Inhalt:
Die Romantik-Autorin Eve Jansen stürzt ihre Romanfiguren regelmäßig kopfüber in waghalsige Abenteuer und lässt sie um ihr Leben und die Liebe kämpfen. Als Belohnung erwartet diese am Ende der Geschichte das ersehnte Happy End, meist verbunden mit einem Ring am Finger.
Eines Tages bekommt sie selbst einen Antrag. Ihr bis ins kleinste Detail geplanter Alltag gerät daraufhin aus den Fugen und nimmt die Form einer Geschichte an, die nicht aus ihrer Feder stammt. Gegen ihren Willen wird sie in ein Abenteuer gestürzt, dem sie sich nicht gewachsen fühlt und befürchtet, nicht nur ihr Leben, vor allem aber ihre Liebe endgültig zu verlieren.
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An den, den es angeht
An den, den es angeht
© 2020 Zoe Zander
An den, den es angeht
Liebesroman
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Covergestaltung: Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Korrektorat: Stefanie Brandt
Postadresse:
Zoe Zander
Albertgasse 49/12a
1080 Wien
Email: zander.zoe@gmail.com
Autorenseite: www.zoe-zander.at
Das Buch
Auch Autorinnen sind nur Menschen und ebenso nicht davor gefeilt, schlechte Erfahrungen zu machen.
Eve Jansen ist keine Ausnahme. Mehr noch. Nach dem ihr persönliches Happy End auf sich warten lässt, kehrt sie der Realität den Rücken zu und flüchtet sich kurzerhand in die von ihr erschaffenen Geschichten.
Erst als sie zum zweiten Mal vor den Trümmern ihres Lebens steht, erkennt sie, wie nah sie diesem Glück die ganze Zeit stand und befürchtet, es dieses Mal für immer zu verlieren …
Informationen zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Von angel für MASTER A.
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„Der Verkäufer hat mir wesentlich mehr Enthusiasmus prophezeit“, kommentiert er meine Apathie.
„Vielleicht hättest du ihm einen Antrag machen sollen“, starre ich ihn an, als wäre er ein Wildfremder.
Der herben Enttäuschung zum Trotz macht er keinen Anstand aufzustehen. Als würde er die Hoffnung hegen, ich könnte meine Meinung ändern.
In meiner Laufbahn als Autorin habe ich schon so oft meinen Protagonistinnen einen Antrag gestellt, dass man mich für die Erfinderin dieser Szene halten könnte. Aber der Ring, der für meinen Finger gedacht ist, lässt mich völlig kalt. Nicht der richtige Mann? Unpassender Augenblick? – ich suche gar nicht nach einer Antwort, denn in Wirklichkeit weiß ich genauestens Bescheid.
„Wir sind jetzt seit über zehn Jahren ein Paar. Ich hielt unsere Beziehung in jeder Hinsicht für … ja, für perfekt. Ich dachte, du wärst glücklich …“, staunt er.
Mein Blick versinkt in den tiefen Falten auf seiner Stirn. In Gedanken gehe ich die Momente durch, in denen ich ihm diese glatt streichelte: Wenn er sich über seine Klienten ärgerte; wenn der Richter mal tatsächlich zu Gunsten der Gegenseite entschied. Oder, wenn seine Aktien an Wert verloren … Es sind jedoch nicht meine Augen, mit denen ich ihn ansehe, sondern die Augen meiner Protagonistinnen. Womöglich sind deshalb seine Probleme für mich nicht von Bedeutung.
„Ich bin auch glücklich …“, schlucke ich den Knoten runter. „Ich war es, bis zu diesem …“, ich deute zu ihm hinunter und erwische mich dabei, wie ich den Ring mustere.
Er muss ein Vermögen gekostet haben!
Das erste Mal seit Beginn unserer Beziehung denke ich übers Geld nach. Über sein Geld nach und das rüttelt mich tatsächlich wach.
So viele Jahre lag mir meine Mutter mit einem Mann, Ehe und Familie in den Ohren. Nun habe ich alle drei zum Greifen nah und … für einen Augenblick überlege ich tatsächlich, ob ich den inneren Widerstand ignorieren und den Ring annehmen soll.
Marcus mustert mich. Womöglich denkt er, ich würde wieder mal lediglich meinen Willen durchgesetzt bekommen wollen. Er begreift nicht, dass ich lediglich versuche, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Doch wie meist gelingt es mir nicht. Meine Gedanken schweifen ab. Im Geiste stöbere ich mein Schmuckkästchen durch. Ich suche nach dem Stück, das ihm als Muster für den Verlobungsring diente. Aber ich vermisse nichts. Das wäre mir bestimmt aufgefallen, als ich vorhin, nach unserem gemeinsamen Restaurantbesuch, meine Ohrringe ablegte.
Er muss die Größe geschätzt haben. Und obwohl ich diesen Ring nie anprobieren werde, weiß ich, er würde passen. Marcus ist in solchen Sachen perfekt, im Gegenteil zu mir, die nur perfekt ist, wenn sie in einer Rolle steckt. Der Rolle einer ihrer Figuren oder der Autorin. Aber nicht der Partnerin. Schon gar nicht Verlobten oder gar Ehefrau.
Alleine der Gedanke versetzt mich dermaßen in Panik, dass ich ohnmächtig werden könnte.
„Dann besiegeln wir unser Glück. Schluss mit dem ewigen Versteckspiel und vorgetäuschter Distanz. Mit diesem Ring zeigst du der ganzen Welt: Wir gehören zusammen …“
„Damit …“ Ich reiße ihm die kleine Schatulle aus der Hand. Dann klappe ich sie zu und lege sie … Ich werfe sie auf den Tisch.
Sie schlägt auf der Glasplatte auf, worauf ich vor Schreck zusammenfahre. Den Tisch kaufte ich erst vor einigen Tagen und nun hätte ich ihn mir beinahe selbst kaputt gemacht.
Die Schatulle schlittert bis zur Kante, ohne Schaden anzurichten.
„Damit machst du alles kaputt!“ Vielleicht hätte ich erwähnen sollen, dass er im Begriff ist, meine, die von mir erschaffene Welt kaputt zu machen, aber das erscheint mir im Moment nicht wichtig. Wichtig ist mir nur, aus dieser Szene zu flüchten, ehe ich tatsächlich ohnmächtig werde.
Ich schiebe meinen Hintern die Couch entlang bis zum Seitenrand, stehe auf und gehe einige Schritte von Marcus weg. All die Jahre vertraute ich ihm blind und ohne irgendwelche Bedenken. Jetzt schlägt mein Herz erschreckend panisch.
Zögernd steht er auf. Mit einem Nein rechnete er nicht. Das steht ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich verstehe dich nicht. Überall, wo du in der Öffentlichkeit auftauchst, wirst du gefragt, ob du bei den zahlreichen Verehrern ans Heiraten denkst. Und du antwortest jedes Mal, es hätte dich noch keiner von ihnen gefragt“, er kommt langsam auf mich zu und ich sehe mich um, als suchte ich nach einem Fluchtweg.
„Hast du bislang auch nicht“, schützend kreuze ich meine Arme vor der Brust. Gerade rechtzeitig, denn er will mich umarmen und steht nun mit weit gestreckten Armen vor mir.
„Das habe ich hiermit nachgeholt, oder?“ Eine Weile hält er die Arme in der Luft, dann senkt er sie wieder. Unsere Blicke treffen aneinander und ich versinke schlagartig in dem Himmelblau seiner Augen, das mir an ihm immer noch so sehr gefällt. Vor allem, weil es mit meinem eigenen Himmelblau so schön harmoniert. Harmonie ist mir eben auch wichtig.
Für einen Moment vergesse ich seinen Antrag.
Er streift sich eine der weißblonden Locken hinters Ohr, die sich aus seinem sorgfältig gebunden Zopf löste. Nachdenkend neige ich den Kopf zur Seite, folge dieser winzigen Geste, derer er sich mit Sicherheit gar nicht bewusst ist.
Mist, besinne ich mich wieder, ich könnte tatsächlich schwach werden.
Mein Zaudern entgeht ihm nicht. Er unternimmt einen weiteren Versuch, mich zu umarmen.
„Hast du je daran gedacht, dass ich vielleicht gar nicht gefragt werden möchte?“, gestatte ich ihm einen winzigen Blick auf das, was ich all die Zeit so gut vor ihm verbergen konnte. Dabei weiche ich ihm ein weiteres Mal aus, was ihn erschaudern lässt.
„Darüber hast du nie ein Wort verloren.“ Er sieht sehr überrascht aus. So baff erlebte ich ihn noch nie. Sein Gesichtsausdruck fasziniert mich und ich will ihn mir unbedingt merken, um ihn später einer meiner Figuren zu verpassen. Aber womöglich lenke ich mich damit nur ab, um nicht selbst überrascht zu sein. In Wirklichkeit denke ich Tag und Nacht über einen Ring am Finger nach. Nur handelt es sich dabei um keinen Ehering und der Finger gehört auch nicht mir.
Wir stecken in der Situation fest.
Marcus ist Anwalt. Er weist seine Klienten an, was sie zu tun haben. Er überzeugt die Schöffen und stimmt die Richter um. Menschen zu beeinflussen gehört zu seinem Alltag wie Zähneputzen. Nur an mir beißt er sich seine strahlendweißen Zähne aus.
Ich bin Schriftstellerin und erschaffe komplexe Lebensgeschichten. Auch abseits meines Laptops habe ich gerne alles unter Kontrolle. Sogar in der Realität will ich schon im Voraus wissen, welchen Lauf die Dinge nehmen und wie sie am Schluss ausgehen, damit es für mich keine bösen Überraschungen gibt.
So kam stets, dass, egal was Marcus vorschlug, ich die Zügel fest im Griff hielt. Er wollte in den Urlaub – ich bestimmte den Ort. Er hatte Lust essen zu gehen – ich suchte das Restaurant aus. Er verführte mich zum Sex – ich saß im Sattel …
Unbewusst gleite ich mir mit dem Daumen über die Unterlippe und mein Blick landet auf seinen Lenden. Hätte ich vor Stunden geahnt, was er vorhat, hätte ich ihn aus dem Bett geschmissen.
„Wie kommt das? Jede deiner Romanheldinnen sehnt sich danach, gefragt zu werden. Und jede deiner Leserinnen träumt davon …“, zündet er die Unterhaltung von neuem an.
„Ja, stimmt. Scharenweise sehnen sie sich nach einem blauäugigen Adonis mit langer blonder Lockenmähne. Der sie auf Rosen bettet, sie mit Champagner beim Schaumbad verwöhnt und ihnen alle Wünsche von den Augen abliest. Für die wärst du genau der Richtige und jede von ihnen würde dir jetzt bestimmt um den Hals fallen.“
Mir entgeht nicht, wie er die Schultern anhebt. Wie ein wildes Tier, zum Angriff bereit. Nur liegt unser Schäferstündchen längst hinter uns und das romantische Abendessen ebenso.
Und plötzlich sehe ich es klar vor mir – wie die Felder hinter meinem Grundstück, wenn sich der Morgennebel verzieht: Marcus hat sich diesen Verlauf in einem meiner Bücher abgeguckt! In diesem Moment bin ich jedoch froh, dass er nicht beim Essen um meine Hand anhielt. Nicht auszudenken, welches Theater uns und den anderen Gästen damit erspart blieb.
Womöglich denkt er mittlerweile das Gleiche.
„Für die?“, schnaubt er und ich werde mir meiner eigenen Worte bewusst, aber da ist es schon zu spät … „Dann sollte ich vielleicht einer von ihnen den Ring anbieten!“, fliegt ihm überraschend über die Lippen.
Ich bin baff und sein Blick flattert auch kurz ungewohnt unsicher umher. Ehe ich mir die Frage stellen kann, was eine meiner zahlreichen Romanheldinnen wohl darauf sagen würde, schleudert mich ein unbekannter Impuls zur Tür und schüttelt mir sogleich eine Antwort aus der Kehle: „Nur zu. Ich halte dich nicht fest!“, öffne ich die Tür und gebe ihm den Weg frei.
Wie zum Stein erstarrt, verharrt er einige Schrecksekunden auf der Stelle.
Ich vernehme ein leises Schnaufen.
Längst nehme ich nicht mehr real teil an dieser Szene, sondern bin nur noch die Autorin, versunken in eine neue Geschichte. Im Geiste fliegen meine Finger flink über die Tastatur meines Laptops, um diese Gefühlsregung für Ewigkeiten festzuhalten. In meinem Kopf entsteht eine Unmenge an Situationen, in denen der leidenschaftliche Held genau mit dieser Gefühlsregung seiner Angebeteten begegnet …
Und dann läuft Marcus unerwartet los, prescht an mir vorbei. In der aufgewirbelten Luft hinterlässt er eine Duftwolke seines Aftershaves, in die ich eingehüllt werde. Sie umschließt mich wie seine Arme vor Stunden, als er mir zärtlich am Nacken knabberte.
„Brauchst du dazu nicht den Ring?“, reagiere ich überraschend geistesgegenwärtig.
Marcus kommt zurück, schnappt sich die Schmuckschatulle und verlässt von neuem schnaubend mein Haus …
Erneut wickelt sich der herbe Duft eines orientalischen Gewürzes um mich herum. Diesmal straff wie ein Seil. Der zartrosa Hintergrund meiner Gedanken verwandelt sich in ein klirrend-kaltes Schwarz. Meine Knie bekommen dabei eine sonderbar gummiartige Konsistenz. Als wäre aus einer Romanze gerade ein Thriller geworden.
1
Ich ziehe den Lippenstift nach. Er passt wunderbar zu meinem Kostüm in zartem Pastellrosa. Nachdem ich mir den Rock über die Knie zupfte, sehe ich mich um. Egal, wo mein Blick auch landet, überall befinden sich Bücher. Wild durcheinander gestapelt, es gibt kaum freie Stellen. Weder in den Regalen, die entlang der Wände stehen. Vom Boden bis zur Decke, wie ein Tapetenmuster. Ebenso nicht auf den Wühltischen inmitten des Raumes.
Es ist einer dieser kleinen modrigen Bücherläden, die man im Keller, am Ende einer dunklen Gasse, zu Fuße einer steilen Treppe finden kann.
Heute ist dieser Bücherladen auch voller Menschen. Sie drängen sich in den schmalen Durchgängen zwischen den Tischen und Regalen, bemüht es sich gemütlich zu machen. Dann richten sie ihre Blicke auf mich.
Es herrscht Stille.
Ich lege ein Bein über das andere, stoße dabei mit der Fußspitze beinahe einen der Bücherstapel um, die wie Leibwache um meinen Stuhl herum stehen.
In meiner Kindheit war ich oft in solchen Bücherläden. Wenn ich über die Türschwelle schritt, betrat ich jedes Mal eine andere Welt. Wenn keiner zusah, scheute ich nicht, die überladenen Regale hochzuklettern, um eines der Bücher aus der obersten Reihe rauszuziehen. Ich stöberte die Wühltische durch, zeichnete dabei meine Initialen in die dicke Staubschicht, die alles bedeckte. Ich liebte alles. Die Bücherläden, wie auch die Geschichten, die sie beherbergten.
Heutzutage erschaffe ich selbst Geschichten für jede Art von Bücherläden. Ich selbst jedoch komme mir wie ein Fremdkörper vor. Und nach dem gestrigen Streit mit Marcus – sogar in meiner eigen für mich selbst kreierter Lebensgeschichte …
Denk nicht dran!, ermahne ich mich zum ersten Mal seit einer sehr langen Zeit.
Ich schlage das Buch in meinen Händen auf und fange an vorzulesen …
Heute ist bereits der dritte Abend in diesem Monat, an dem ich aus meiner Neuerscheinung Neugierigen und Fans eine Kostprobe vortrage. Bedingt durch den vorhandenen Platzmangel ist mein Publikum überschaubar. Als ich kurz den Blick hebe, treffe ich auf einige bekannte Gesichter.
Im Anschluss holen sich viele der Zuhörer eine Widmung bei mir ab …
„Bitte, schreiben Sie: für Amalia …“
Ich kritzle mit der rosa Tinte – ebenso passend zu meinem Outfit – ein paar persönliche Zeilen in ihr Buch.
Sie nimmt es an sich, rührt sich jedoch nicht von der Stelle. „Und?“
Es ist mehr das kindliche Lächeln in ihrem Gesicht als ihre laute Stimme, das mich aus meinem Tagtraum entreißt.
„Sind Sie schon Ihrem Julio begegnet?“
Das Leben in diesem winzigen, vollgeräumten Raum mit abgestandener Luft steht mit einem Schlag still. Alle warten gespannt auf meine Antwort.
Mit verlegenen Augenaufschlag verabschiede ich mich von dem Helden meiner aktuellen Phantasie und lächle ihr verschmitzt entgegen. „Das bleibt mein Geheimnis.“
Ich überfliege mit verträumtem Blick die vor Enttäuschung seufzende Warteschlange und versenke meine blauen Augen in dem nächsten Buch, das mir gereicht wird.
Dann schluchze ich kurz enttäuscht, weil der Held aus meinem Tagtraum bereits anderweitig nach einem neuen Abenteuer sucht. Das erinnert mich daran, sämtliche Schlösser in meinem Haus austauschen zu lassen …
Der Zorn über Marcus’ vergeblichen Versuch, mir einen Brillantring an den Finger zu stecken, entflammt in mir aufs Neue.
Ich war glücklich mit ihm. Deshalb glücklich, weil die Romanze, die ich vor Ewigkeiten für mich selbst erschuf und die ich tagein tagaus mit ihm durchlebte, so wunderbar funktionierte. Bis zum gestrigen Abend. Nach seinem Antrag fühle ich mich plötzlich, als hielt er das Buch meiner wahren Geschichte in seinen Händen und ich hätte es gerade so abwenden können, dass er einen Blick hinein wirft.
„Schreiben Sie bitte – für Rose.“
Die Erinnerungen an den gestrigen Abend rücken langsam wieder in den Hintergrund. Mein aufgescheuchter Blick irrt kurzfristig ziellos durch das kleine Geschäft.
