu ihrem Namen.
Was ich hier mache? Ich hoffe, dass Princess Bella mich unter ihre Fittiche nimmt. Ich brauche dringend Kohle. Da mein Absturz – zwar nicht in Begleitung von Schüssen, aber dennoch beabsichtigt war, konnte ich vorher schlecht unser gemeinsames Konto plündern, um diesen Plan finanzieren zu können. Und weil alle – Alex inklusive – mich für tot halten sollen, kann ich auch jetzt nicht mit der Karte bei einem Automaten Geld abheben. Zudem habe ich – um keine Zweifel an einem Unfall entstehen zu lassen – die Handtasche in dem Wagen liegen gelassen.
Meine Geldsorgen sind jedoch nicht der einzige Grund meiner Anwesenheit. Es gibt schließlich zig andere Möglichkeiten, um Geld zu verdienen. Laut meiner Recherche treibt sich mein Vater in solchen Etablissements herum und dem will ich auf den Grund gehen und ihm auf den Zahn fühlen …
3.7
In frühen Morgenstunden senden sie immer noch Aufnahmen von der Unfallstelle. Alex ist weiterhin vor Ort, aber diesmal empfinde ich ihn nur noch als einen Statisten. Das lässt mich im ersten Moment erschaudern, als ich mir dessen bewusst werde, doch ich beruhige mich gleich wieder und konzentriere mich auf die Auswertung meiner Nachforschungen, die ich noch von meinem Büro in der renommierten Anwaltskanzlei aus betrieben habe und die ich mit der Kanzleipost hierher schicken ließ.
Am Ende stehe ich wieder am Anfang. Sämtliche Spuren verlaufen in nichts. Die Namen, die ich in Erfahrung brachte, sind allesamt nutzlos. Alle haben zwar genug auf dem Kerbholz, aber sogar Luis hätte jetzt gesagt – es sind alles nur kleine Fische. Ihnen zu folgen, bringt mich weder den größeren näher noch kann ich sie als Köder nutzen, um den ganz großen zu fangen.
Wie Luis konnte auch ich nichts über die Frau in Erfahrung bringen, die angeblich das Zepter von den Toten übernommen hat. Carmen Fox war allerdings süchtig nach Publicity und nur das hält mich davon ab, zu denken, dass auch sie ihren Tod hätte inszenieren können, um in Ruhe die Geschäfte weiter zu führen.
Als ich vor über einem Jahrzehnt anfing nach Dalibor zu suchen, stand mir weit mehr zur Verfügung. Nicht nur weit mehr Geld – vor allem mehr Informationen.
„Ich habe echt nichts“, schiebe ich all die Notizen, Ausdrucke und Fotoabzüge vom Bett und krieche unter die Bettdecke, nachdem ich sie zuvor auf Wanzen und anderes Ungeziefer abgesucht habe.
3.8
Schnell fand ich raus, dass Reden und vor allem Schimpfen nicht mein Ding ist. Ein eigenes Studio kann ich mir im Augenblick nicht leisten. Princess Bella hat mich zwar einwandfrei unterwiesen und mir sogar das Angebot gemacht, für den Anfang ihre Räumlichkeiten an ihren freien Tagen nutzen zu dürfen …
Da ich ihren Fragen nicht weiter Antwort stehen will, lehne ich dankend ab.
Ich spucke das Wasser zurück ins Glas und drehe den Fernseher lauter.
„In frühen Morgenstunden hat ein Gassigeher den enthaupteten Körper einer Frau am Ufer angeschwemmt vorgefunden. Man geht davon aus, dass es sich dabei um Alexandra Gerin handelt, die vor zwei Monaten mit ihrem acht Monate alten Sohn mit dem Wagen verunglückte. Von dem Kleinkind fehlt nach wie vor jede Spur. Alles deutet darauf hin, dass die Mutter bei dem Versuch, sich und ihr Baby aus dem versunkenen Wagen zu retten, in eine Schiffsschraube geraten ist. Ebenso wird vermutet, dass das Kleinkind wegen des geringen Gewichtes von der Strömung fortgetragen wurde und womöglich nie gefunden wird.“
Ich starre den Bildschirm mit großen Augen und offenem Mund an.