Während ich aus meinem neuesten Buch las, stiegen sich die Zuhörer beinahe auf die Füße. Der Tisch, der sich noch vor einer Stunde unter der Last meiner Werke durchbog, gähnt jetzt vor Leere. Erschöpft aber zufrieden zähle ich flüchtig die noch wartenden Autogrammjäger durch. Dabei fällt mir ein Mann auf. Er passt überhaupt nicht in das Klischee meiner Fans.
„Natalie?“, wende ich mich an meine Assistentin und lächle unterdessen die wartende Verehrerin an. „Bitte sehr, Rose“, reiche ich das Buch zurück, verliere mich für einen Moment in ihrem Lächeln. Es wirkt herzerwärmend ehrlich und unbelastet … Es gab Momente in meinem Leben, da konnte mein Lächeln mit ihrem mithalten.
Als sich meine junge Assistentin zu mir neigt, drehe ich mich selbst etwas zur Seite. „Der dunkel gekleidete Mann … War er während der ganzen Lesung hier?“, lasse ich mich dennoch nicht von meiner Neugier aufhalten, greife sogleich nach dem nächsten Buch und setze zur Unterschrift an.
„Oh, Frau Jansen, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele wunderbare Stunden mir Ihre Bücher bereits beschert haben!“, jauchzt mich eine Frau mit knallroten Wangen und einem viel zu engem Rüschenkleid an. „Schreiben Sie bereits an Ihrem nächsten Buch?“
Mein Telefon, das neben meiner rechten Hand am Tisch liegt, vibriert sich unterdessen seine Seele aus dem Leib.
„Lassen Sie in der angekündigten Fortsetzung Amanda aus dem Koma erwachen, oder trifft Julio eine neue?“ Ihre Fragen prasseln auf mich nieder wie ein Wasserfall.
„Welcher Mann?“, erkundigt sich Natalie.
Ich drehe den Kopf zur Seite und sehe sie an. Die junge Verlagsangestellte blinzelt mich an.
„Der ernst dreinschauende Typ, der neben der Eingangstür steht.“ Ich würge unterdessen den gefühlt zwanzigsten Anruf von Marcus ab und sehe der nächsten eindringlichen Frage entgegen.
„Wo führt ihn seine nächste Expedition hin?“, ihre Neugier kennt scheinbar keine Grenzen.
„Bei der Tür steht niemand“, erwidert Natalie.
Ich hebe sofort meinen Kopf hoch und strecke mich sogar, nur um mich selbst davon zu überzeugen. Mit dem rechten Daumen schalte ich unterdessen das Telefon aus.
Womöglich sollte ich meiner neugierigen Leserin beichten, dass ich meinen Helden soeben endgültig zum Teufel jagte.
Das kurze Erscheinen des Unbekannten ruft mir die Abgründe meiner eigenen Vergangenheit ins Gedächtnis. Ich schreibe es seinen Gesichtszügen zu. Sie erinnern mich an meine eigenen, die ich unter dem aufgesetzten Lächeln trage. Dann jedoch schiebe ich rasch die Gedanken an den Fremden beiseite und widme mich wieder meiner Leserin. „Lassen Sie sich überraschen, Alice.“
Diese Frau nahm in den letzten Jahren mit Sicherheit an mindestens zwanzig meiner Lesungen teil. Irgendwann kam ich nicht mehr drum herum, mir ihren Namen zu merken. Als ich ihr nun das signierte Buch überreiche, blicke ich nochmals zur Tür. Nachdenkend nage ich an meiner Unterlippe, während ich mit dem Zeigefinger über das schlafende Telefon streichle.
Nein, ich gebe nicht nach.
Ich nehme das nächste Buch entgegen und erkundige mich mit gewohnter Freundlichkeit nach dem Wunsch für die Widmung.
2
„Wieder Mal ein Erfolg!“, verkündet Natalie und hilft mir, den Mantel anzuziehen. Ich mag sie. Sie ist sehr bemüht und ihr Entgegenkommen lässt trotz des langen Tages kein bisschen nach. „Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“, erkundigt sie sich.
„Seien Sie so nett.“ Ich schalte mein Telefon erneut ein und knirsche enttäuscht mit den Zähnen, denn es wird mir kein neu entgangener Anruf angezeigt.
Hat er etwa aufgegeben? Jetzt schon?
„Brauchen Sie noch etwas, Eve?“, piepst mich die junge Frau, die sich auch auf einem Laufsteg sehr gut machen würde, an.
„Nein“, seufze ich, ohne den Blick vom Handy zu lösen, denn ich hoffe dabei auf die Verzögerung der Datenübertragung. Doch es gibt nicht einmal eine Nachricht.
Marcus war stets beharrlich. Dieses Verhalten passt überhaupt nicht zu ihm. Aus Frust beiße ich mir in die Zunge.
„So, Eve. Ihr Taxi ist bald da. Ich begleite Sie noch vor die Tür.“
Gemeinsam begeben wir uns an die frische Luft.
*
„Gute Nacht, Eve.“ Sie ist gerade dabei, die Tür des Taxis zuzuschlagen, als ich sie aus einem Schreck-Impuls am Arm packe. Sie klemmt mir daraufhin beinahe meinen Arm in der Tür ein.
„Dieser Mann, hinter Ihnen, haben Sie ihn schon mal gesehen?“
Natalie verzieht vor Schmerz das Gesicht.
Mich bringt das erneute Erscheinen des Unbekannten komplett aus der Fassung und so bekomme ich gar nicht mit, wie fest ich zudrücke.
Die junge Frau dreht sich neugierig um. „Vielleicht sollte ich mit Ihnen mitfahren. Was halten Sie davon, Eve?“, sieht sie mich ganz eigenartig an. Als hätte ich allen Ernstes behauptet, den Osterhasen gesehen zu haben. Sie macht einen Schritt zur Seite, soweit es ihr mein fester Griff erlaubt und ich verstehe sofort, warum.
Verunsichert sehe ich mich vor dem kleinen Bücherladen um. Von dem unbekannten, düster dreinschauenden Mann mit kaltem Blick ist weit und breit nichts mehr zu sehen.
„Ist nicht nötig, Natalie“, schiebe ich sie gleich wieder zur Seite. „Nur, tun Sie mir bitte den Gefallen und lassen Sie sich von Ihrem Freund abholen“, will ich die Situation retten, um nicht als eine verwirrte, an Verfolgungswahn leidende Mittvierzigerin da zu stehen. Und ja. Da ich in einem sicheren Taxi sitze, mache ich mir vielleicht auch ein bisschen Sorgen um ihre Sicherheit. Der Typ ist mit Garantie kein Osterhase.
Natalie sieht sich nochmals um. „Ja, Eve, ich rufe ihn gleich an.“ Sie schlägt die Wagentür zu und ich vertreibe umgehend jedweden Gedanken an den Mann. Erneut schiele ich das stumme Telefon an, während ich dem Fahrer das Ziel der Fahrt bekanntgebe: „Zum Café Sigma, das ist …“
„Ich weiß“, unterbricht er mich unhöflich und fährt daraufhin los.
An der ersten roten Ampel komme ich zu dem Entschluss, mein Handy muss in der letzten Stunde kaputtgegangen sein. Schließlich zeigt es weder Anrufe noch Nachrichten von Marcus an. Da mir ein nicht funktionierendes Telefon nichts nutzt, lasse ich es kurzerhand in meiner Handtasche verschwinden.
Ich strecke nun meinen Rücken durch und lehne mich entspannt zurück, nur, um im selben Moment vor Schreck aufzuspringen und mit dem Kopf fast gegen die Decke zu schlagen.
Schon wieder dieser Typ. Er steht am Straßenrand, lehnt mit der Schulter an dem Mast der Fußgängerampel und obwohl diese grün leuchtet, bewegt er sich nicht von der Stelle.
Mein Puls springt – wie ich vorhin – in den Himmel und mein Herzschlag verfängt sich in meinen Schläfen. Vor Panik wird mir übel. Fände ich den Typ nicht zum Gruseln, würde ich jetzt die Tür weit aufreißen und mich zwischen den, am Straßenrand parkenden, Autos übergeben. Keine Sekunde später überlege ich es mir anders und verriegle sogar die Tür. Noch während dessen wird mir bewusst, wie kindisch ich mich verhalte.
Alles nur Zufälle, ermahne ich mich zur Ruhe. Dennoch lasse ich ihn nicht aus den Augen, bis das Taxi um die Ecke biegt und er dabei aus meinem Blickfeld verschwindet. Erst jetzt gibt der Druck in meinem Kopf nach und auch mein Puls findet zu seinem gewohnten Rhythmus zurück.
Um auf andere Gedanken zu kommen, suche ich in meiner Handtasche nach dem Telefon. Es könnte ja durchaus sein, dass es doch noch funktioniert und ich bei der ganzen Aufregung einen Anruf von Marcus versäumte …
Habe ich etwa überreagiert?, kommt mir zum ersten Mal in den Sinn. Es ist ja nicht so, dass wir noch nie miteinander gestritten hätten. Aber früher machte ich mir nie Gedanken über irgendwelche unerwünschte Nachwirkungen.
Der Wagen hinter uns fährt zu nah auf. Das grelle Scheinwerferlicht schlägt gegen den Rückspiegel und blendet mich. Um auszuweichen, lehne ich mich an die Tür und starre weiterhin das finstere Display des stummen Telefons an.
Ich weiß nicht, wohin er ging. Auch nicht, wo er die letzte Nacht verbrachte. In keinem einzigen meiner Romane spielt es eine Rolle, wohin sich der Held verzieht, bevor er wieder zurückkehrt, um das Herz seiner Angebeteten endgültig zu erobern. Alleine das Happy End zählt. Ich befürchte nun das Ende meiner eigenen Geschichte. Das sich allerdings alles andere, nur nicht als glücklich entpuppen könnte. Schlimmer wäre nur noch, wenn danach mein eigentliches Leben seine Fortsetzung finden würde. Und zwar an genau der Stelle, an der ich es fluchtartig verließ. Das will ich um keinen Preis …
Denk nicht dran!, ermahne ich mich erneut.
„Mann soll aufhören, wenn es am schönsten ist“, trällert eine mir unbekannte Stimme aus dem Taxiradio, während ich die Straßenlaternen, die Lichter der Geschäfte und Lokale betrachte, an denen wir vorbei fahren.
Der Spruch klingt gut. Vielleicht kann ich es als Prämisse für eine neue Geschichte verwenden.
Es war mir schon immer leichter gefallen, fremden Herzschmerz in Liebesglück zu verwandeln, als mein eigenes und vor allem ein reales Problem anzugehen.
Als wir am Ziel ankommen, habe ich im Kopf den Plot einer neuen Geschichte zusammengestellt. Dieses Mal ist es eine Büroromanze. Sie ist jung, attraktiv, unerfahren. Er – reif, klug, sehr männlich und verheiratet.
„Das macht zweiunddreißig Euro.“ Der Blick des Fahrers ist eigenartig. Wahrscheinlich mache ich auf ihn einen geistesabwesenden Eindruck und er glaubt womöglich, ich hätte etwas eingeworfen. Ich stecke ihm tatsächlich wie ferngesteuert meine Kreditkarte in die Hand, dann werde ich endlich wach. „Kann ich bitte die Rechnung haben?“
Er gibt mir die Karte retour und schenkt mir zusätzlich ein seltsames Grinsen. „Du könntest so einiges von mir haben, Schätzchen.“
Mir fällt sofort die Ruine in seinem Mund auf und alle Gedanken, die ich mir vorher machte, sind plötzlich wie weggefegt. „Ich denke, wir belassen es nur bei der Rechnung.“ Ich greife nach meiner Karte und kaum habe ich sie fest im Griff, flüchte ich aus dem Wagen. Das gelingt mir dann doch nicht so rasend schnell, wie ich es mir vorstelle, denn, ich habe ja die Tür verriegelt und darauf vergessen.
„Ich weiß, wo du wohnst!“, ruft er mir durchs offene Fenster der Beifahrertür hinterher.
Seine Worte nehmen in meinem Kopf eine bedrohliche Gestalt an, aber dieses Mal kann mein eingeübter Mechanismus die Angst schnell überwinden. Inmitten der Tür zum Café bleibe ich stehen und werfe einen Blick zurück. „Dann wissen Sie sicher auch, dass ich nicht alleine wohne!“ Meine Stimme zittert, wie meine Knie unterm Rock.
Er hat dann offensichtlich doch andere Pläne, da er sich in den Verkehr einreiht und bald darauf aus meinem Blick verschwindet.
Wohne ich tatsächlich nicht alleine? Diese Frage nagt unbewusst schon eine ganze Weile an mir. Jetzt erst stelle ich sie mir direkt. Hätte ich seinen Antrag annehmen sollen, um meine Vergangenheit endgültig hinter mir zu lassen? Ich bewege mich wie schlafwandelnd auf die Theke zu. Habe ich etwa nicht nur den Helden meiner Romane davongejagt? Ich fühle mich irgendwie – beraubt. Sondern auch einen wichtigen Pfeiler aus meinem eigenen Leben?, komme ich mir urplötzlich sehr einsam vor.
3
Ich steige mit meinen Stöckelschuhen auf die Stange des Hockers und setze mich auf den weich gepolsterten Sitz. Mit einem lauten Knall, als Ausdruck meiner schlechten Laune, lasse ich die Handtasche auf die Theke fallen und fische aus ihrem Inneren einen Notizblock und einen Kugelschreiber heraus. Rasch notiere ich den Plot, bevor mir jemand mit der nächsten unerwarteten Bemerkung den Kopf endgültig leer fegt und blicke dann überrascht hoch, als man mir vor die Nase ein hohes Glas mit Strohhalm abstellt.
„Das habe ich nicht bestellt“, wende ich ein. Während ich weiter mit dem Kuli auf das Papier kritzle, inspiziert mein Geruchssinn den Inhalt des Gefäßes. Der pinke Cocktail riecht herrlich nach Kirsche. Wie mein Lippenstift. Am liebsten würde ich die Nase hinein stecken. Oder mir die Lippen damit einpinseln.
Die Frau hinter dem Tresen nickt zur Seite und mein Blick folgt der angedeuteten Richtung.
Auf der anderen Seite der kreisförmigen Theke steht der Mann aus dem Bücherladen und nippt an seinem Glas.
Wie kam er so schnell hierher?, umschleicht mich ein merkwürdiges Gefühl. Mir kam die Taxirechnung gleich überhöht vor. Der Idiot ist bestimmt mit mir herumkutschiert, um Kilometer zu schinden. So ein Aas!
Ich lasse den Mann nicht aus den Augen, aber er tut wider Erwarten nichts. Er nickt nicht zum Gruß, hebt sein Glas nicht hoch zum Prost. Er sieht mich einfach nur an.
Dieser Blick …, fühle ich mich eingeschüchtert. Als wüsste er Bescheid. Bescheid? Die Angst entzieht sich meiner Kontrolle und schnürt mir die Kehle zu. Worüber? Im Leben von Eve Jansen gibt es nichts, worüber er Bescheid wissen könnte. Also vertreibe ich meine Bedenken und sauge mich mit den Lippen an dem Strohhalm fest, um auch die restlichen Sorgen runter zu spülen. Endlich löse ich den Blick von ihm und widme mich erneut meinen Notizen.
Sie träumt von Ehe, Kindern und Zusammensein. Er vom schnellen Abenteuer, Spaß und Abwechslung. Sie – wie Schneewittchen. Er … Ja, wie soll er denn aussehen?
Ich nehme die Lippen von dem Strohhalm, stecke mir stattdessen den Kuli in den Mund und schicke meinen Blick auf die Suche nach entsprechender Inspiration. Bei so vielen unterschiedlichen Liebesgeschichten fällt es mir von Mal zu Mal schwerer, einen neuen reizvollen Protagonisten zu kreieren. Deshalb nutze ich jede Gelegenheit für die Suche nach einer Idee. Anstelle einer Anregung entdecke ich ihn, den Unbekannten, unerwartet zu meiner linken Seite. Vor Schreck verschlucke ich beinahe den Kugelschreiber. Mein Rachen füllt sich umgehend mit Husten und meine Augen mit Tränen. Der krampfhafte Versuch, mich zu beruhigen, scheitert. Das erste Mal in meinem Leben habe ich mich absolut nicht unter Kontrolle.
Das erste Mal seit …
Denke nicht dran!, ermahne ich mich ein weiteres Mal.
Er hebt mein Glas an und nimmt die Serviette, auf der das Glas abgestellt war. Dann taucht er eine Ecke von dieser in sein Wasserglas und wischt mir seelenruhig über die Lippen. Ohne Aufforderung und ebenso ohne meine Erlaubnis. Dennoch bin ich froh darüber, denn ich habe den Kuli in zwei Teile gebissen und mir dabei die Lippen mit Tinte beschmiert.
Gleich nach der ersten Berührung erstarre ich wie durch einen Zauber und sehe ihm reglos und schweigend dabei zu, wie er mir zuerst die Oberlippe abwischt, dann die Unterlippe und anschließend das Kinn abtupft, das auch wohl ein paar Tropfen der Tinte abbekam.
Die Selbstverständlichkeit seines Tuns wirkt hypnotisch auf mich. Dabei sieht er mir nicht ein einziges Mal in die Augen. Sein Blick ist stets auf den Punkt gerichtet, an dem er mich mit dem Papiertuch berührt. Mir scheint, als würde er mit meinem Körper kommunizieren. Meine Sinne reagieren sofort, aber der Rest von mir ist dieser Sprache nicht mächtig.
Lange Zeit bin ich außer Stande etwas zu unternehmen. Als ich dann endlich zu mir komme, schiebe ich seine Hand entrüstet von mir und wende mich von ihm ab. Schnell stöbere ich den Inhalt meiner Handtasche durch und ausgestattet mit einem Taschentuch und Spiegel, wische ich mir den Rest der Tinte selbst aus dem Gesicht. Das eigenartige Gefühl, das er mir hinterließ, gleich mit.
So langsam wenden sich die Blicke der anderen Gäste von uns ab und da kehrt auch die Gelassenheit in meinen Geist und Körper zurück.