„Der Vater möchte nicht mehr länger warten und so wird bei dem Begräbnis ein leerer Sarg zu Grabe getragen.“
„Schöne – Kacke!“, achte ich weiterhin auf meine Ausdrucksweise.
Mir war nicht klar, wie schwierig es sein würde, ein Plan für drei statt einer Person auszuarbeiten.
3.9
Mein Vorhaben ist noch nicht einmal richtig in die Gänge gekommen und ich weiche schon wieder von dem roten Faden ab. Aber ich muss Alex sehen – mich davon überzeugen, dass es ihm gut geht und so schlurfe ich ein paar Tage später durch die Gänge zwischen den Gräbern, noch ehe die Beerdigung angefangen hat.
Meine Güte, staune ich, Alex hat mehr Freunde, als es Männer gab, durch derer Hände ich in der Vergangenheit gereicht wurde!, bestaune ich die langsam wachsende Menschenansammlung.
Das Alleinsein machte mir früher nichts aus, doch plötzlich habe ich Angst vor dem Altwerden und empfinde die Einsamkeit, die ich vor der Zeit mit Alex sogar genossen habe, als schrecklich und vor allem – erbärmlich.
Der Pfarrer hält sich kurz, die Freunde legen die mitgebrachten Blumen neben das ausgehobene Doppelgrab und nachdem Alex sie verabschiedet, weil er noch länger bleiben möchte, ziehen sie in kleinen Gruppen davon. Nur seine Eltern bleiben noch und als ich schon glaube, dass sie sich endlich aussöhnen und ihn sogar dazu auffordern, wieder bei ihnen einzuziehen, platzt es aus seinem Vater heraus: „Ist eh besser so. Du bist die Verpflichtung los, kannst von vorne beginnen und es endlich richtig machen.“
„Puh“, entgeht mir, zwar leise, aber dennoch ungewollt.
„Du bist echt – das Allerletzte!“, spuckt ihm Alex entgegen, während sich der adrett gekleidete Mann noch über die geohrfeigte Wange streichelt. „Hätte ich gewusst … Hätte ich geahnt, dass du etwas derart Geschmackloses sagen würdest, hätte ich dich nicht mal benachrichtigt. Verschwinde!“
„Hast du das von ihr? Dieses unmögliche Verhalten?“, fährt ihn sein Vater an.
„Unmöglich? Meine Frau liegt noch nicht mal richtig unter der Erde und hast kein einziges schöne Wort für sie übrig!“
Meine Frau!, werden meine Augen feucht und ich muss mich echt anstrengen, um nicht die aufwändige Schminke zu ruinieren.
„Schön?“, er deutet zu dem Haufen Erde, der sich neben dem Doppelgrab türmt. „Schön!“
Es knallt ein weiteres Mal, aber dabei bleibt es nicht, denn Alex springt ihn regelrecht an, doch seine Mutter geht dieses Mal dazwischen.
„Martin, wenn du dich nicht augenblicklich entschuldigst, reiche ich die Scheidung ein.“
„Was?!“, lacht er.
„Jetzt sofort!“, entgegnet sie so resolut, dass nicht nur die zwei Männer überrascht gucken. Auch ich komme aus dem Staunen nicht raus.
„Ich wüsste nicht, wofür.“
„Gut – ich habe die Nase gestrichen voll …“, begibt sie sich in Richtung des Ausgangs.
„Wo gehst du hin?“, ruft er ihr hinterher, aber da sie sich weder umdreht, noch stehen bleibt, eilt er ihr rasch hinterher.
Alex geht ein paar Mal auf und ab, lässt sich dann auf die andere Bank nieder und legt seinen Kopf in die Hände.
Das bleibt eine ganz lange Zeit so und als ich den Entschluss fasse, mich langsam auf den Heimweg zu machen, betritt das nächste Gespann die Szene.
Sie kommen aus unterschiedlichen Richtungen. So, wie es scheint, ohne sich abgesprochen zu haben, denn der Schrecken, den ihnen die zufällige Begegnung ins Gesicht schreibt, ist sogar aus der Ferne deutlich zu erkennen.
Gerade jetzt wünsche ich mir, ein paar gewaltige Schimpfwörter parat zu haben, aber mir fällt kein einziges ein.
Und sogar Alex hebt den Kopf und sieht ihnen entgegen, bis sie schließlich direkt vor seiner Nase aufeinandertreffen.