Mit einem Mal überkommt es mich: Könnte er?, mustere ich ihn. Nein, stelle ich mit Bedauern fest. Er ist eindeutig kein romantischer Märchenprinz mit dem Körper eines jungen griechischen Gottes, der Frauen beim bloßen Anblick in Ekstase befördert. Er verfügt auch über keine durchtrainierten Arme, auf denen er sie über Türschwellen trägt. Fraglich ist auch, ob er ihnen das Blaue vom Himmel holen kann …
Gerade das bringt mich dazu, einen zweiten Blick zu riskieren …
Sein dunkler Maßanzug vermittelt den Eindruck, als steckte darin ein knallharter Geschäftsmann. Statt einer gewölbten Brust verbirgt dieser lediglich eine gewölbte Brieftasche und an seinem Kopf glänzt im Licht keine wallende Mähne. Vielmehr der Ansatz einer kahlen Stelle in dem angegrauten Haar. Auch sein Aftershave riecht kühl wie eine kalte Meeresbrise und wirkt eher ernüchternd als verführerisch auf mich.
Ich drehe mich um und schnüffle schnell an dem Cocktail, denn gerade das Parfüm zündet bei mir erneut dieses merkwürdige Gefühl, bei dem sich mein Kopf zu drehen beginnt.
Hoffentlich hat er für seine Anwesenheit einen vernünftigen Grund, wenn er schon so nicht von Nutzen für mich ist.
Erneut sauge ich am Strohhalm, denn das Getränk hat es echt in sich. Aber nicht deshalb befeuchte ich immer wieder meine Lippen mit meiner im Kirschlikör benetzten Zunge. Das Tuch, mit dem ich mir selbst über die Lippen wischte, war mit Menthol getränkt. Jetzt werde ich den Geschmack nicht mehr los.
Zwei weitere Schlucke später schiebe ich das Glas zur Seite. Ob es an seiner sonderbaren Wirkung liegt, die er auf mich ausübt, oder dem Getränk selbst – ich fühle mich benebelt und befürchte, ich könnte mich mit dem Cocktail am Ende noch überschütten. Der Patzer mit dem Kugelschreiber war für mich demütigend genug.
Ich ergänze meine Notizen um eine kurze Skizze der weiblichen Hauptfigur …
„Was wollen Sie von mir?“, löst mir der Alkohol die Zunge. Mal sehen, ob meine Panikattacke im Taxi berechtigt, oder maßlos übertrieben war. „Die Lesung ist vorbei und die Autogrammstunde ebenso“, fülle ich das Papier mit Hieroglyphen und hoffe, meine Notizen auch am nächsten Morgen noch entziffern zu können. „Sind Sie etwa von der Presse?“, versuche ich ein Gespräch mit ihm anzubandeln, wobei mir selbst nicht ganz klar ist – warum eigentlich. Eve Jansen pflegt es nicht, sich außerhalb der Lesungen oder anderen geplanten Veranstaltungen mit Leuten zu unterhalten.
Nachdem er mir keine Antwort gibt, beäuge ich ihn erneut. Für mich sieht er aus wie ein Immobilienmakler oder Antiquitätenhändler, der sich zwar für Bücher interessiert, aber mehr für alte Schinken, als moderne Liebesgeschichten.
Er nimmt einen Schluck von seinem Wasser, stellt das Glas ab und dreht den Kopf zur Seite. Für die Länge eines Atemzuges begegnen sich unsere Blicke. Dabei entfesselt er einen Strudel in mir, sodass ich mich abwenden muss, um nicht fortgerissen zu werden. Meine Glieder werden von einer sonderbaren Taubheit befallen und mein Kopf …
Mein Kopf, seufze ich im Geiste und schüttle diesen beinahe, um das Gefühl loszuwerden. Es ist wie Schokolade, die in großen Mengen einem nicht guttut. Genau so verhält es sich auch mit diesem Empfinden. Deshalb gewöhnte ich es mir vor langer Zeit ab und nun will ich damit gar nicht erst wieder anfangen.
Nachdem ich mich in Eve Jansen Manier mit der künstlichen Fassade von seiner Wirkung auf mich abschotte, fällt mir ein …
Vielleicht könnte er doch der Mistkerl sein, der das junge Ding zuerst nach Strich und Faden ausnutzt und ihm erst am Schluss, den Ring an den Finger steckt …
Auch wenn ich meine Sinne wieder voll unter Kontrolle habe, schwindet die Taubheit nur langsam aus meinen Gliedern. Unverhofft gleitet mir der Kuli aus den Fingern und fällt auf den Boden. Bevor ich mich nach ihm bücken kann, hebt er ihn hoch.
Zuvorkommend – so ein Mist. Die Story werde ich wohl noch mal überdenken müssen.
Er reicht mir den Stift und berührt dabei mit seinem Finger meinen Daumen. Ein Blitz rast mit Lichtgeschwindigkeit von der Kontaktstelle bis zu meinem Herzen, worauf ich kurzfristig die Symptome eines Herzinfarkts in Betracht ziehe. Erschrocken hebe ich den Blick und treffe auf seinen.
„Ich gebe keine spontanen Interviews“, stelle ich schnell klar, ehe er sich mit seinen magischen Kräften erneut meiner Sinne bemächtigt. „Für Termine ist meine Verlegerin zuständig. Wenden Sie sich an sie“, stecke ich meine Nase gleich wieder in meine Notizen, geneigt, ihm keine weitere Aufmerksamkeit mehr zu schenken.
Doch darin ist er offensichtlich geübter als ich. Weil ich auch deutlich später immer noch nichts von ihm zu hören bekomme, werde ich wieder neugierig.
Ich hebe den Kopf und sehe ihn an. Er starrt apathisch in den Spiegel an der Rückwand der Theke, trinkt aus seinem Glas und macht den Eindruck, sich ganz zufällig neben mir aufzuhalten.
Seine plötzliche Ignoranz ärgert mich beinahe mehr, als, dass er mir bis hier her folgte, ohne bislang den Grund für seine Anwesenheit erfahren zu haben. Und als ich schlussendlich in Erwägung ziehe, er könnte taub oder stumm sein …
„Sehe ich etwa aus, als wollte ich das zu hören bekommen, was man in der Vita in jedem deiner Bücher nachlesen kann?“, schiebt er sein Glas zur Seite. Auf der schmalen Theke gibt es kaum Platz, weshalb er mit der Kante seiner rechten Hand meinen Notizblock berührt.
„Sieh mich an!“, fühle ich mich von seiner Hand angesprochen. Mein Blick bleibt auf seinem kleinen Finger haften. Wie hypnotisiert starre ich den kalten schwarzen Stein an seinem Ring an. Der glänzende Onyx entpuppt sich als Tor zu meiner Vergangenheit, versetzt mich gedanklich zurück in meine Kindheit. Ich versinke in den Erinnerungen wie damals in dem dunklen, tiefen Meer …
Denke nicht daran!, blinzle ich, um nicht völlig abzudriften.
„Was dann?“, will ich wissen, denn die Phantasie von Eve Jansen bietet neben Romanvorlagen und ihren eigenen Belangen nur wenig Raum für Anderes.
Im Lokal ist es warm. Auch wenn ich seine Nähe anfangs als schweißtreibend empfand, fröstle ich nun. Das Durcheinander meiner Empfindungen schreibe ich seinem Blick zu. Erneut überkommt mich das Gefühl, er könne tief in mich hinein sehen. Aber ich bin nicht bereit, das Geheimnis, das ich seit meiner Kindheit mit mir herum trage, zu offenbaren.
Sein Blick wirkt mit einem Mal noch eindringlicher, bis er schließlich auf meiner Brust landet.
Meine Bluse ist jedoch bis zum allerletzten Knopf geschlossen und ich habe den Mantel noch an, dennoch komme ich mir, so intensiv betrachtet, wie splitterfasernackt vor.
Eve Jansens Grenzen sind eben knapp bemessen.
Ich würge den Knoten, der in meinem Hals feststeckt, runter. Ehe es sein Blick fertigbringt, meine, über Jahrzehnte lang gepflegte Fassade wie Röntgenstrahlen zu durchbrechen, packe ich rasch alle meine Sachen in die Tasche, rutsche vom Hocker runter und flüchte aus dem Lokal.
4
Zu Hause verriegle ich umgehend sämtliche Türen und Fenster, schalte die Alarmanlage ein und verkrieche mich, kaum die Klamotten ausgezogen, wie ein verfolgtes Tier unter der Bettdecke. Dort, in die vollkommene Dunkelheit getaucht, rufe ich mir das schier bodenlose Graublau seiner Augen ins Gedächtnis. Wenn ich tief Luft hole, kann ich sogar sein Parfüm riechen, das einer frischen Meeresbrise ähnelt …
Ich will mehr von diesem Duft und atme weiter ein, fülle meine Lunge zum Bersten voll. Dabei greife ich mit beiden Händen nach dem Leintuch und knülle es mit den Fingern zu einem festen Klumpen zusammen. Dann drehe ich mich zur Seite, schließe die Decke zwischen meine Knie und Schenkel ein.
Die Luft findet mittlerweile keinen Platz mehr und will raus. Zeitgleich mit ihr entgeht mir ein dermaßen lauter Seufzer, dass ich vor Schreck erzittere. Nicht nur des Seufzers wegen. Auch, weil ich mich für einen kurzen Moment befreit fühle. Nicht nur befreit von der Altlast meiner Vergangenheit, sondern – wie neu geboren.
So etwas passierte mir noch nie. Nicht einmal …
Denk nicht dran!, verbiete ich mir selbst.
Die Erinnerungen verlieren sich rasch in der Dunkelheit, die unter der Bettdecke herrscht. Nur der Gedanke an den unbekannten Mann lässt mich nicht mehr los …
Es ist gerade dieser Gedanke, der mich nach kurzer Zeit wieder aus meinem Versteck hinausekelt. Ich stehle mich ins Bad, als würde ich mich beobachtet fühlen, und verharre dort vor dem Spiegel. Ich starre mein Abbild an, suche nach dem Riss. Einem Spalt oder zumindest einer Ritze in der Fassade, hinter der ich mich seit Jahrzehnten vor der ganzen Welt und sogar vor mir selbst verstecke.
„Denke nicht daran!“, ermahne ich mich diesmal von Angesicht zu Angesicht ganz laut und dennoch hält es mich nicht davon ab, mir weiter über ihn den Kopf zu zerbrechen.
Dieser Mann schaffte es auf Anhieb, durch meinen pastellfarbenen Panzer, bis tief in mein Innerstes zu dem einzigen Gefühl durchzubrechen, das ich vor allem und jedem versteckt hielt. Dennoch geht es mir weniger um das Gefühl, welches das Herz erschüttert und die flatterigen Insekten im Bauch aufscheucht, sondern mehr um die Angst, die damit Hand in Hand geht. Sie macht es mir unmöglich, dieses Gefühl zuzulassen. Bis zum heutigen Abend dachte ich, genau diese Angst fest im Griff zu haben. In Wirklichkeit beherrscht sie mich. Schließlich reicht so wenig wie ein Blick, eine Geste oder eine winzige Berührung, um sie aus dem Tiefschlaf zu wecken.
5
Wochen vergehen. Die Figuren für mein neuestes Werk nehmen konkrete Formen an. Lediglich die männliche Hauptfigur kann mich nach wie vor nicht überzeugen.
Seit Marcus’ Antrag herrscht zwischen uns Funkstille. Das ist für mich Anlass genug, alles, was ihm gehört und sich im Haus befindet, einzupacken und die Koffer vor die Tür zu stellen. Noch am selben Abend sind diese verschwunden. Da mein Vorstellungsvermögen aktuell nur Raum für den neuen Roman bietet, denke ich erst gar nicht darüber nach, ob er sie abholte, oder sie gestohlen wurden.
Weil ich über ein kaputtes Handy klagte, besorgte mir meine Verlegerin ein neues. Dazu noch eine Emailadresse, die ihrer Meinung nach besser zu einer Autorin von Romanzen passt.
Ein Schlosser verpasst demnächst meinem Haus neue Schlösser. Und da ich die Margarine der Butter vorziehe, haust ab sofort in der Butterdose im Kühlschrank der neue Code für die Alarmanlage.
*
Nach Tagen mir selbst verpassten Hausarrestes, um die Schreibarbeit voran zu treiben, verlasse ich eines Nachmittags endlich mein Haus, um einer Einladung zu folgen. Der lokale Fernsehsender hatte eine Umfrage am Laufen. Die Zuschauer entschieden, dass sie mich darüber sprechen hören wollen, worüber ich seit Jahrzehnten schreibe. Als Gast einer Talkshow soll ich mich öffentlich zum Thema Sex, Romantik und Beziehung äußern.
*
Ich stelle den Wagen in der Tiefgarage des Senders ab und fahre mit dem Aufzug hinauf, bis in die vierte Etage.
Aus der Maske flüchte ich direkt in den Waschraum, um mir das Make-up gleich wieder aus dem Gesicht zu waschen. Es ist nicht minder bunt als mein eigenes, allerdings in meinen Augen nicht romantisch und verspielt, sondern schrill und vulgär.
Mein Spiegelbild zieht wie eine Leuchtreklame Aufmerksamkeit auf sich. Ich bringe keinen Ton heraus, dennoch würde ich mir am liebsten die Ohren zuhalten. Das bin ich nicht. Eve Jansen liebt Ruhe, lebt zurückgezogen und würde eher davonlaufen, als jemanden die Meinung zu geigen oder ihre Ansichten offenbaren …
Gerade der Gedanke an all das, was ich mir in den vergangenen Jahren verkniffen habe anzusprechen, lässt meine Aufregung schlagartig verpuffen und mich überkommt ein kalter Schauer: „Marcus …“, flüstere ich erschrocken und entsinne mich an all die Makel, an ihm, an unserem Miteinander, die mir fortlaufend ins Auge stachen, ich sie jedoch bis zum Ende unserer Beziehung duldete, ja sogar ignorierte. Bis auf den Antrag. Da brach ich zum ersten Mal mit Eve Jansens Prinzipien.
Ein bis zwei mal Blinzeln ist notwendig, bis die Rückblende endlich überwunden ist und auch mein Blick nicht mehr durch die Vergangenheit streift, sondern sich auf das Bild im Spiegel fokussiert.
Ich seufze genervt. Alle Mühe fruchtet nicht, denn auch nach mehreren Versuchen sehe ich immer noch genauso aus wie vorher. Ich lehne an der Marmorplatte und betrachte mich im Spiegel. „Komisch“, sage ich zu mir selbst. „Mehr als die Hälfte meines Lebens verstecke ich mich schon hinter einer Maske. Aber erst unter so viel Farbe fühle ich mich, als müsste ich ersticken.“
Ein Klicken scheucht mich auf und zieht meinen Blick zur Tür. Die Regieassistentin späht herein und macht den Eindruck, als hätte sie schon eine Weile nach mir gesucht. Sie packt mich, ohne ein Wort der Erklärung, an der Hand, zerrt mich aus dem Waschraum hinaus, schleppt mich durch etliche Gänge hindurch und lässt mich erst los, nachdem sie mich im Studio auf den für mich vorgesehenen Platz pflanzt.
Als mir Annemarie die Einladung überreichte, stellte ich mir ein kleines Studio mit einem runden Tisch vor, an dem ich mit ein paar anderen Gästen sitzen soll. Dazu höchstens eine Hand voll Zuschauer. Den Tisch gibt es wahrhaftig, aber der Raum ist um Etliches größer, als ich es von den Bücherläden gewöhnt bin, in denen ich regelmäßig meine Lesungen abhalte. Es gibt wahrlich mehr als nur eine Zuschauerreihe und sie sind allesamt voll.
Die anderen Talkgäste haben bereits ihre Plätze eingenommen. Nur flüchtig werden wir untereinander bekannt gemacht.
Auf den kleinen runden Tisch wird für jeden von uns ein Glas Wasser hingestellt. Ein junger Mann – mit einem Headset ausgestattet – stellt dann noch eine volle Karaffe in die Mitte.
Ein leichter Anflug von Nervosität kündigt sich bei mir an, denn mit Kameraerfahrung kann ich nicht gerade prahlen. Die Hände aneinander reibend lehne ich mich in die knallrote Polsterung des breiten Sessels zurück und sehe mich um, als hielt ich Ausschau nach einem Fluchtweg.
Die Regieassistentin unterhält sich kurz mit Vinz. So nennt sich der Talkmaster, der diese Sendung moderiert. In Wirklichkeit heißt dieser solariumgebräunte Typ Adolf Alfred Ammermann.
Kein Wunder, dass er sich ein Pseudonym zulegte, schmunzle ich und merke zuerst gar nicht, wie sie sich plötzlich zur Seite drehen und beide in dieselbe Richtung schauen. Ich glaube Entsetzen in ihren Blicken sich spiegeln zu sehen. Als ob beiden etwas Sorge bereiten würde. Es vergeht noch eine Weile, bis mir klar wird, dass ich es bin, die sie so entgeistert anstarren.
Ihre Ablehnung überrascht mich nicht besonders, denn ich selbst fühle mich in dieser Runde fehl am Platz und da hat die Unterhaltung noch gar nicht angefangen. Trotz des Make-ups empfinde ich mich neben all den anderen wie ein unscheinbares Mauerblümchen. Und es ist gerade diese Unscheinbarkeit, die hier, an diesem einen Tisch, sofort jedem ins Auge sticht.
Während die Maskenbildnerin noch mit ihrer Puderquaste die Farbschicht im Gesicht einer der Gäste zu meiner Linken auffrischt, neigen sich der Talkmaster und die Assistentin zu ihr und flüstern ihr etwas ins Ohr. Kaum ist sie mit ihrer Arbeit fertig, stürzt sie sich auf mich. Ihre Arme fliegen durch die Luft, als wollte sie irgendwelche bösen Geister vertreiben. Die schnellen Bewegungen und vor allem all die Schatten, die sie dabei auf mich wirft, stiften bei mir Panik.
Denk nicht dran! Verdammt noch mal, denk nicht dran!, schnappe ich gierig nach Luft, denn ich befürchte, bald keine mehr zu bekommen. So lange es in meinem Kopf rattert, ist mein Körper wie gelähmt und kann sich nicht zur Wehr setzen. So gelingt es ihr, ungehindert die obersten Knöpfe meiner Bluse zu öffnen und die Seitenteile so weit auseinanderzuklappen, dass man sogar in der letzten Reihe den Ansatz meines Büstenhalters erkennen kann. Da sie rasch wieder die Finger von mir nimmt, sehe ich die Gefahr als gebannt und kaum setzt sie einen Schritt zurück, will ich mich auch schon wieder verhüllen.