Ich bin mir sicher, dass er nicht weiß, um wen es sich bei den beiden handelt, auch wenn er den Mann ganz kurz zwei Mal hintereinander auf einem Foto gesehen hat.
Gespannt warte ich, was passiert …
„Oh, Gott, mein Kind! Wieso?“, wirft sie sich zu Fuße der Grube auf die Knie und fängt an hysterisch zu jaulen.
„Jetzt reiß dich zusammen“, zieht er sie am Arm hoch.
„Das alles wäre nicht passiert, wärst du bei uns geblieben!“, dreht sie sich urplötzlich zu dem Mann mit einer Kopfbedeckung, die er schon damals trug, als ich noch klein war, um und schlägt ihm mit den Fäusten auf die Brust.
„Wäre ich geblieben, lägst du schon längst dort drin!“, versucht er, die Schläge abzuwehren.
„Hört auf, verdammt, hört auf!“, springt Alex auf und läuft auf sie zu, und zwar so schnell, dass ich schon denke, er würde sie in das tiefe Loch hinein stoßen. „Wo seid ihr die letzten Jahre gewesen? Ihr habt keine Ahnung, was sie durchgemacht hat und jetzt wollt ihr euch die Köpfe einschlagen? Bitte – aber wo anders! Gönnt ihr endlich die Ruhe, die sie verdient hat!“
„Und – wer sind Sie?“, fragt meine Mutter, gewohnt theatralisch und affektiert.
„Ich … Alex ist … war meine Frau“, sagt er bereits zum zweiten Mal und mir dämmert langsam, wie wichtig ihm all die Heiratsanträge waren.
Ich hole einen Stift aus meiner altbackenen Handtasche und ebenso einen kleinen Zettel, dann schreibe ich ein paar Zeilen darauf. Anschließend stehe ich auf und mache mich endlich auf den Heimweg.
Die Vorstellungen waren zwar alle sehenswert. Ich befinde mich jedoch kurz davor einzuschreiten und damit würde ich an dieser Stelle nicht nur meinen ganzen Plan zunichtemachen, sondern womöglich auch noch Alex’s Liebe verspielen.
„Sie hat geheiratet? Reicht es nicht, dass ich aus einer Zeitung erfahren musste, so jung zur Oma gemacht worden zu sein? Sie hat mich nicht mal zur Hochzeit eingeladen – alles nur deine Schuld! Es hat eben der Mann zuhause gefehlt, der ihr Manieren beigebracht hätte!“, greift sie ihn von neuem an.
„Hast du sie etwa deshalb verkauft?!“, erwähnt er etwas, das mich beinahe zum Anhalten bringt.
Während ich überlege, was ich mit dieser Aussage anfangen soll, schüttelt Alex nur mit dem Kopf und begibt sich in meine Richtung, um wahrscheinlich selbst die Flucht zu ergreifen, denn es reicht wahrhaftig an Vorwürfen.
„Oh“, rutsche ich mit dem Gehstock aus und stelle ihm damit ein Bein, sodass er stolpert und beinahe stürzt.
„Entschuldigung“, krächze ich, versucht, ihn aufzufangen, was mir, angesichts meines vorgetäuschten Alters, natürlich nicht gelingt. Dies ist jedoch die einzige Möglichkeit, ihm unbemerkt die Notiz zuzustecken.
„Nichts passiert“, richtet er sich umgehend wieder auf und geht ein paar Schritte weiter, als er unerwartet stehen bleibt und sich umdreht. Mir wird bange, denn es sieht so aus, als hätte er mich unter den Schichten Schminke, der Perücke und künstlicher Körperfülle, die ich unter dem altmodischen Kleid trage, erkannt. „Haben Sie es weit? Darf ich Sie irgendwo hinbringen?“
„Danke, junger Mann. Ich muss nur zum Bus.“
„Das ist auch ein gutes Stückchen. Kommen Sie, nach all dem Streit tut eine gute Tat auch mir gut.“
Ich hätte beinahe die Augen verdreht, denn Alex mutiert vor meinen Augen zum Helden und befördert mein schlechtes Gewissen ins Unermessliche.
„Ich weiß nicht“, krächze ich weiter, denn die Lösung, die ich für die Fälle gegurgelt habe, dass ich mich äußern müsste, hält, was sie versprochen hat.
„Ich bin anständig“, setzt er dem Ganzen eine Krone auf und ich komme gerade so um das Lachen herum.
Er bietet mir seinen Ellenbogen an und ich hänge mich ein, dann passt er sich meinem Tempo an und schlurft mit mir gemeinsam zum Friedhofsausgang.
Auf dem Parkplatz erkenne ich den Wagen, mit dem ich einige Male verfolgt wurde. Ich ordne ihn meinem Vater zu. Neben dem Auto, das Alex gehört, steht hier noch ein Taxi mit laufendem Motor und ich frage mich, ob meine Mutter etwa meinetwegen so tief in die Tasche greift, denn sie hatte noch nie Geld für ein Taxi übrig.
Plötzlich frage ich mich, ob meine Mutter all die Jahre wusste, dass mein Vater lebt und auch, wo er lebt und was er macht und sie mich in frühen Jahren anlog, als ich etwas über ihn wissen wollte. Dann wiederum kommt mir der Vorwurf meines Vaters in den Sinn und ich sehe vor meinem geistigen Auge erneut dieses eine Foto, auf dem ich den Zettel in der Hand halte, auf dem – meine Seele für deine Liebe – geschrieben stand.
„So – bitte sehr“, öffnet er die Tür und damit auch meinen Geist wieder für das Hier und Jetzt. Ich lasse mir helfen, denn mit bandagiertem Knie und einem Gehstock ist das Einsteigen echt eine Herausforderung.
Alex setzt sich hinter das Lenkrad und fährt los.
Wir schweigen den kurzen Weg, denn die Bushaltestelle ist im Nu erreicht.
„Wie …?“, stelle ich mich dumm an.
„Einen Moment“, neigt er sich bis zu meiner Tür, um sie zu öffnen. Ich neige mich ebenfalls vor und dann passiert das Unvermeidbare – ich setze ihm wie durch Zufall einen Kuss direkt auf den Mund. Während er vor Schreck erstarrt, schaffe ich es unter Stöhnen und Ächzen aus dem Wagen heraus. Ich schlurfe die paar Meter zu der Haltestelle, denn der Bus kommt genau in diesem Moment an, und ich habe keine Lust auf den nächsten zu warten, der sich erst in einer geschlagenen Stunde sehen lässt.
Alex kommt zu sich und kramt in seinen Hosentaschen nach einem Taschentuch, um sich die Spuren von den Lippen abzuwischen.
Der Busfahrer verlässt seinen Platz, um mir die Stufen hinauf zu helfen, und nachdem ich den Aufstieg endlich geschafft habe, blicke ich durch die große Frontscheibe und entdecke, dass er statt einem Tuch meine Notiz gefunden hat.
Alex liest die paar Zeilen und schaut durch die Heckscheibe des Wagens zu dem Bus.
Der Fahrer wartet, bis ich neben dem Fenster Platz nehme, dann schließt er die Türen und fährt los. Als wir an dem Wagen vorbeifahren, dreht sich Alex um und sieht mir nach, bis wir uns aus dem Blick verlieren.
Ich schließe die Augen und erinnere mich daran, wie meine Hand vor Aufregung gezittert hat, als ich geschrieben habe: Felix geht es gut. Ich liebe dich!
Wahrscheinlich stellt er sich gerade dieselbe Frage, mit der ich mich seit dem Abend beschäftige, an dem ich von der Beerdigung in den Nachrichten gehört habe: „Wer ist die Frau in dem Sarg?“
3.10
„Du kommst reichlich spät“, nehme ich den Mann in Empfang, der mit einem großen Stoß an Unterlagen soeben durch die Tür des Konferenzraumes kommt.
„Verzeihung. Die Auswertungen haben länger gedauert, als ich gedacht habe.“ Er stößt mit dem Fuß die Tür zu und nähert sich langsam dem langen Tisch, an dessen Kopfende ich sitze.
Ich nehme die Brille von der Nase runter und stecke mir den linken Bügel zwischen die kirschroten Lippen. Mit halb zugekniffenen Augen sehe ich ihm zu, wie er den Stapel bis zu meinem Platz balanciert, ehe er ihn neben meinem Laptop abstellt und die Hände, mit den Handflächen nach oben, darauf legt.