„Ihr prüdes Erscheinungsbild passt nicht in diese Sendung“, lässt mich Vinz umgehend wissen.
„Sie haben mich doch eingeladen. Haben Sie sich vorher etwa nicht nach mir erkundigt?“, streife ich mir beruhigend über die Schenkel, in denen es kribbelt. Die Gedanken an Flucht sind präsenter als die ausgesprochenen Worte und lenken mich ab. Womöglich reagiere ich deshalb anders wie sonst, wenn ich in unangenehme oder gar bedrängende Situationen gerate.
„Das Publikum hat entschieden“, kontert er, um das Versäumnis zu erklären.
„Meines oder Ihres?“, entgegne ich, da hat er noch gar nicht zu Ende gesprochen.
Er verstummt, was bei mir dem Versiegen eines Sturmes gleichkommt und ich gleich wieder in meine gewohnte Rolle eintauchen will, schweigend, hinnehmend und noch viel mehr, aber es gelingt mir urplötzlich nicht. Vielleicht liegt es an der aufdringlichen Schminke, die mich an der Oberfläche treiben lässt, wie ein Fettauge …
Wer meint, ich wäre angeekelt, der irrt. Die Show hat noch gar nicht angefangen und ich langweile mich schon. Als hätte man mich zu einem Schuhausverkauf gelockt, ohne ein einziges Paar Schuhe in meiner Größe vorrätig zu haben.
Die schrillen Farben, die Mischung aufdringlicher Parfüms und das derbe Vokabular meiner Sitznachbarn sind unangenehm wie der Staub, den eine kräftige Windböe einem ins Gesicht trägt und der sich unter die Kontaktlinsen verirrt. Man würde es gerne ignorieren, aber es geht nicht. So auch die Ausführungen, denen nach durch die Hände der Frau zu meiner Linken mehr Männer gewandert sind, wie durch meine eigenen Bücher zum Signieren. Meine anerzogene konservative Art, die ich bislang wie ein Aushängeschild mit mir herumtrug, schnürt mir allmählich die Kehle zu. Bewusst lege ich mir die Hände in den Schoß, damit von dem lästigen Staub nichts an mir haften bleibt.
Ich nenne es Abgrenzung, aber es sind mehr Scheuklappen, die es mich lange nicht merken lassen: Das innere Strahlen, die Freude, mit der sie allesamt von ihrem Leben und Erfahrungen erzählen. Etwas, was mir in all den Jahren hinter der künstlichen Fassade gänzlich abhandenkam.
Mein Blick verselbständigt sich und flüchtet sich zum Ausgang. Um mich einem möglichen Fiasko zu entziehen, ist es leider zu spät, denn das Licht über der Tür leuchtet längst rot. Wenn ich also nicht mit puterrotem Gesicht vor laufender Kamera aus dem Studio türmen möchte, muss ich mich zusammenreißen und es einfach aussitzen. Im Geiste verfluche ich meine Verlegerin, die sich offenkundig genauso wenig über diese Show informierte, wie der Talkmaster über mich.
Gleich nach den ersten paar Sätzen klinke ich mich gedanklich aus der Unterhaltung raus. Von Anfang an geht es im Grunde genommen nur darum, wie dick und lang er sein soll. Zusätzlich wird das Pro und Kontra verschiedensten Geschlechtsverkehr-Praktiken erläutert. Mein Paradethema – Romantik – bleibt gänzlich auf der Strecke.
Ich schweige die gesamte Zeit. Nicht nur, weil sich meine Zusage für diese Show als eine Fehlentscheidung entpuppte. Den wahren Grund kennt außer mir nur Marcus …
Ich kann gar nicht mitreden, denn ich habe in Wirklichkeit keine Ahnung. Mir mangelt es nicht nur am Wissen, sondern und vor allem an Erfahrung. Während es meine Liebesromane regelmäßig auf die Bestsellerlisten schafften, praktizierte ich mit Marcus Blümchensex im Dunkeln. Über einen Orgasmus weiß ich lediglich, wie er buchstabiert wird. Eigentlich belog ich mich all die Jahre selbst, und zwar jedes Mal, wenn ich im Zusammenhang mit Marcus an heißen Sex dachte.
Aber auch dies ist ein Teil meiner Fassade, meines konstruierten Alltags und gehört, wie so manch anderes, eben zu meinem Leben. Ich habe früh gelernt, mich damit zufriedenzugeben.
Je tiefer ich in meine eigenen Gedanken versinke, umso mehr nehme ich mein Umfeld wahr, als wäre es nur ein Fernsehbild. Sogar das gesprochene Wort rauscht eines nach dem anderen an mir vorbei, als fänden sie es nicht wert, mich zu erreichen.
Aus langer Weile streife ich mit dem Blick durch die Zuschauerreihen. Gedanklich flüchte ich mich zu meinem neuen Roman und suche von neuem nach einer Vorlage für den männlichen Protagonisten, denn, sollte Harder so bleiben, wie er ist, wird sich Alaska nie in ihn verlieben.
Ich mustere die Anwesenden Reihe für Reihe, nehme mir dann den Kameramann vor und kehre am Ende ohne die erhoffte Inspiration zurück zu unserer Runde, als ich ihn erblicke. Hinter dem Moderator, auf der Schwelle zwischen dem Set und der Kulisse … „Ach ne“, flutscht mir lautstark über die Lippen, bevor ich es mir verkneifen kann.
„Outen Sie sich eben als Verfechterin von: kein Sex vor der Ehe?“, katapultiert mich der Moderator umgehend in den Fokus.
Die Frage erscheint mir wie ein Presslufthammer, der meine Fassade durchbrechen will, um mein Innerstes zum Vorschein zu bringen. Mir bleibt die Luft weg, nicht nur, weil ich diese anhalte.
„Schätzchen“, legt mir die Frau, die auf dem Sessel neben mir sitzt, ihre Hand auf den Schenkel. Sofort drehe ich den Kopf zu ihr und mustere sie. Sie trägt ein Oberteil und Hose aus Latex. Beide Teile sind so eng, dass es den Anschein hat, man hätte ihr die flüssige Masse direkt auf den Körper gegossen. Das Oberteil besitzt einen tiefen Ausschnitt, die Brüste quellen aus dem heraus. Ich zucke erschrocken zurück.
„Du willst doch nicht einen Sack kaufen, ohne den Kater, der sich darin verbirgt, vorher nicht getestet zu haben? Was ist, wenn er es nicht bringt?“, zwinkert sie mich an und mir fällt erst jetzt auf, dass ihr breiter Lidstrich bis fast zum Haaransatz reicht.
„Nicht bringt?“, verdutzt ziehe ich den Kopf wie eine Schildkröte zwischen den Schultern ein und zeitgleich auch die Stirn in Falten.
„Einen gemütlichen Abend beim Fernsehen, Essen oder Kino kann man auch mit Freunden oder Kollegen verbringen. Willst du bei einem Typen, der dir gefällt, nicht erfahren, ob er auch im Bett was taugt, ehe du deine kostbare Lebenszeit mit ihm vergeudest?“
Ich komme gar nicht dazu, mir zu überlegen, was mir mit Marcus alles hätte erspart bleiben können und beschäftige mich lediglich mit der Frage, wie sie sich wohl den Arbeitsalltag einer Autorin vorstellt, wenn die Rede von Kollegen ist.
Vinz bohrender Blick verlangt nach einer Antwort. Ich habe tatsächlich eine und nicht erst seit kurzem, sondern seit ich mich entsinnen kann. Der Schock, der mich so wortkarg macht, hat nichts damit zu tun, dass ich mich wieder mit der Eheschließung auseinandersetzen soll. Jedes Mal, wenn in dieser Runde das Wort Sex fällt, fühle ich mich, als wäre ich der Sprache, die sie alle zu sprechen scheinen, nicht mächtig. Nicht, als wüsste ich nicht, wie es geht. Mehr, als käme ich aus einem fremden Land, wenn nicht gar von einem anderen Planeten mit anderen Bräuchen und Voraussetzungen. Und da dies auch ein Teil meines Geheimnisses ist, das ich hinter der starren Fassade verstecke, starre ich ihn schweigend an.
Derweilen ich mir den Kopf zermartere, wie ich aus dieser Sache ohne Blessuren rauskommen kann, dreht er sich zum Publikum und richtet sein Wort auf dieses: „Liebe Männer. Wir haben euch vor dem Beginn der Show einige der Bücher von Frau Jansen zur Ansicht vorgelegt …“
Die Assistentin nähert sich unserer kleinen Runde und legt ihm eines der angesprochenen Exemplare in die offene Hand. „Ihr durftet schmökern und hattet Zeit, die eine oder andere Seite zu lesen. Stellt euch also folgende Szene vor …“
Der Vorhang, den ich die ganze Zeit für Dekoration hielt, geht auf und offenbart eine weitere kleine Bühne. Mittig dieser steht ein Bett. Darin räkelt sich eine ausgehfertig geschminkte Frau. Allerdings steckt sie in einem altmodischen Flanellpyjama, der bis unters Kinn zugeknöpft ist. Neben ihr liegt ein Mann wie aus einem Katalog ausgeschnitten. Im Gegenteil zu ihr ist er nackt und das womöglich sogar unter der Bettdecke, mit derer Zipfel er seine Lenden bedeckt. Die braungebräunte Haut glänzt im Licht, als wäre er eingeölt.
Das Publikum applaudiert und lacht. Sogar ich erhebe interessiert die Augenbrauen, kann mich vorerst nicht an seinen Muskeln sattsehen. Schriftstellertechnisch – versteht sich. Leider passt der Körper eher zu einem Holzfäller als zu einem Bankdirektor und damit erweist sich auch dieser Mann für meinen neuen Roman als gänzlich ungeeignet.
Nachdem der Applaus versieht, lässt der Typ die Brustmuskeln tänzeln, kokettiert auf diese Art mit dem weiblichen Publikum. Erst als auch das letzte Kichern versiegt, dreht er sich zu der verhüllten Frau, spitzt die Lippen, doch sie weicht dem Kuss aus, dreht sich zur Seite, greift nach dem Buch, das auf dem Nachtkästchen liegt. Es ist das gleiche Buch, wie das in der Hand des Moderators. Sie setzt sich eine altbackene Lesebrille auf, schlägt eine Seite auf und liest laut vor: „Gott“, seufzt sie auf die gleiche Art, wie ich in der einen Nacht, nach meiner ersten Begegnung mit dem Unbekannten. „Ist er gutaussehend! Sein Körper fühlt sich so unbeschreiblich gut unter meinen Händen an. Besser wirds nur, wenn ich selbst unter ihm begraben liege …“
Das Entsetzen zündet eine atemraubende Hitze in mir. Bevor ich die Knöpfe meiner Bluse löse, um mir Erleichterung zu verschaffen, will ich lieber ersticken.
Das männliche Publikum pfeift und ruft „Buh!“ Sie sind ebenso entsetzt wie ich, auch wenn ich glaube, aus einem ganz anderen Grund. Keinem von ihnen mute ich zu, auch nur eine Zeile aus diesem Buch gelesen zu haben. Somit wissen sie nicht, dass der zweite Satz im gesamten Buch nicht vorkommt. All meine Protagonistinnen werden liebkost, mit Küssen bedeckt, mit zärtlichen Berührungen überhäuft, aber nicht begraben!, schnaube ich innerlich vor Wut.
„Mit mir an der Seite kommt keine Frau in die Verlegenheit, sich in solche Fantasien zu flüchten!“, tönt es urplötzlich aus der hintersten Zuschauerreihe. Dann steht auch schon ein Mann auf, zieht sich sein Shirt aus, um allen zu zeigen, dass er sich mit dem Muskelprotz von der Bühne in puncto Aussehen und Figur messen kann.
„Das kann nur von jemand kommen, der Angst hat, nicht in den Fantasien der Frau vorzukommen“, sprudelt förmlich über die Lippen meiner Sitznachbarin, wie, wenn man eine Colaflasche vor dem Öffnen geschüttelt hätte.
Mein Blick springt von einem zum anderen, ich komme aus dem Staunen nicht raus. Während die Rede von meinem Roman ist, ist mir, als hätten sie heimlich in dem Buch meines eigenen Lebens gelesen …
Wie das?, fühle ich mich durchschaut.
„Was kümmern mich ihre Fantasien? Ich will wissen, was sie unter ihrem Pyjama versteckt“, steht auch schon der Nächste auf und zeigt auf die Frau im Bett.
„Bei einem Exemplar wie dir würde ich freiwillig aus dem Bett flüchten. Ein Mann, der sich nicht für meine Fantasien interessiert, ist nicht der Richtige für mich …“, entgegnet eine Frau aus dem Publikum und lässt mich weiter staunen.
Die kleine Kostprobe, inklusive nicht vorhandenen Zitates zettelt eine hitzige Diskussion an, die nur wenig später in einem lauten Durcheinander ausufert. Vinz ist bemüht, die Gemüter zu besänftigen und für Ruhe im Studio zu sorgen.
Meine Sitznachbarin schmunzelt begeistert und flüstert mir zu: „Ehrlich, Schätzchen, das hätte ich dir nicht zugetraut.“
Mir ist die allgemeine Aufregung unbegreiflich. Aber nicht nur deshalb streift mein Blick durch das Studio. Die lauten Stimmen erzeugen ein Rauschen in meinem Gehörgang, das mich an ein verdrängtes Ereignis erinnert …
Denk nicht dran!, reibe ich die Lippen mit viel Druck aneinander. Verdammt Eve!, rufe ich mir so laut in Gedanken zu, bis ich das Rauschen übertöne und die sich anbahnende Panikattacke damit ersticke.
Beruhigt kehrt mein Blick zu unserer Runde und stolpert wieder über den Fremden, der sich, für das Publikum nicht sichtbar, hinter Vinz Rücken mir direkt gegenüber aufhält.
Seine linke Augenbraue ist deutlich angehoben, dafür das rechte Auge etwas zugekniffen. Mit dem Daumen streift er sich über die Lippen, worauf ich sofort aufhöre, meine aneinander zu reiben.
„Frau Jansen, also …!“, keucht Vinz mit einem Lächeln auf den Lippen. Die tiefen Falten auf seiner Stirn berichten hingegen von einer inneren Unruhe. „Was soll ich sagen?“, wendet er sich von mir ab und deutet auf das Publikum. Dabei fasst er sich an den Ausschnitt seines Hemdes, rüttelt daran, um sich Luft zuzufächeln. „Ihr Buch hat mich wahrhaftig ins Schwitzen gebracht.“
Kein Applaus, aber auch kein Lachen. Ich kann nicht einschätzen, ob es ein Kompliment sein soll oder er mich lächerlich machen will.
Nebst allen möglichen Empfindungen brodelt es in mir weiterhin vor Wut, weil er mein Buch mit diesem missratenen Satz entstellte. „So“, entringe ich mir schließlich.
„Dass jemand mit Ihren Wertvorstellungen das Zuschauerlager spalten würde, hätte ich mir nie träumen lassen. Aber ja“, nickt er in meine Richtung. „Viele scheinen zumindest an die wahre Liebe zu glauben und nehmen sich die nötige Zeit, der vorherrschenden Schnelllebigkeit zum Trotz.“
„Beinahe tut es mir leid, bei einer Sendung wie dieser nicht an den Pranger gestellt zu werden“, sagt meine Sitznachbarin. Ich drehe den Kopf und treffe auf ein breites Grinsen in einem Gesicht, das die ganze Zeit so düster wirkte, dass ich mich vor der Frau tatsächlich fürchtete. „Aber im Grund suchen wir alle nach dem Mr. Right. Nur, dass wir uns die Zeit der Suche auf unsere Art und Weise vertreiben …“, holt sie das Ding vom Karabiner, das schon die ganze Zeit an ihrer Taille baumelte und mich über seinen Sinn und Zweck sinnieren ließ. Sie schwingt es durch die Luft, worauf ein lauter Knall ertönt und mich vor Schreck zusammen fahren lässt.
Apathisch lasse ich die Vorführung auf mich wirken und erliege schon wieder dem Drang, nach dem unbekannten Mann zu sehen.
„Besuch mich mal in meinem Studio. Bei einem Glas Wein könnten wir dieses Gespräch fortsetzen und vielleicht sogar etwas vertiefen.“
„Mal sehen“, schaffet es diesmal mehr als nur eine Silbe über meine Lippen.
Vinz steht auf und geht auf das Publikum zu. Damit läutet er das Ende dieser Show an und überlässt mich dem Wirrwarr in meinem Kopf, den diese Show angezettelt hat.
*
Ohne das Buffet auch nur anzuschauen, eile ich in die Garderobe. Mal sehen? Eve?, staune ich über mich selbst. Erst wenn die Hölle zufriert, wäre eine gute Antwort. Oder – nur über meine Leiche. Im nächsten Leben vielleicht, aber doch nicht – mal sehen?!, packe ich schnell meine paar Sachen zusammen und flüchte in die Garage. Ich laufe über den riesigen Parkplatz, entriegle mit der Fernbedienung schon von weitem den Wagen. Als ich das Auto erreiche, bin ich völlig aus der Puste. Ich werfe die Handtasche auf den Beifahrersitz und sinke hinters Lenkrad. Es knallt laut, als die Tür hinter mir zufällt. Mit einem einzigen Knopfdruck aktiviere ich die Zentralverriegelung.
Ich bin schweißgebadet und es wäre an der Zeit, tief Luft zu holen, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
„Der Richtige …“, stoße ich hinaus, wie eine Beschwörung. Natürlich hielt ich Marcus nie für den Richtigen für mich. Dieser Platz war nur ein einziges Mal zu vergeben und auch wenn das nicht funktionierte … „Denke nicht daran!“, fauche ich laut und wische mir mit den Handrücken über die Augen, da Schweiß in den Augen echt fies sein kann. Neben den Schweißperlen trockne ich auch noch die eine oder andere Träne … „Mein Gott, was habe ich getan?!“, spreche ich endlich das aus, worüber ich mir seit dem Disput den Kopf zermartere.
Seit Jahrzehnten verstecke ich mich hinter einer konstruierten Persönlichkeit. Gleichzeitig offenbare ich unterschwellig, aber vor allem unbewusst, in jedem meiner Bücher meine eigene Lebensgeschichte.
Ohne hinzusehen, greife ich nach meiner Handtasche, lege sie mir in den Schoß und wühle darin nach Taschentüchern. Die paar Tränen haben die hartnäckige Schminke endlich gelöst und ich rubble mir das Zeug mit viel Kraft von der Haut. Umgehend fühle ich mich leichter, auch wenn nicht unbedingt erleichtert.
Ich starte den Motor, schalte das Licht an und lege die Tasche zurück auf den Beifahrersitz.
„Hm, wo kommt der daher?“, entdecke ich einen kleinen Zettel in dem Spalt zwischen Sitzfläche und Rückenlehne stecken. Ich lege die Tasche ab und nehme das viereckige Stück Papier zwischen die Finger. Eine Rechnung? Habe ich etwa einen Strafzettel vergessen? Neugierig falte ich das Stück Papier auseinander.
Mein Oberkörper knickt so schnell ein, dass ich mit der Stirn gegen die Hupe schlage. Eine derartige Hitze steigt mir in den Kopf, dass ich am liebsten das Fenster aufmachen würde. Doch dafür entfacht die Botschaft ein Kribbeln in meinen Fingern, sodass ich den Schalter nicht betätigen kann.
Als Aller erstes schaue ich in den Rückspiegel. Nachdem ich dort niemanden sichte, wage ich es, mich umzusehen. Doch die Garage ist leer. Mit angehaltenem Atem lese ich die Nachricht nochmals durch: „Du hast schon recht. Tiefe Ausschnitte brauchen bedeutend mehr Selbstwertgefühl …“
Die ansteigende Röte in meinem Gesicht löst die Hitze in meinem Kopf ab. Verlegen senke ich den Blick, betrachte die Knöpfe, an denen man noch mit Sicherheit die Fingerabdrücke der Visagistin finden würde.
Ein Ächzen zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Aufzugstür öffnet sich langsam. Ich lasse den Zettel sofort in meiner Handtasche verschwinden, starte den Wagen und rase mit Vollgas davon.
6
Mein Terminkalender ist zum Bersten voll. Interviews, Sponsorentreffen, Preisauszeichnungen, Lesungen, Autogrammstunden und gemeinnützige Veranstaltungen. Entweder bin ich unter Menschen oder nutze die restliche Zeit und arbeite an dem Manuskript.
In meinem Kopf ist kein Platz mehr für Erinnerungen an Marcus. Dafür gibt es genügend Lücken, die umgehend mit den Gedanken rund um und über den Fremden gefüllt werden.
In der Öffentlichkeit erwische ich mich immer wieder dabei, wie mein Blick durch die Masse streift. Auf der Straße schaue ich in die Auslagen, in denen sich die Passanten spiegeln.
Vergebens.
So uneingeladen er in mein Leben trat, so rasch verabschiedete er sich offenbar auch wieder. Er scheint das Interesse an mir verloren zu haben, falls … Falls ich mir sein Interesse nicht nur einbildete.
*
Die Promenade des Einkaufszentrums erinnert an die Abfertigungshalle am Flughafen. Ihre Größe wie auch der darin vorherrschende Tumult. Will man mich finden, muss man zwischen den vielen Kauflustigen nach mir suchen wie nach dieser bekannten Nadel. Wenngleich alle Plakate und Wegweiser einen bis zu meinem Tisch führen, umgeben von den buchbegeisterten Fans bin ich dennoch kaum zu sehen.
Mit dem eingeübten Lächeln auf den Lippen signiere ich seit Stunden die mitgebrachten Bücher der Fans. In meinen Gedanken brodelt es vor Zorn, denn Harder, die männliche Hauptfigur meines neuen Romans, stellt sich äußerst ungeschickt an und passt absolut nicht in mein gewohntes Konzept.
Ich schreibe gerade die üblichen Zeilen in das Buch einer jungen Mutter, die sich während dessen bemüht, das Baby in ihren Armen zu beruhigen. Um uns herum ist es sehr laut, dennoch vernehme ich das leise Surren eines Handys.
Überrascht sehe ich mich um, denn es klingt, als wäre es in unmittelbarer Nähe und auf meiner Seite des Tisches gibt es neben einem Stapel Bücher, Lesezeichen und anderer Goodies niemanden außer mir.
Dann fällt mir das leuchtende Display in meiner offenen Handtasche auf und das versetzt mich wahrhaftig ins Staunen. Die offene Tasche wie auch das Surren, denn ich glaube, mich zu erinnern, den Reißverschluss nicht nur zugemacht, sondern die Tasche auch noch unter dem Tisch verstaut zu haben. Zudem erwarte ich gar keinen Anruf. Das Handy habe ich erst ein paar Wochen und außer meiner Verlegerin Annemarie ergab sich noch gar keine Gelegenheit, die neue Nummer jemandem zu geben. Gerade an einem Tag wie heute würde Annemarie nicht mich anrufen, sondern sich an meine Assistentin wenden.
Ich bemühe meine Augen: unbekannter Teilnehmer.
Das beschert mir ein paar Grübelfalten und aufgeplusterte Wangen. Doch kaum atme ich die angestaute Luft raus, fokussiere ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Fan und lasse das Telefon unberührt an seinem Platz.
Das schreiende Baby schläft wie auf Knopfdruck ein und die glückliche Mutter bekommt ihr Buch mit einer Widmung zurück. Bis die nächste Autogrammjägerin dran ist, bleiben mir ein paar Sekunden. Gerade als ich dem Handy wieder etwas von meiner Aufmerksamkeit schenken möchte, verstummt es.
Der nächste Fan bittet mich um ein paar persönliche Worte, weshalb ich mich nach seinem Namen erkundige. Da zappelt das kleine Ding von neuem wild in der Tasche herum. Ich ärgere mich über diese Unpässlichkeit. Damit ich dem Drang leichter widerstehen kann, dem Störenfried die Meinung zu geigen, zupfe ich mit den Fingern am Reißverschluss meines Rollkragens herum, um mich abzulenken.
Es ist mir zu wider, wenn Menschen die Möglichkeit der Anonymität nutzen und sich hinter dieser verstecken. Dabei vergesse ich selbst all zu oft, dass mein Pseudonym auch nur ein Schutzschild ist, mit Hilfe diesen ich mich meiner eigenen Vergangenheit entziehen will.
„Wenn jemand mit mir reden will, dann soll er sich gefälligst zu erkennen geben“, murmle ich leise.
„Möchten Sie nicht rangehen? Ich warte gerne“, bekommt es ein Mutter-Tochter-Gespann mit.
„Nein“, erröte ich verlegen. „Das ist nicht wichtig.“
Noch während ich die Widmung schreibe, verstummt das Unding abermals.
Eine Stunde später lässt der erste Ansturm nach und ich gönne mir eine Pause. Natalie besorgt uns Tee und setzt sich zu mir. Wir unterhalten uns – worüber sonst – über den Ausverkauf im Bücherladen am anderen Ende des Einkaufszentrums. Wir nippen an unseren Tassen und ich lehne mich gerade entspannt zurück, als sich diese Technikerrungenschaft abermals zu Wort meldet. Genervt von diesem ständigen „Srrrr“, könnte ich einerseits in die Luft gehen, andererseits vor Neugier platzen, weil ich nur zu gerne wüsste, wer mich so unbedingt sprechen möchte. Im selben Moment, als ich nach dem Telefon greife, steht Natalie auf und geht zur Seite.
Mit der rechten Hand führe ich mir das Telefon zum Ohr, mit der linken spiele ich erneut mit meinem Reißverschluss.
„Ja?“, halte ich mich knapp.
„Wieder so wortkarg und zugeknöpft …“
Das Telefon gleitet mir aus der Hand. Einige Sekunden jongliere ich damit herum, bis es wieder sicher in meiner Hand landet. Binnen dieser paar Sekunden schießt mein Puls durch das Kaufhausdach und mein Herz bleibt mir auf der Zungenspitze hängen. Dies verdanke ich lediglich meinen aneinandergepressten Lippen.
Die freie Hand lege ich mir auf die Brust, um mein rasendes Herz zu beruhigen. Suchend sehe ich mich in der großen Halle um, blicke in den oberen Stock hinauf, stöbere mit den Augen das Gelände vor den Geschäften durch, schwenke den Kopf zu dem Schnellrestaurant hinüber, kontrolliere sämtliche Cafétische rundherum.
Er ist nirgendwo zu finden.
„Denkst du nicht, dass – würdest du dir mit solch engen Kragen nicht die Kehle zuschnüren, wenn es darauf ankommt, du es bis zu einem vollständigen Satz bringen würdest?“
Ich nehme die Hand von meiner Brust weg und greife mir damit in die hochgesteckten Haare, als wollte ich durch das Berühren meiner Schädeldecke die rotierenden Gedanken anhalten, denn seine Worte rühren wie ein Strohhalm in mir um und bringen mich völlig durcheinander. Sie zünden wieder dieses sonderbare Knistern und ich glaube, alsbald anfangen Funken zu sprühen. Bin ich etwa peinlich berührt?, versuche ich mein Befinden zuzuordnen. Verärgert und verängstigt zugleich?, grüble ich über das Rumoren in meinem Bauch. Oder etwa …?, stocke ich. Nein, erregt fühle ich mich keinesfalls. Glaube ich zumindest.
Nochmals forste ich mit dem Blick die Gegend durch. Ganz genau betrachte ich jede Stelle, von der man erkennen könnte, wo sich meine Hände befinden. Aber auch dieses Mal kann ich ihn nirgendwo entdecken.
Langsam finde ich zurück zur Ruhe. Und je mehr Zeit verstreicht, umso sicherer kommt mir der Platz vor, an dem ich mich befinde. Mitten im Getümmel, unter so vielen Menschen, fühle ich mich plötzlich zu etwas herausgefordert, was mir sonst nicht einmal im Traum in den Sinn käme.
Ich nehme erneut den Reißverschluss in die Finger und ziehe ihn ganz langsam in die Tiefe. Wie in Zeitlupe, Millimeter für Millimeter, Zahn für Zahn. So tief hinunter, dass man die pastellrosa Spitze meines Unterhemdes erkennen kann. In Erwartung eines Kompliments, da ich glaube, eine ganze Menge an Selbstbewusstsein bewiesen zu haben, lehne ich mich zurück …
„Wie hat es dir in München gefallen?“
Es trifft mich wie ein Blitz.
„Und in Bern? Langweilig?“
Das verschmitzte Lächeln, für das ich Jahre brauchte, um es perfekt zu beherrschen, friert mir im Gesicht fest.
„Hast du mich etwa vermisst?“
Mir stockt der Atem.
„Vielleicht täusche ich mich … Aber es sah so aus, als hättest du überall Ausschau nach mir gehalten.“
Seine Worte prasseln auf mich herab wie Hagelregen. Die Kälte rüttelt mich umgehend wach. Ich drücke auf die Taste, beende das Telefonat. Dann ziehe ich mir augenblicklich den Reißverschluss hoch. Ich springe auf, ergreife meine Handtasche und den Mantel und wende mich an Natalie. „Ich muss dringend weg. Könnten Sie mir bitte ein Taxi rufen?“
Ich verspüre ein sonderbares Kribbeln rund um meine Nase, was ich aus Erfahrung mit Blässe in Verbindung bringe. Natalie bestätigt mich in meiner Annahme, denn sie fragt gar nicht erst nach dem Grund für meinen plötzlichen Aufbruch, sondern organisiert mir schnell einen Wagen und begleitet mich sogar ohne Aufforderung zum Ausgang.
Auf dem Weg nach draußen sehe ich mich um. In jedem Lächeln, das mir begegnet, vermute ich ein hämisches Grinsen. Zufällige Blicke deute ich als abwertendes Mustern. Mir selbst bleibt es ein Rätsel, wie ich mich so gehen lassen konnte. Marcus erlaubte ich in der Öffentlichkeit weder zärtliche Berührungen noch intime Gesten. Für diesen Fremden zog ich mich beinahe aus. Und er hat mich tatsächlich erwischt. Noch nie habe ich mich nach fremden Männern umgesehen. Schon gar nicht nach irgendwelchen mit Absicht gesucht. Ich schäme mich, wenn ich nur daran denke und jetzt, wo ich weiß, dass er dies mitbekam, finde ich es ganz schrecklich.
Schrecklich erregend …
An den, den es angeht
An den, den es angeht
© 2020 Zoe Zander
An den, den es angeht
Liebesroman
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Covergestaltung: Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Korrektorat: Stefanie Brandt
Postadresse:
Zoe Zander
Albertgasse 49/12a
1080 Wien
Email: zander.zoe@gmail.com
Autorenseite: www.zoe-zander.at
Das Buch
Auch Autorinnen sind nur Menschen und ebenso nicht davor gefeilt, schlechte Erfahrungen zu machen.
Eve Jansen ist keine Ausnahme. Mehr noch. Nach dem ihr persönliches Happy End auf sich warten lässt, kehrt sie der Realität den Rücken zu und flüchtet sich kurzerhand in die von ihr erschaffenen Geschichten.
Erst als sie zum zweiten Mal vor den Trümmern ihres Lebens steht, erkennt sie, wie nah sie diesem Glück die ganze Zeit stand und befürchtet, es dieses Mal für immer zu verlieren …
Informationen zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Von angel für MASTER A.
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„Der Verkäufer hat mir wesentlich mehr Enthusiasmus prophezeit“, kommentiert er meine Apathie.
„Vielleicht hättest du ihm einen Antrag machen sollen“, starre ich ihn an, als wäre er ein Wildfremder.
Der herben Enttäuschung zum Trotz macht er keinen Anstand aufzustehen. Als würde er die Hoffnung hegen, ich könnte meine Meinung ändern.
In meiner Laufbahn als Autorin habe ich schon so oft meinen Protagonistinnen einen Antrag gestellt, dass man mich für die Erfinderin dieser Szene halten könnte. Aber der Ring, der für meinen Finger gedacht ist, lässt mich völlig kalt. Nicht der richtige Mann? Unpassender Augenblick? – ich suche gar nicht nach einer Antwort, denn in Wirklichkeit weiß ich genauestens Bescheid.
„Wir sind jetzt seit über zehn Jahren ein Paar. Ich hielt unsere Beziehung in jeder Hinsicht für … ja, für perfekt. Ich dachte, du wärst glücklich …“, staunt er.
Mein Blick versinkt in den tiefen Falten auf seiner Stirn. In Gedanken gehe ich die Momente durch, in denen ich ihm diese glatt streichelte: Wenn er sich über seine Klienten ärgerte; wenn der Richter mal tatsächlich zu Gunsten der Gegenseite entschied. Oder, wenn seine Aktien an Wert verloren … Es sind jedoch nicht meine Augen, mit denen ich ihn ansehe, sondern die Augen meiner Protagonistinnen. Womöglich sind deshalb seine Probleme für mich nicht von Bedeutung.
„Ich bin auch glücklich …“, schlucke ich den Knoten runter. „Ich war es, bis zu diesem …“, ich deute zu ihm hinunter und erwische mich dabei, wie ich den Ring mustere.
Er muss ein Vermögen gekostet haben!
Das erste Mal seit Beginn unserer Beziehung denke ich übers Geld nach. Über sein Geld nach und das rüttelt mich tatsächlich wach.
So viele Jahre lag mir meine Mutter mit einem Mann, Ehe und Familie in den Ohren. Nun habe ich alle drei zum Greifen nah und … für einen Augenblick überlege ich tatsächlich, ob ich den inneren Widerstand ignorieren und den Ring annehmen soll.
Marcus mustert mich. Womöglich denkt er, ich würde wieder mal lediglich meinen Willen durchgesetzt bekommen wollen. Er begreift nicht, dass ich lediglich versuche, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Doch wie meist gelingt es mir nicht. Meine Gedanken schweifen ab. Im Geiste stöbere ich mein Schmuckkästchen durch. Ich suche nach dem Stück, das ihm als Muster für den Verlobungsring diente. Aber ich vermisse nichts. Das wäre mir bestimmt aufgefallen, als ich vorhin, nach unserem gemeinsamen Restaurantbesuch, meine Ohrringe ablegte.
Er muss die Größe geschätzt haben. Und obwohl ich diesen Ring nie anprobieren werde, weiß ich, er würde passen. Marcus ist in solchen Sachen perfekt, im Gegenteil zu mir, die nur perfekt ist, wenn sie in einer Rolle steckt. Der Rolle einer ihrer Figuren oder der Autorin. Aber nicht der Partnerin. Schon gar nicht Verlobten oder gar Ehefrau.
Alleine der Gedanke versetzt mich dermaßen in Panik, dass ich ohnmächtig werden könnte.
„Dann besiegeln wir unser Glück. Schluss mit dem ewigen Versteckspiel und vorgetäuschter Distanz. Mit diesem Ring zeigst du der ganzen Welt: Wir gehören zusammen …“
„Damit …“ Ich reiße ihm die kleine Schatulle aus der Hand. Dann klappe ich sie zu und lege sie … Ich werfe sie auf den Tisch.
Sie schlägt auf der Glasplatte auf, worauf ich vor Schreck zusammenfahre. Den Tisch kaufte ich erst vor einigen Tagen und nun hätte ich ihn mir beinahe selbst kaputt gemacht.
Die Schatulle schlittert bis zur Kante, ohne Schaden anzurichten.
„Damit machst du alles kaputt!“ Vielleicht hätte ich erwähnen sollen, dass er im Begriff ist, meine, die von mir erschaffene Welt kaputt zu machen, aber das erscheint mir im Moment nicht wichtig. Wichtig ist mir nur, aus dieser Szene zu flüchten, ehe ich tatsächlich ohnmächtig werde.
Ich schiebe meinen Hintern die Couch entlang bis zum Seitenrand, stehe auf und gehe einige Schritte von Marcus weg. All die Jahre vertraute ich ihm blind und ohne irgendwelche Bedenken. Jetzt schlägt mein Herz erschreckend panisch.