Ich beende meine Recherche, schalte das Gerät ab und klappe es zu. Dann stehe ich auf und mache einen Schritt hinter dem Tisch hervor und auf den Mann zu.
Sein Blick ist gesenkt, jedoch nicht auf den Stapel gerichtet. Auch nicht auf mich, sondern auf das Utensil, das ich mit vielem anderem Arbeitsmaterial mit in dieses Gebäude brachte und das nun auf dem Tisch liegt.
Ich nehme es in die Hand.
So langsam ich es hochhebe, so schnell schlage ich damit zu.
Er kneift die Augen zu, zieht die Stirn in tiefe Falten, legt den Kopf weit in den Nacken und holt tief Luft, ohne die Hände von dem Stapel zu nehmen.
Der rote Strich, den ihm die Gerte auf den Handflächen hinterließ, verblasst in Zeitlupe.
„Ich mag keine Verspätungen.“
„Verzeihung, Miss …“
„Mistress“, schlage ich erneut zu.
Dieses Mal saugt er seine Lippe zwischen die Zähne und brummt leise.
Ich lege die Gerte auf seinen Handflächen ab, nehme die Karte, die mit einem Clip an seinem Hosenbund befestigt ist und ziehe sie ab. Dann gehe ich Hüften schwingend zur Tür und lege die Karte kurz auf das Identifizierungsterminal.
„73JK“, verrät mir der Mann auch ohne Aufforderung.
Das Schloss wird automatisch aktiviert. Die Jalousien lasse ich mit einem Tastendruck hinunter fahren.
„Hinknien!“
Er folgt umgehend, ohne die Gerte aus den Händen weg zu legen.
Ich bleibe neben der Tür stehen und betrachte ihn einmal ausgiebig. Der Anblick ist schon besonders. Ein Mann, der um einen guten Kopf größer ist als ich, gut durchtrainiert, mit gleich zwei Doktor-Abschlüssen, kniet meinetwegen, kaum merkbar zitternd, auf dem Bodenbelag des Konferenzraumes eines großen IT-Unternehmens.
Ich komme auf ihn zu, gehe neben ihm in die Knie, spreize diese dabei so weit, dass nur ein Blinder dem Drang widerstehen könnte, mir nicht, zumindest aus dem Augenwinkel, in den Schritt zu schauen. Zu sehen bekommt er nichts, außer dem glänzenden Latex, in den mein Körper von den Zehenspitzen bis zum Kinn verhüllt ist.
Dennoch seufzt er schwer und erzittert nun deutlich sichtbarer.
Ich stecke meine Hand in seine Sakkotasche und hole das dicke Bündel Geld heraus, das er bei sich trägt und das für mich bestimmt ist.
So, dass er es sehen kann, zähle ich flüchtig die Scheine durch. Erst dann richte ich mich auf, gehe zu meinem Laptop und lege die Kohle in die Aktentasche. Anschließend hole ich aus dieser ein weiteres Utensil, einen schmalen Ledergürtel, heraus und kehre zu ihm zurück. Ich lege ihm diesen um den Hals, ziehe das lose Ende durch die Schnalle hindurch und schnalle ihn so eng, dass er kaum schlucken kann, aber dennoch ausreichend Luft bekommt.
Kaum spürt er den Druck auf dem Adamsapfel, unterliegt er dem Drang, ununterbrochen zu schlucken. Ich habe schon die Erfahrung gemacht, dass er damit den ganzen Abend zu tun haben kann. Dennoch habe ich nicht vor, etwas daran zu ändern.
Ich nehme ihm die Gerte aus den offenen Händen und schlage mit ihr einmal kräftig auf den Tisch. Er zuckt bei dem lauten Knall und ich kann ihm von der gerunzelten Stirn ablesen, dass er befürchtet, man könnte dies hinter der versperrten Tür hören. Manche der Büros im Stock sind noch besetzt. Zahlreiche seiner Angestellten laufen durch die Gänge: zum Kopierer, Drucker, oder, um sich beim Automaten einen Kaffee zu holen.
„Leck sie!“
Er wirft sich umgehend auf alle viere, senkt den Kopf und streckt die Zunge weit hinaus. Zaghaft nähert er sich meiner Schuhspitze. Dann stockt er für einen ewig langen Moment, ehe er sich noch tiefer vorbeugt, und damit beginnt, meinen Schuh sorgfältig abzulecken.