Zögernd steht er auf. Mit einem Nein rechnete er nicht. Das steht ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich verstehe dich nicht. Überall, wo du in der Öffentlichkeit auftauchst, wirst du gefragt, ob du bei den zahlreichen Verehrern ans Heiraten denkst. Und du antwortest jedes Mal, es hätte dich noch keiner von ihnen gefragt“, er kommt langsam auf mich zu und ich sehe mich um, als suchte ich nach einem Fluchtweg.
„Hast du bislang auch nicht“, schützend kreuze ich meine Arme vor der Brust. Gerade rechtzeitig, denn er will mich umarmen und steht nun mit weit gestreckten Armen vor mir.
„Das habe ich hiermit nachgeholt, oder?“ Eine Weile hält er die Arme in der Luft, dann senkt er sie wieder. Unsere Blicke treffen aneinander und ich versinke schlagartig in dem Himmelblau seiner Augen, das mir an ihm immer noch so sehr gefällt. Vor allem, weil es mit meinem eigenen Himmelblau so schön harmoniert. Harmonie ist mir eben auch wichtig.
Für einen Moment vergesse ich seinen Antrag.
Er streift sich eine der weißblonden Locken hinters Ohr, die sich aus seinem sorgfältig gebunden Zopf löste. Nachdenkend neige ich den Kopf zur Seite, folge dieser winzigen Geste, derer er sich mit Sicherheit gar nicht bewusst ist.
Mist, besinne ich mich wieder, ich könnte tatsächlich schwach werden.
Mein Zaudern entgeht ihm nicht. Er unternimmt einen weiteren Versuch, mich zu umarmen.
„Hast du je daran gedacht, dass ich vielleicht gar nicht gefragt werden möchte?“, gestatte ich ihm einen winzigen Blick auf das, was ich all die Zeit so gut vor ihm verbergen konnte. Dabei weiche ich ihm ein weiteres Mal aus, was ihn erschaudern lässt.
„Darüber hast du nie ein Wort verloren.“ Er sieht sehr überrascht aus. So baff erlebte ich ihn noch nie. Sein Gesichtsausdruck fasziniert mich und ich will ihn mir unbedingt merken, um ihn später einer meiner Figuren zu verpassen. Aber womöglich lenke ich mich damit nur ab, um nicht selbst überrascht zu sein. In Wirklichkeit denke ich Tag und Nacht über einen Ring am Finger nach. Nur handelt es sich dabei um keinen Ehering und der Finger gehört auch nicht mir.
Wir stecken in der Situation fest.
Marcus ist Anwalt. Er weist seine Klienten an, was sie zu tun haben. Er überzeugt die Schöffen und stimmt die Richter um. Menschen zu beeinflussen gehört zu seinem Alltag wie Zähneputzen. Nur an mir beißt er sich seine strahlendweißen Zähne aus.
Ich bin Schriftstellerin und erschaffe komplexe Lebensgeschichten. Auch abseits meines Laptops habe ich gerne alles unter Kontrolle. Sogar in der Realität will ich schon im Voraus wissen, welchen Lauf die Dinge nehmen und wie sie am Schluss ausgehen, damit es für mich keine bösen Überraschungen gibt.
So kam stets, dass, egal was Marcus vorschlug, ich die Zügel fest im Griff hielt. Er wollte in den Urlaub – ich bestimmte den Ort. Er hatte Lust essen zu gehen – ich suchte das Restaurant aus. Er verführte mich zum Sex – ich saß im Sattel …
Unbewusst gleite ich mir mit dem Daumen über die Unterlippe und mein Blick landet auf seinen Lenden. Hätte ich vor Stunden geahnt, was er vorhat, hätte ich ihn aus dem Bett geschmissen.
„Wie kommt das? Jede deiner Romanheldinnen sehnt sich danach, gefragt zu werden. Und jede deiner Leserinnen träumt davon …“, zündet er die Unterhaltung von neuem an.
„Ja, stimmt. Scharenweise sehnen sie sich nach einem blauäugigen Adonis mit langer blonder Lockenmähne. Der sie auf Rosen bettet, sie mit Champagner beim Schaumbad verwöhnt und ihnen alle Wünsche von den Augen abliest. Für die wärst du genau der Richtige und jede von ihnen würde dir jetzt bestimmt um den Hals fallen.“
Mir entgeht nicht, wie er die Schultern anhebt. Wie ein wildes Tier, zum Angriff bereit. Nur liegt unser Schäferstündchen längst hinter uns und das romantische Abendessen ebenso.
Und plötzlich sehe ich es klar vor mir – wie die Felder hinter meinem Grundstück, wenn sich der Morgennebel verzieht: Marcus hat sich diesen Verlauf in einem meiner Bücher abgeguckt! In diesem Moment bin ich jedoch froh, dass er nicht beim Essen um meine Hand anhielt. Nicht auszudenken, welches Theater uns und den anderen Gästen damit erspart blieb.
Womöglich denkt er mittlerweile das Gleiche.
„Für die?“, schnaubt er und ich werde mir meiner eigenen Worte bewusst, aber da ist es schon zu spät … „Dann sollte ich vielleicht einer von ihnen den Ring anbieten!“, fliegt ihm überraschend über die Lippen.
Ich bin baff und sein Blick flattert auch kurz ungewohnt unsicher umher. Ehe ich mir die Frage stellen kann, was eine meiner zahlreichen Romanheldinnen wohl darauf sagen würde, schleudert mich ein unbekannter Impuls zur Tür und schüttelt mir sogleich eine Antwort aus der Kehle: „Nur zu. Ich halte dich nicht fest!“, öffne ich die Tür und gebe ihm den Weg frei.
Wie zum Stein erstarrt, verharrt er einige Schrecksekunden auf der Stelle.
Ich vernehme ein leises Schnaufen.
Längst nehme ich nicht mehr real teil an dieser Szene, sondern bin nur noch die Autorin, versunken in eine neue Geschichte. Im Geiste fliegen meine Finger flink über die Tastatur meines Laptops, um diese Gefühlsregung für Ewigkeiten festzuhalten. In meinem Kopf entsteht eine Unmenge an Situationen, in denen der leidenschaftliche Held genau mit dieser Gefühlsregung seiner Angebeteten begegnet …
Und dann läuft Marcus unerwartet los, prescht an mir vorbei. In der aufgewirbelten Luft hinterlässt er eine Duftwolke seines Aftershaves, in die ich eingehüllt werde. Sie umschließt mich wie seine Arme vor Stunden, als er mir zärtlich am Nacken knabberte.
„Brauchst du dazu nicht den Ring?“, reagiere ich überraschend geistesgegenwärtig.
Marcus kommt zurück, schnappt sich die Schmuckschatulle und verlässt von neuem schnaubend mein Haus …
Erneut wickelt sich der herbe Duft eines orientalischen Gewürzes um mich herum. Diesmal straff wie ein Seil. Der zartrosa Hintergrund meiner Gedanken verwandelt sich in ein klirrend-kaltes Schwarz. Meine Knie bekommen dabei eine sonderbar gummiartige Konsistenz. Als wäre aus einer Romanze gerade ein Thriller geworden.
1
Ich ziehe den Lippenstift nach. Er passt wunderbar zu meinem Kostüm in zartem Pastellrosa. Nachdem ich mir den Rock über die Knie zupfte, sehe ich mich um. Egal, wo mein Blick auch landet, überall befinden sich Bücher. Wild durcheinander gestapelt, es gibt kaum freie Stellen. Weder in den Regalen, die entlang der Wände stehen. Vom Boden bis zur Decke, wie ein Tapetenmuster. Ebenso nicht auf den Wühltischen inmitten des Raumes.
Es ist einer dieser kleinen modrigen Bücherläden, die man im Keller, am Ende einer dunklen Gasse, zu Fuße einer steilen Treppe finden kann.
Heute ist dieser Bücherladen auch voller Menschen. Sie drängen sich in den schmalen Durchgängen zwischen den Tischen und Regalen, bemüht es sich gemütlich zu machen. Dann richten sie ihre Blicke auf mich.
Es herrscht Stille.
Ich lege ein Bein über das andere, stoße dabei mit der Fußspitze beinahe einen der Bücherstapel um, die wie Leibwache um meinen Stuhl herum stehen.
In meiner Kindheit war ich oft in solchen Bücherläden. Wenn ich über die Türschwelle schritt, betrat ich jedes Mal eine andere Welt. Wenn keiner zusah, scheute ich nicht, die überladenen Regale hochzuklettern, um eines der Bücher aus der obersten Reihe rauszuziehen. Ich stöberte die Wühltische durch, zeichnete dabei meine Initialen in die dicke Staubschicht, die alles bedeckte. Ich liebte alles. Die Bücherläden, wie auch die Geschichten, die sie beherbergten.
Heutzutage erschaffe ich selbst Geschichten für jede Art von Bücherläden. Ich selbst jedoch komme mir wie ein Fremdkörper vor. Und nach dem gestrigen Streit mit Marcus – sogar in meiner eigen für mich selbst kreierter Lebensgeschichte …
Denk nicht dran!, ermahne ich mich zum ersten Mal seit einer sehr langen Zeit.
Ich schlage das Buch in meinen Händen auf und fange an vorzulesen …
Heute ist bereits der dritte Abend in diesem Monat, an dem ich aus meiner Neuerscheinung Neugierigen und Fans eine Kostprobe vortrage. Bedingt durch den vorhandenen Platzmangel ist mein Publikum überschaubar. Als ich kurz den Blick hebe, treffe ich auf einige bekannte Gesichter.
Im Anschluss holen sich viele der Zuhörer eine Widmung bei mir ab …
„Bitte, schreiben Sie: für Amalia …“
Ich kritzle mit der rosa Tinte – ebenso passend zu meinem Outfit – ein paar persönliche Zeilen in ihr Buch.
Sie nimmt es an sich, rührt sich jedoch nicht von der Stelle. „Und?“
Es ist mehr das kindliche Lächeln in ihrem Gesicht als ihre laute Stimme, das mich aus meinem Tagtraum entreißt.
„Sind Sie schon Ihrem Julio begegnet?“
Das Leben in diesem winzigen, vollgeräumten Raum mit abgestandener Luft steht mit einem Schlag still. Alle warten gespannt auf meine Antwort.
Mit verlegenen Augenaufschlag verabschiede ich mich von dem Helden meiner aktuellen Phantasie und lächle ihr verschmitzt entgegen. „Das bleibt mein Geheimnis.“
Ich überfliege mit verträumtem Blick die vor Enttäuschung seufzende Warteschlange und versenke meine blauen Augen in dem nächsten Buch, das mir gereicht wird.
Dann schluchze ich kurz enttäuscht, weil der Held aus meinem Tagtraum bereits anderweitig nach einem neuen Abenteuer sucht. Das erinnert mich daran, sämtliche Schlösser in meinem Haus austauschen zu lassen …
Der Zorn über Marcus’ vergeblichen Versuch, mir einen Brillantring an den Finger zu stecken, entflammt in mir aufs Neue.
Ich war glücklich mit ihm. Deshalb glücklich, weil die Romanze, die ich vor Ewigkeiten für mich selbst erschuf und die ich tagein tagaus mit ihm durchlebte, so wunderbar funktionierte. Bis zum gestrigen Abend. Nach seinem Antrag fühle ich mich plötzlich, als hielt er das Buch meiner wahren Geschichte in seinen Händen und ich hätte es gerade so abwenden können, dass er einen Blick hinein wirft.
„Schreiben Sie bitte – für Rose.“
Die Erinnerungen an den gestrigen Abend rücken langsam wieder in den Hintergrund. Mein aufgescheuchter Blick irrt kurzfristig ziellos durch das kleine Geschäft.
Während ich aus meinem neuesten Buch las, stiegen sich die Zuhörer beinahe auf die Füße. Der Tisch, der sich noch vor einer Stunde unter der Last meiner Werke durchbog, gähnt jetzt vor Leere. Erschöpft aber zufrieden zähle ich flüchtig die noch wartenden Autogrammjäger durch. Dabei fällt mir ein Mann auf. Er passt überhaupt nicht in das Klischee meiner Fans.
„Natalie?“, wende ich mich an meine Assistentin und lächle unterdessen die wartende Verehrerin an. „Bitte sehr, Rose“, reiche ich das Buch zurück, verliere mich für einen Moment in ihrem Lächeln. Es wirkt herzerwärmend ehrlich und unbelastet … Es gab Momente in meinem Leben, da konnte mein Lächeln mit ihrem mithalten.
Als sich meine junge Assistentin zu mir neigt, drehe ich mich selbst etwas zur Seite. „Der dunkel gekleidete Mann … War er während der ganzen Lesung hier?“, lasse ich mich dennoch nicht von meiner Neugier aufhalten, greife sogleich nach dem nächsten Buch und setze zur Unterschrift an.
„Oh, Frau Jansen, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele wunderbare Stunden mir Ihre Bücher bereits beschert haben!“, jauchzt mich eine Frau mit knallroten Wangen und einem viel zu engem Rüschenkleid an. „Schreiben Sie bereits an Ihrem nächsten Buch?“
Mein Telefon, das neben meiner rechten Hand am Tisch liegt, vibriert sich unterdessen seine Seele aus dem Leib.
„Lassen Sie in der angekündigten Fortsetzung Amanda aus dem Koma erwachen, oder trifft Julio eine neue?“ Ihre Fragen prasseln auf mich nieder wie ein Wasserfall.
„Welcher Mann?“, erkundigt sich Natalie.
Ich drehe den Kopf zur Seite und sehe sie an. Die junge Verlagsangestellte blinzelt mich an.
„Der ernst dreinschauende Typ, der neben der Eingangstür steht.“ Ich würge unterdessen den gefühlt zwanzigsten Anruf von Marcus ab und sehe der nächsten eindringlichen Frage entgegen.
„Wo führt ihn seine nächste Expedition hin?“, ihre Neugier kennt scheinbar keine Grenzen.
„Bei der Tür steht niemand“, erwidert Natalie.
Ich hebe sofort meinen Kopf hoch und strecke mich sogar, nur um mich selbst davon zu überzeugen. Mit dem rechten Daumen schalte ich unterdessen das Telefon aus.
Womöglich sollte ich meiner neugierigen Leserin beichten, dass ich meinen Helden soeben endgültig zum Teufel jagte.
Das kurze Erscheinen des Unbekannten ruft mir die Abgründe meiner eigenen Vergangenheit ins Gedächtnis. Ich schreibe es seinen Gesichtszügen zu. Sie erinnern mich an meine eigenen, die ich unter dem aufgesetzten Lächeln trage. Dann jedoch schiebe ich rasch die Gedanken an den Fremden beiseite und widme mich wieder meiner Leserin. „Lassen Sie sich überraschen, Alice.“
Diese Frau nahm in den letzten Jahren mit Sicherheit an mindestens zwanzig meiner Lesungen teil. Irgendwann kam ich nicht mehr drum herum, mir ihren Namen zu merken. Als ich ihr nun das signierte Buch überreiche, blicke ich nochmals zur Tür. Nachdenkend nage ich an meiner Unterlippe, während ich mit dem Zeigefinger über das schlafende Telefon streichle.
Nein, ich gebe nicht nach.
Ich nehme das nächste Buch entgegen und erkundige mich mit gewohnter Freundlichkeit nach dem Wunsch für die Widmung.
2
„Wieder Mal ein Erfolg!“, verkündet Natalie und hilft mir, den Mantel anzuziehen. Ich mag sie. Sie ist sehr bemüht und ihr Entgegenkommen lässt trotz des langen Tages kein bisschen nach. „Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“, erkundigt sie sich.
„Seien Sie so nett.“ Ich schalte mein Telefon erneut ein und knirsche enttäuscht mit den Zähnen, denn es wird mir kein neu entgangener Anruf angezeigt.
Hat er etwa aufgegeben? Jetzt schon?
„Brauchen Sie noch etwas, Eve?“, piepst mich die junge Frau, die sich auch auf einem Laufsteg sehr gut machen würde, an.
„Nein“, seufze ich, ohne den Blick vom Handy zu lösen, denn ich hoffe dabei auf die Verzögerung der Datenübertragung. Doch es gibt nicht einmal eine Nachricht.
Marcus war stets beharrlich. Dieses Verhalten passt überhaupt nicht zu ihm. Aus Frust beiße ich mir in die Zunge.
„So, Eve. Ihr Taxi ist bald da. Ich begleite Sie noch vor die Tür.“
Gemeinsam begeben wir uns an die frische Luft.
*
„Gute Nacht, Eve.“ Sie ist gerade dabei, die Tür des Taxis zuzuschlagen, als ich sie aus einem Schreck-Impuls am Arm packe. Sie klemmt mir daraufhin beinahe meinen Arm in der Tür ein.
„Dieser Mann, hinter Ihnen, haben Sie ihn schon mal gesehen?“
Natalie verzieht vor Schmerz das Gesicht.
Mich bringt das erneute Erscheinen des Unbekannten komplett aus der Fassung und so bekomme ich gar nicht mit, wie fest ich zudrücke.
Die junge Frau dreht sich neugierig um. „Vielleicht sollte ich mit Ihnen mitfahren. Was halten Sie davon, Eve?“, sieht sie mich ganz eigenartig an. Als hätte ich allen Ernstes behauptet, den Osterhasen gesehen zu haben. Sie macht einen Schritt zur Seite, soweit es ihr mein fester Griff erlaubt und ich verstehe sofort, warum.
Verunsichert sehe ich mich vor dem kleinen Bücherladen um. Von dem unbekannten, düster dreinschauenden Mann mit kaltem Blick ist weit und breit nichts mehr zu sehen.
„Ist nicht nötig, Natalie“, schiebe ich sie gleich wieder zur Seite. „Nur, tun Sie mir bitte den Gefallen und lassen Sie sich von Ihrem Freund abholen“, will ich die Situation retten, um nicht als eine verwirrte, an Verfolgungswahn leidende Mittvierzigerin da zu stehen. Und ja. Da ich in einem sicheren Taxi sitze, mache ich mir vielleicht auch ein bisschen Sorgen um ihre Sicherheit. Der Typ ist mit Garantie kein Osterhase.
Natalie sieht sich nochmals um. „Ja, Eve, ich rufe ihn gleich an.“ Sie schlägt die Wagentür zu und ich vertreibe umgehend jedweden Gedanken an den Mann. Erneut schiele ich das stumme Telefon an, während ich dem Fahrer das Ziel der Fahrt bekanntgebe: „Zum Café Sigma, das ist …“
„Ich weiß“, unterbricht er mich unhöflich und fährt daraufhin los.
An der ersten roten Ampel komme ich zu dem Entschluss, mein Handy muss in der letzten Stunde kaputtgegangen sein. Schließlich zeigt es weder Anrufe noch Nachrichten von Marcus an. Da mir ein nicht funktionierendes Telefon nichts nutzt, lasse ich es kurzerhand in meiner Handtasche verschwinden.
Ich strecke nun meinen Rücken durch und lehne mich entspannt zurück, nur, um im selben Moment vor Schreck aufzuspringen und mit dem Kopf fast gegen die Decke zu schlagen.
Schon wieder dieser Typ. Er steht am Straßenrand, lehnt mit der Schulter an dem Mast der Fußgängerampel und obwohl diese grün leuchtet, bewegt er sich nicht von der Stelle.
Mein Puls springt – wie ich vorhin – in den Himmel und mein Herzschlag verfängt sich in meinen Schläfen. Vor Panik wird mir übel. Fände ich den Typ nicht zum Gruseln, würde ich jetzt die Tür weit aufreißen und mich zwischen den, am Straßenrand parkenden, Autos übergeben. Keine Sekunde später überlege ich es mir anders und verriegle sogar die Tür. Noch während dessen wird mir bewusst, wie kindisch ich mich verhalte.
Alles nur Zufälle, ermahne ich mich zur Ruhe. Dennoch lasse ich ihn nicht aus den Augen, bis das Taxi um die Ecke biegt und er dabei aus meinem Blickfeld verschwindet. Erst jetzt gibt der Druck in meinem Kopf nach und auch mein Puls findet zu seinem gewohnten Rhythmus zurück.
Um auf andere Gedanken zu kommen, suche ich in meiner Handtasche nach dem Telefon. Es könnte ja durchaus sein, dass es doch noch funktioniert und ich bei der ganzen Aufregung einen Anruf von Marcus versäumte …
Habe ich etwa überreagiert?, kommt mir zum ersten Mal in den Sinn. Es ist ja nicht so, dass wir noch nie miteinander gestritten hätten. Aber früher machte ich mir nie Gedanken über irgendwelche unerwünschte Nachwirkungen.
Der Wagen hinter uns fährt zu nah auf. Das grelle Scheinwerferlicht schlägt gegen den Rückspiegel und blendet mich. Um auszuweichen, lehne ich mich an die Tür und starre weiterhin das finstere Display des stummen Telefons an.
Ich weiß nicht, wohin er ging. Auch nicht, wo er die letzte Nacht verbrachte. In keinem einzigen meiner Romane spielt es eine Rolle, wohin sich der Held verzieht, bevor er wieder zurückkehrt, um das Herz seiner Angebeteten endgültig zu erobern. Alleine das Happy End zählt. Ich befürchte nun das Ende meiner eigenen Geschichte. Das sich allerdings alles andere, nur nicht als glücklich entpuppen könnte. Schlimmer wäre nur noch, wenn danach mein eigentliches Leben seine Fortsetzung finden würde. Und zwar an genau der Stelle, an der ich es fluchtartig verließ. Das will ich um keinen Preis …
Denk nicht dran!, ermahne ich mich erneut.
„Mann soll aufhören, wenn es am schönsten ist“, trällert eine mir unbekannte Stimme aus dem Taxiradio, während ich die Straßenlaternen, die Lichter der Geschäfte und Lokale betrachte, an denen wir vorbei fahren.
Der Spruch klingt gut. Vielleicht kann ich es als Prämisse für eine neue Geschichte verwenden.
Es war mir schon immer leichter gefallen, fremden Herzschmerz in Liebesglück zu verwandeln, als mein eigenes und vor allem ein reales Problem anzugehen.
Als wir am Ziel ankommen, habe ich im Kopf den Plot einer neuen Geschichte zusammengestellt. Dieses Mal ist es eine Büroromanze. Sie ist jung, attraktiv, unerfahren. Er – reif, klug, sehr männlich und verheiratet.
„Das macht zweiunddreißig Euro.“ Der Blick des Fahrers ist eigenartig. Wahrscheinlich mache ich auf ihn einen geistesabwesenden Eindruck und er glaubt womöglich, ich hätte etwas eingeworfen. Ich stecke ihm tatsächlich wie ferngesteuert meine Kreditkarte in die Hand, dann werde ich endlich wach. „Kann ich bitte die Rechnung haben?“
Er gibt mir die Karte retour und schenkt mir zusätzlich ein seltsames Grinsen. „Du könntest so einiges von mir haben, Schätzchen.“
Mir fällt sofort die Ruine in seinem Mund auf und alle Gedanken, die ich mir vorher machte, sind plötzlich wie weggefegt. „Ich denke, wir belassen es nur bei der Rechnung.“ Ich greife nach meiner Karte und kaum habe ich sie fest im Griff, flüchte ich aus dem Wagen. Das gelingt mir dann doch nicht so rasend schnell, wie ich es mir vorstelle, denn, ich habe ja die Tür verriegelt und darauf vergessen.
„Ich weiß, wo du wohnst!“, ruft er mir durchs offene Fenster der Beifahrertür hinterher.
Seine Worte nehmen in meinem Kopf eine bedrohliche Gestalt an, aber dieses Mal kann mein eingeübter Mechanismus die Angst schnell überwinden. Inmitten der Tür zum Café bleibe ich stehen und werfe einen Blick zurück. „Dann wissen Sie sicher auch, dass ich nicht alleine wohne!“ Meine Stimme zittert, wie meine Knie unterm Rock.
Er hat dann offensichtlich doch andere Pläne, da er sich in den Verkehr einreiht und bald darauf aus meinem Blick verschwindet.
Wohne ich tatsächlich nicht alleine? Diese Frage nagt unbewusst schon eine ganze Weile an mir. Jetzt erst stelle ich sie mir direkt. Hätte ich seinen Antrag annehmen sollen, um meine Vergangenheit endgültig hinter mir zu lassen? Ich bewege mich wie schlafwandelnd auf die Theke zu. Habe ich etwa nicht nur den Helden meiner Romane davongejagt? Ich fühle mich irgendwie – beraubt. Sondern auch einen wichtigen Pfeiler aus meinem eigenen Leben?, komme ich mir urplötzlich sehr einsam vor.
3
Ich steige mit meinen Stöckelschuhen auf die Stange des Hockers und setze mich auf den weich gepolsterten Sitz. Mit einem lauten Knall, als Ausdruck meiner schlechten Laune, lasse ich die Handtasche auf die Theke fallen und fische aus ihrem Inneren einen Notizblock und einen Kugelschreiber heraus. Rasch notiere ich den Plot, bevor mir jemand mit der nächsten unerwarteten Bemerkung den Kopf endgültig leer fegt und blicke dann überrascht hoch, als man mir vor die Nase ein hohes Glas mit Strohhalm abstellt.
„Das habe ich nicht bestellt“, wende ich ein. Während ich weiter mit dem Kuli auf das Papier kritzle, inspiziert mein Geruchssinn den Inhalt des Gefäßes. Der pinke Cocktail riecht herrlich nach Kirsche. Wie mein Lippenstift. Am liebsten würde ich die Nase hinein stecken. Oder mir die Lippen damit einpinseln.
Die Frau hinter dem Tresen nickt zur Seite und mein Blick folgt der angedeuteten Richtung.
Auf der anderen Seite der kreisförmigen Theke steht der Mann aus dem Bücherladen und nippt an seinem Glas.
Wie kam er so schnell hierher?, umschleicht mich ein merkwürdiges Gefühl. Mir kam die Taxirechnung gleich überhöht vor. Der Idiot ist bestimmt mit mir herumkutschiert, um Kilometer zu schinden. So ein Aas!
Ich lasse den Mann nicht aus den Augen, aber er tut wider Erwarten nichts. Er nickt nicht zum Gruß, hebt sein Glas nicht hoch zum Prost. Er sieht mich einfach nur an.
Dieser Blick …, fühle ich mich eingeschüchtert. Als wüsste er Bescheid. Bescheid? Die Angst entzieht sich meiner Kontrolle und schnürt mir die Kehle zu. Worüber? Im Leben von Eve Jansen gibt es nichts, worüber er Bescheid wissen könnte. Also vertreibe ich meine Bedenken und sauge mich mit den Lippen an dem Strohhalm fest, um auch die restlichen Sorgen runter zu spülen. Endlich löse ich den Blick von ihm und widme mich erneut meinen Notizen.
Sie träumt von Ehe, Kindern und Zusammensein. Er vom schnellen Abenteuer, Spaß und Abwechslung. Sie – wie Schneewittchen. Er … Ja, wie soll er denn aussehen?
Ich nehme die Lippen von dem Strohhalm, stecke mir stattdessen den Kuli in den Mund und schicke meinen Blick auf die Suche nach entsprechender Inspiration. Bei so vielen unterschiedlichen Liebesgeschichten fällt es mir von Mal zu Mal schwerer, einen neuen reizvollen Protagonisten zu kreieren. Deshalb nutze ich jede Gelegenheit für die Suche nach einer Idee. Anstelle einer Anregung entdecke ich ihn, den Unbekannten, unerwartet zu meiner linken Seite. Vor Schreck verschlucke ich beinahe den Kugelschreiber. Mein Rachen füllt sich umgehend mit Husten und meine Augen mit Tränen. Der krampfhafte Versuch, mich zu beruhigen, scheitert. Das erste Mal in meinem Leben habe ich mich absolut nicht unter Kontrolle.
Das erste Mal seit …
Denke nicht dran!, ermahne ich mich ein weiteres Mal.
Er hebt mein Glas an und nimmt die Serviette, auf der das Glas abgestellt war. Dann taucht er eine Ecke von dieser in sein Wasserglas und wischt mir seelenruhig über die Lippen. Ohne Aufforderung und ebenso ohne meine Erlaubnis. Dennoch bin ich froh darüber, denn ich habe den Kuli in zwei Teile gebissen und mir dabei die Lippen mit Tinte beschmiert.
Gleich nach der ersten Berührung erstarre ich wie durch einen Zauber und sehe ihm reglos und schweigend dabei zu, wie er mir zuerst die Oberlippe abwischt, dann die Unterlippe und anschließend das Kinn abtupft, das auch wohl ein paar Tropfen der Tinte abbekam.
Die Selbstverständlichkeit seines Tuns wirkt hypnotisch auf mich. Dabei sieht er mir nicht ein einziges Mal in die Augen. Sein Blick ist stets auf den Punkt gerichtet, an dem er mich mit dem Papiertuch berührt. Mir scheint, als würde er mit meinem Körper kommunizieren. Meine Sinne reagieren sofort, aber der Rest von mir ist dieser Sprache nicht mächtig.
Lange Zeit bin ich außer Stande etwas zu unternehmen. Als ich dann endlich zu mir komme, schiebe ich seine Hand entrüstet von mir und wende mich von ihm ab. Schnell stöbere ich den Inhalt meiner Handtasche durch und ausgestattet mit einem Taschentuch und Spiegel, wische ich mir den Rest der Tinte selbst aus dem Gesicht. Das eigenartige Gefühl, das er mir hinterließ, gleich mit.
So langsam wenden sich die Blicke der anderen Gäste von uns ab und da kehrt auch die Gelassenheit in meinen Geist und Körper zurück.
Mit einem Mal überkommt es mich: Könnte er?, mustere ich ihn. Nein, stelle ich mit Bedauern fest. Er ist eindeutig kein romantischer Märchenprinz mit dem Körper eines jungen griechischen Gottes, der Frauen beim bloßen Anblick in Ekstase befördert. Er verfügt auch über keine durchtrainierten Arme, auf denen er sie über Türschwellen trägt. Fraglich ist auch, ob er ihnen das Blaue vom Himmel holen kann …
Gerade das bringt mich dazu, einen zweiten Blick zu riskieren …
Sein dunkler Maßanzug vermittelt den Eindruck, als steckte darin ein knallharter Geschäftsmann. Statt einer gewölbten Brust verbirgt dieser lediglich eine gewölbte Brieftasche und an seinem Kopf glänzt im Licht keine wallende Mähne. Vielmehr der Ansatz einer kahlen Stelle in dem angegrauten Haar. Auch sein Aftershave riecht kühl wie eine kalte Meeresbrise und wirkt eher ernüchternd als verführerisch auf mich.
Ich drehe mich um und schnüffle schnell an dem Cocktail, denn gerade das Parfüm zündet bei mir erneut dieses merkwürdige Gefühl, bei dem sich mein Kopf zu drehen beginnt.
Hoffentlich hat er für seine Anwesenheit einen vernünftigen Grund, wenn er schon so nicht von Nutzen für mich ist.
Erneut sauge ich am Strohhalm, denn das Getränk hat es echt in sich. Aber nicht deshalb befeuchte ich immer wieder meine Lippen mit meiner im Kirschlikör benetzten Zunge. Das Tuch, mit dem ich mir selbst über die Lippen wischte, war mit Menthol getränkt. Jetzt werde ich den Geschmack nicht mehr los.
Zwei weitere Schlucke später schiebe ich das Glas zur Seite. Ob es an seiner sonderbaren Wirkung liegt, die er auf mich ausübt, oder dem Getränk selbst – ich fühle mich benebelt und befürchte, ich könnte mich mit dem Cocktail am Ende noch überschütten. Der Patzer mit dem Kugelschreiber war für mich demütigend genug.
Ich ergänze meine Notizen um eine kurze Skizze der weiblichen Hauptfigur …
„Was wollen Sie von mir?“, löst mir der Alkohol die Zunge. Mal sehen, ob meine Panikattacke im Taxi berechtigt, oder maßlos übertrieben war. „Die Lesung ist vorbei und die Autogrammstunde ebenso“, fülle ich das Papier mit Hieroglyphen und hoffe, meine Notizen auch am nächsten Morgen noch entziffern zu können. „Sind Sie etwa von der Presse?“, versuche ich ein Gespräch mit ihm anzubandeln, wobei mir selbst nicht ganz klar ist – warum eigentlich. Eve Jansen pflegt es nicht, sich außerhalb der Lesungen oder anderen geplanten Veranstaltungen mit Leuten zu unterhalten.
Nachdem er mir keine Antwort gibt, beäuge ich ihn erneut. Für mich sieht er aus wie ein Immobilienmakler oder Antiquitätenhändler, der sich zwar für Bücher interessiert, aber mehr für alte Schinken, als moderne Liebesgeschichten.
Er nimmt einen Schluck von seinem Wasser, stellt das Glas ab und dreht den Kopf zur Seite. Für die Länge eines Atemzuges begegnen sich unsere Blicke. Dabei entfesselt er einen Strudel in mir, sodass ich mich abwenden muss, um nicht fortgerissen zu werden. Meine Glieder werden von einer sonderbaren Taubheit befallen und mein Kopf …
Mein Kopf, seufze ich im Geiste und schüttle diesen beinahe, um das Gefühl loszuwerden. Es ist wie Schokolade, die in großen Mengen einem nicht guttut. Genau so verhält es sich auch mit diesem Empfinden. Deshalb gewöhnte ich es mir vor langer Zeit ab und nun will ich damit gar nicht erst wieder anfangen.
Nachdem ich mich in Eve Jansen Manier mit der künstlichen Fassade von seiner Wirkung auf mich abschotte, fällt mir ein …
Vielleicht könnte er doch der Mistkerl sein, der das junge Ding zuerst nach Strich und Faden ausnutzt und ihm erst am Schluss, den Ring an den Finger steckt …
Auch wenn ich meine Sinne wieder voll unter Kontrolle habe, schwindet die Taubheit nur langsam aus meinen Gliedern. Unverhofft gleitet mir der Kuli aus den Fingern und fällt auf den Boden. Bevor ich mich nach ihm bücken kann, hebt er ihn hoch.
Zuvorkommend – so ein Mist. Die Story werde ich wohl noch mal überdenken müssen.
Er reicht mir den Stift und berührt dabei mit seinem Finger meinen Daumen. Ein Blitz rast mit Lichtgeschwindigkeit von der Kontaktstelle bis zu meinem Herzen, worauf ich kurzfristig die Symptome eines Herzinfarkts in Betracht ziehe. Erschrocken hebe ich den Blick und treffe auf seinen.
„Ich gebe keine spontanen Interviews“, stelle ich schnell klar, ehe er sich mit seinen magischen Kräften erneut meiner Sinne bemächtigt. „Für Termine ist meine Verlegerin zuständig. Wenden Sie sich an sie“, stecke ich meine Nase gleich wieder in meine Notizen, geneigt, ihm keine weitere Aufmerksamkeit mehr zu schenken.
Doch darin ist er offensichtlich geübter als ich. Weil ich auch deutlich später immer noch nichts von ihm zu hören bekomme, werde ich wieder neugierig.
Ich hebe den Kopf und sehe ihn an. Er starrt apathisch in den Spiegel an der Rückwand der Theke, trinkt aus seinem Glas und macht den Eindruck, sich ganz zufällig neben mir aufzuhalten.
Seine plötzliche Ignoranz ärgert mich beinahe mehr, als, dass er mir bis hier her folgte, ohne bislang den Grund für seine Anwesenheit erfahren zu haben. Und als ich schlussendlich in Erwägung ziehe, er könnte taub oder stumm sein …
„Sehe ich etwa aus, als wollte ich das zu hören bekommen, was man in der Vita in jedem deiner Bücher nachlesen kann?“, schiebt er sein Glas zur Seite. Auf der schmalen Theke gibt es kaum Platz, weshalb er mit der Kante seiner rechten Hand meinen Notizblock berührt.
„Sieh mich an!“, fühle ich mich von seiner Hand angesprochen. Mein Blick bleibt auf seinem kleinen Finger haften. Wie hypnotisiert starre ich den kalten schwarzen Stein an seinem Ring an. Der glänzende Onyx entpuppt sich als Tor zu meiner Vergangenheit, versetzt mich gedanklich zurück in meine Kindheit. Ich versinke in den Erinnerungen wie damals in dem dunklen, tiefen Meer …
Denke nicht daran!, blinzle ich, um nicht völlig abzudriften.