Seine Unsicherheit ist mit Garantie auf die Spiegelung zurückzuführen. Mit Absicht habe ich diese Schuhe gewählt. Nicht nur wegen ihrer hohen Absätze, auch wegen der spiegelglatten, auf Hochglanz polierten Oberfläche.
Nur kurz sehe ich ihm zu, prüfend, ob er sich auch Mühe gibt. Dann schicke ich meinen Blick durch die bodentiefen Fenster zu der, in die untergehende Sonne getauchten, Skyline. Nebenher mache ich meinen Gürtel auf und nehme ihn ab. Das enge Catsuit hat eine Korsage eingearbeitet, die mir auch ohne einen zusätzlichen Gürtel eine enge Wespentaille verleiht.
Ein Mal rolle ich den Gürtel zu einer Schnecke zusammen. Dann entziehe ich ihm den Schuh.
Verunsichert sieht er ihm hinterher.
„Zieh dich aus!“
Während er kniet, zieht er sich das Sakko aus. Als er es über die Stuhllehne legen möchte, stoße ich den Stuhl mit dem Fuß um.
„Der Boden ist gut genug für dich.“
Mir fällt auf, wie ihm ein Lächeln über das Gesicht springt.
Er wirft das Sakko auf den Boden und fährt mit dem Entkleiden fort. Der Krawatte folgt das Hemd und danach das Unterhemd.
„Weiter!“, ermahne ich ihn, als ich merke, dass er glaubt, aufhören zu können.
Diesmal ist ihm anzusehen, dass er sich knapp an seiner Grenze bewegt.
Da dies nicht zu den Dingen gehört, auf die ich laut Absprache Rücksicht nehmen soll, warte ich, mit dem Schuh am Boden klopfend, bis er sich komplett entkleidet.
Die Schnalle fest in der Hand, hole ich aus. Mit lautem Sausen löst sich die Spirale auf und der Gürtel landet, der ganzen Länge nach, auf seinem nackten Rücken. Die zurückgebliebene Spur reicht von seiner rechten Pobacke bis zum linken Schulterblatt.
Ein Zischen erreicht mein Gehör. Mir fällt die Anspannung in seinen Armen auf, die bis zu den Fingern reicht. Der Hieb kostet mich viel Kraft, aber dies ist schließlich kein Tête-à-Tête, sondern eine harte Session, die er genau so bei mir bestellt hat.
„Weiter“, ich stelle den Schuh wieder zurück und kaum, dass er mit der Zungenspitze den Schuh berührt, schlage ich erneut zu.
Hinter der mit Jalousien bedeckten Wand ziehen Schritte den Gang entlang. Das Sausen ist laut und ich schlage mit Absicht genau dann, wenn uns die Schritte am nahesten sind.
Der Mann hat Mühe, den Schmerz schweigend zu ertragen.
Sogar die Reinigungsleute sind bereits in ihren wohlverdienten Feierabend gegangen, als ich den Gürtel wieder um meine Taille lege und die Schnalle schließe. Der zusammengekauerte Haufen Mensch am Boden schnieft und schnauft, die Haut auf seinem gewölbten Rücken glüht. Hier und da hat sie den Schlägen nicht standgehalten, Abschürfungen und die ersten Blutergüsse sind zu sehen.
Ich hebe mein Bein an, lege ihm die Schuhspitze unter das Kinn und fordere ihn mit leichtem Druck auf, den Kopf zu heben und den Oberkörper aufzurichten. Nachdem er sich auf die Fersen setzt, nehme ich ihm den Lederriemen vom Hals ab und verstaue ihn gemeinsam mit meinem Laptop und der Gerte in der Aktentasche. Dann ziehe ich mir meine Lederjacke an, setze die Brille wieder auf und begebe mich zur Tür.
Er ist immer noch nackt und ringt nach Luft. Sein Körper ist schweißbedeckt.
Nur noch einmal sehe ich zu ihm rüber, bevor ich die Tür mit seiner Karte wieder öffne.
„Vielen Dank, Mistress …“, flüstert er zwischen den tiefen Atemzügen.
Ich werfe ihm die Karte zu. Sie landet zwischen seinen Knien. Ich wende mich von ihm ab und verlasse den Raum …