„Was dann?“, will ich wissen, denn die Phantasie von Eve Jansen bietet neben Romanvorlagen und ihren eigenen Belangen nur wenig Raum für Anderes.
Im Lokal ist es warm. Auch wenn ich seine Nähe anfangs als schweißtreibend empfand, fröstle ich nun. Das Durcheinander meiner Empfindungen schreibe ich seinem Blick zu. Erneut überkommt mich das Gefühl, er könne tief in mich hinein sehen. Aber ich bin nicht bereit, das Geheimnis, das ich seit meiner Kindheit mit mir herum trage, zu offenbaren.
Sein Blick wirkt mit einem Mal noch eindringlicher, bis er schließlich auf meiner Brust landet.
Meine Bluse ist jedoch bis zum allerletzten Knopf geschlossen und ich habe den Mantel noch an, dennoch komme ich mir, so intensiv betrachtet, wie splitterfasernackt vor.
Eve Jansens Grenzen sind eben knapp bemessen.
Ich würge den Knoten, der in meinem Hals feststeckt, runter. Ehe es sein Blick fertigbringt, meine, über Jahrzehnte lang gepflegte Fassade wie Röntgenstrahlen zu durchbrechen, packe ich rasch alle meine Sachen in die Tasche, rutsche vom Hocker runter und flüchte aus dem Lokal.
4
Zu Hause verriegle ich umgehend sämtliche Türen und Fenster, schalte die Alarmanlage ein und verkrieche mich, kaum die Klamotten ausgezogen, wie ein verfolgtes Tier unter der Bettdecke. Dort, in die vollkommene Dunkelheit getaucht, rufe ich mir das schier bodenlose Graublau seiner Augen ins Gedächtnis. Wenn ich tief Luft hole, kann ich sogar sein Parfüm riechen, das einer frischen Meeresbrise ähnelt …
Ich will mehr von diesem Duft und atme weiter ein, fülle meine Lunge zum Bersten voll. Dabei greife ich mit beiden Händen nach dem Leintuch und knülle es mit den Fingern zu einem festen Klumpen zusammen. Dann drehe ich mich zur Seite, schließe die Decke zwischen meine Knie und Schenkel ein.
Die Luft findet mittlerweile keinen Platz mehr und will raus. Zeitgleich mit ihr entgeht mir ein dermaßen lauter Seufzer, dass ich vor Schreck erzittere. Nicht nur des Seufzers wegen. Auch, weil ich mich für einen kurzen Moment befreit fühle. Nicht nur befreit von der Altlast meiner Vergangenheit, sondern – wie neu geboren.
So etwas passierte mir noch nie. Nicht einmal …
Denk nicht dran!, verbiete ich mir selbst.
Die Erinnerungen verlieren sich rasch in der Dunkelheit, die unter der Bettdecke herrscht. Nur der Gedanke an den unbekannten Mann lässt mich nicht mehr los …
Es ist gerade dieser Gedanke, der mich nach kurzer Zeit wieder aus meinem Versteck hinausekelt. Ich stehle mich ins Bad, als würde ich mich beobachtet fühlen, und verharre dort vor dem Spiegel. Ich starre mein Abbild an, suche nach dem Riss. Einem Spalt oder zumindest einer Ritze in der Fassade, hinter der ich mich seit Jahrzehnten vor der ganzen Welt und sogar vor mir selbst verstecke.
„Denke nicht daran!“, ermahne ich mich diesmal von Angesicht zu Angesicht ganz laut und dennoch hält es mich nicht davon ab, mir weiter über ihn den Kopf zu zerbrechen.
Dieser Mann schaffte es auf Anhieb, durch meinen pastellfarbenen Panzer, bis tief in mein Innerstes zu dem einzigen Gefühl durchzubrechen, das ich vor allem und jedem versteckt hielt. Dennoch geht es mir weniger um das Gefühl, welches das Herz erschüttert und die flatterigen Insekten im Bauch aufscheucht, sondern mehr um die Angst, die damit Hand in Hand geht. Sie macht es mir unmöglich, dieses Gefühl zuzulassen. Bis zum heutigen Abend dachte ich, genau diese Angst fest im Griff zu haben. In Wirklichkeit beherrscht sie mich. Schließlich reicht so wenig wie ein Blick, eine Geste oder eine winzige Berührung, um sie aus dem Tiefschlaf zu wecken.
5
Wochen vergehen. Die Figuren für mein neuestes Werk nehmen konkrete Formen an. Lediglich die männliche Hauptfigur kann mich nach wie vor nicht überzeugen.
Seit Marcus’ Antrag herrscht zwischen uns Funkstille. Das ist für mich Anlass genug, alles, was ihm gehört und sich im Haus befindet, einzupacken und die Koffer vor die Tür zu stellen. Noch am selben Abend sind diese verschwunden. Da mein Vorstellungsvermögen aktuell nur Raum für den neuen Roman bietet, denke ich erst gar nicht darüber nach, ob er sie abholte, oder sie gestohlen wurden.
Weil ich über ein kaputtes Handy klagte, besorgte mir meine Verlegerin ein neues. Dazu noch eine Emailadresse, die ihrer Meinung nach besser zu einer Autorin von Romanzen passt.
Ein Schlosser verpasst demnächst meinem Haus neue Schlösser. Und da ich die Margarine der Butter vorziehe, haust ab sofort in der Butterdose im Kühlschrank der neue Code für die Alarmanlage.
*
Nach Tagen mir selbst verpassten Hausarrestes, um die Schreibarbeit voran zu treiben, verlasse ich eines Nachmittags endlich mein Haus, um einer Einladung zu folgen. Der lokale Fernsehsender hatte eine Umfrage am Laufen. Die Zuschauer entschieden, dass sie mich darüber sprechen hören wollen, worüber ich seit Jahrzehnten schreibe. Als Gast einer Talkshow soll ich mich öffentlich zum Thema Sex, Romantik und Beziehung äußern.
*
Ich stelle den Wagen in der Tiefgarage des Senders ab und fahre mit dem Aufzug hinauf, bis in die vierte Etage.
Aus der Maske flüchte ich direkt in den Waschraum, um mir das Make-up gleich wieder aus dem Gesicht zu waschen. Es ist nicht minder bunt als mein eigenes, allerdings in meinen Augen nicht romantisch und verspielt, sondern schrill und vulgär.
Mein Spiegelbild zieht wie eine Leuchtreklame Aufmerksamkeit auf sich. Ich bringe keinen Ton heraus, dennoch würde ich mir am liebsten die Ohren zuhalten. Das bin ich nicht. Eve Jansen liebt Ruhe, lebt zurückgezogen und würde eher davonlaufen, als jemanden die Meinung zu geigen oder ihre Ansichten offenbaren …
Gerade der Gedanke an all das, was ich mir in den vergangenen Jahren verkniffen habe anzusprechen, lässt meine Aufregung schlagartig verpuffen und mich überkommt ein kalter Schauer: „Marcus …“, flüstere ich erschrocken und entsinne mich an all die Makel, an ihm, an unserem Miteinander, die mir fortlaufend ins Auge stachen, ich sie jedoch bis zum Ende unserer Beziehung duldete, ja sogar ignorierte. Bis auf den Antrag. Da brach ich zum ersten Mal mit Eve Jansens Prinzipien.
Ein bis zwei mal Blinzeln ist notwendig, bis die Rückblende endlich überwunden ist und auch mein Blick nicht mehr durch die Vergangenheit streift, sondern sich auf das Bild im Spiegel fokussiert.
Ich seufze genervt. Alle Mühe fruchtet nicht, denn auch nach mehreren Versuchen sehe ich immer noch genauso aus wie vorher. Ich lehne an der Marmorplatte und betrachte mich im Spiegel. „Komisch“, sage ich zu mir selbst. „Mehr als die Hälfte meines Lebens verstecke ich mich schon hinter einer Maske. Aber erst unter so viel Farbe fühle ich mich, als müsste ich ersticken.“
Ein Klicken scheucht mich auf und zieht meinen Blick zur Tür. Die Regieassistentin späht herein und macht den Eindruck, als hätte sie schon eine Weile nach mir gesucht. Sie packt mich, ohne ein Wort der Erklärung, an der Hand, zerrt mich aus dem Waschraum hinaus, schleppt mich durch etliche Gänge hindurch und lässt mich erst los, nachdem sie mich im Studio auf den für mich vorgesehenen Platz pflanzt.
Als mir Annemarie die Einladung überreichte, stellte ich mir ein kleines Studio mit einem runden Tisch vor, an dem ich mit ein paar anderen Gästen sitzen soll. Dazu höchstens eine Hand voll Zuschauer. Den Tisch gibt es wahrhaftig, aber der Raum ist um Etliches größer, als ich es von den Bücherläden gewöhnt bin, in denen ich regelmäßig meine Lesungen abhalte. Es gibt wahrlich mehr als nur eine Zuschauerreihe und sie sind allesamt voll.
Die anderen Talkgäste haben bereits ihre Plätze eingenommen. Nur flüchtig werden wir untereinander bekannt gemacht.
Auf den kleinen runden Tisch wird für jeden von uns ein Glas Wasser hingestellt. Ein junger Mann – mit einem Headset ausgestattet – stellt dann noch eine volle Karaffe in die Mitte.
Ein leichter Anflug von Nervosität kündigt sich bei mir an, denn mit Kameraerfahrung kann ich nicht gerade prahlen. Die Hände aneinander reibend lehne ich mich in die knallrote Polsterung des breiten Sessels zurück und sehe mich um, als hielt ich Ausschau nach einem Fluchtweg.
Die Regieassistentin unterhält sich kurz mit Vinz. So nennt sich der Talkmaster, der diese Sendung moderiert. In Wirklichkeit heißt dieser solariumgebräunte Typ Adolf Alfred Ammermann.
Kein Wunder, dass er sich ein Pseudonym zulegte, schmunzle ich und merke zuerst gar nicht, wie sie sich plötzlich zur Seite drehen und beide in dieselbe Richtung schauen. Ich glaube Entsetzen in ihren Blicken sich spiegeln zu sehen. Als ob beiden etwas Sorge bereiten würde. Es vergeht noch eine Weile, bis mir klar wird, dass ich es bin, die sie so entgeistert anstarren.
Ihre Ablehnung überrascht mich nicht besonders, denn ich selbst fühle mich in dieser Runde fehl am Platz und da hat die Unterhaltung noch gar nicht angefangen. Trotz des Make-ups empfinde ich mich neben all den anderen wie ein unscheinbares Mauerblümchen. Und es ist gerade diese Unscheinbarkeit, die hier, an diesem einen Tisch, sofort jedem ins Auge sticht.
Während die Maskenbildnerin noch mit ihrer Puderquaste die Farbschicht im Gesicht einer der Gäste zu meiner Linken auffrischt, neigen sich der Talkmaster und die Assistentin zu ihr und flüstern ihr etwas ins Ohr. Kaum ist sie mit ihrer Arbeit fertig, stürzt sie sich auf mich. Ihre Arme fliegen durch die Luft, als wollte sie irgendwelche bösen Geister vertreiben. Die schnellen Bewegungen und vor allem all die Schatten, die sie dabei auf mich wirft, stiften bei mir Panik.
Denk nicht dran! Verdammt noch mal, denk nicht dran!, schnappe ich gierig nach Luft, denn ich befürchte, bald keine mehr zu bekommen. So lange es in meinem Kopf rattert, ist mein Körper wie gelähmt und kann sich nicht zur Wehr setzen. So gelingt es ihr, ungehindert die obersten Knöpfe meiner Bluse zu öffnen und die Seitenteile so weit auseinanderzuklappen, dass man sogar in der letzten Reihe den Ansatz meines Büstenhalters erkennen kann. Da sie rasch wieder die Finger von mir nimmt, sehe ich die Gefahr als gebannt und kaum setzt sie einen Schritt zurück, will ich mich auch schon wieder verhüllen.
„Ihr prüdes Erscheinungsbild passt nicht in diese Sendung“, lässt mich Vinz umgehend wissen.
„Sie haben mich doch eingeladen. Haben Sie sich vorher etwa nicht nach mir erkundigt?“, streife ich mir beruhigend über die Schenkel, in denen es kribbelt. Die Gedanken an Flucht sind präsenter als die ausgesprochenen Worte und lenken mich ab. Womöglich reagiere ich deshalb anders wie sonst, wenn ich in unangenehme oder gar bedrängende Situationen gerate.
„Das Publikum hat entschieden“, kontert er, um das Versäumnis zu erklären.
„Meines oder Ihres?“, entgegne ich, da hat er noch gar nicht zu Ende gesprochen.
Er verstummt, was bei mir dem Versiegen eines Sturmes gleichkommt und ich gleich wieder in meine gewohnte Rolle eintauchen will, schweigend, hinnehmend und noch viel mehr, aber es gelingt mir urplötzlich nicht. Vielleicht liegt es an der aufdringlichen Schminke, die mich an der Oberfläche treiben lässt, wie ein Fettauge …
Wer meint, ich wäre angeekelt, der irrt. Die Show hat noch gar nicht angefangen und ich langweile mich schon. Als hätte man mich zu einem Schuhausverkauf gelockt, ohne ein einziges Paar Schuhe in meiner Größe vorrätig zu haben.
Die schrillen Farben, die Mischung aufdringlicher Parfüms und das derbe Vokabular meiner Sitznachbarn sind unangenehm wie der Staub, den eine kräftige Windböe einem ins Gesicht trägt und der sich unter die Kontaktlinsen verirrt. Man würde es gerne ignorieren, aber es geht nicht. So auch die Ausführungen, denen nach durch die Hände der Frau zu meiner Linken mehr Männer gewandert sind, wie durch meine eigenen Bücher zum Signieren. Meine anerzogene konservative Art, die ich bislang wie ein Aushängeschild mit mir herumtrug, schnürt mir allmählich die Kehle zu. Bewusst lege ich mir die Hände in den Schoß, damit von dem lästigen Staub nichts an mir haften bleibt.
Ich nenne es Abgrenzung, aber es sind mehr Scheuklappen, die es mich lange nicht merken lassen: Das innere Strahlen, die Freude, mit der sie allesamt von ihrem Leben und Erfahrungen erzählen. Etwas, was mir in all den Jahren hinter der künstlichen Fassade gänzlich abhandenkam.
Mein Blick verselbständigt sich und flüchtet sich zum Ausgang. Um mich einem möglichen Fiasko zu entziehen, ist es leider zu spät, denn das Licht über der Tür leuchtet längst rot. Wenn ich also nicht mit puterrotem Gesicht vor laufender Kamera aus dem Studio türmen möchte, muss ich mich zusammenreißen und es einfach aussitzen. Im Geiste verfluche ich meine Verlegerin, die sich offenkundig genauso wenig über diese Show informierte, wie der Talkmaster über mich.
Gleich nach den ersten paar Sätzen klinke ich mich gedanklich aus der Unterhaltung raus. Von Anfang an geht es im Grunde genommen nur darum, wie dick und lang er sein soll. Zusätzlich wird das Pro und Kontra verschiedensten Geschlechtsverkehr-Praktiken erläutert. Mein Paradethema – Romantik – bleibt gänzlich auf der Strecke.
Ich schweige die gesamte Zeit. Nicht nur, weil sich meine Zusage für diese Show als eine Fehlentscheidung entpuppte. Den wahren Grund kennt außer mir nur Marcus …
Ich kann gar nicht mitreden, denn ich habe in Wirklichkeit keine Ahnung. Mir mangelt es nicht nur am Wissen, sondern und vor allem an Erfahrung. Während es meine Liebesromane regelmäßig auf die Bestsellerlisten schafften, praktizierte ich mit Marcus Blümchensex im Dunkeln. Über einen Orgasmus weiß ich lediglich, wie er buchstabiert wird. Eigentlich belog ich mich all die Jahre selbst, und zwar jedes Mal, wenn ich im Zusammenhang mit Marcus an heißen Sex dachte.
Aber auch dies ist ein Teil meiner Fassade, meines konstruierten Alltags und gehört, wie so manch anderes, eben zu meinem Leben. Ich habe früh gelernt, mich damit zufriedenzugeben.
Je tiefer ich in meine eigenen Gedanken versinke, umso mehr nehme ich mein Umfeld wahr, als wäre es nur ein Fernsehbild. Sogar das gesprochene Wort rauscht eines nach dem anderen an mir vorbei, als fänden sie es nicht wert, mich zu erreichen.
Aus langer Weile streife ich mit dem Blick durch die Zuschauerreihen. Gedanklich flüchte ich mich zu meinem neuen Roman und suche von neuem nach einer Vorlage für den männlichen Protagonisten, denn, sollte Harder so bleiben, wie er ist, wird sich Alaska nie in ihn verlieben.
Ich mustere die Anwesenden Reihe für Reihe, nehme mir dann den Kameramann vor und kehre am Ende ohne die erhoffte Inspiration zurück zu unserer Runde, als ich ihn erblicke. Hinter dem Moderator, auf der Schwelle zwischen dem Set und der Kulisse … „Ach ne“, flutscht mir lautstark über die Lippen, bevor ich es mir verkneifen kann.
„Outen Sie sich eben als Verfechterin von: kein Sex vor der Ehe?“, katapultiert mich der Moderator umgehend in den Fokus.
Die Frage erscheint mir wie ein Presslufthammer, der meine Fassade durchbrechen will, um mein Innerstes zum Vorschein zu bringen. Mir bleibt die Luft weg, nicht nur, weil ich diese anhalte.
„Schätzchen“, legt mir die Frau, die auf dem Sessel neben mir sitzt, ihre Hand auf den Schenkel. Sofort drehe ich den Kopf zu ihr und mustere sie. Sie trägt ein Oberteil und Hose aus Latex. Beide Teile sind so eng, dass es den Anschein hat, man hätte ihr die flüssige Masse direkt auf den Körper gegossen. Das Oberteil besitzt einen tiefen Ausschnitt, die Brüste quellen aus dem heraus. Ich zucke erschrocken zurück.
„Du willst doch nicht einen Sack kaufen, ohne den Kater, der sich darin verbirgt, vorher nicht getestet zu haben? Was ist, wenn er es nicht bringt?“, zwinkert sie mich an und mir fällt erst jetzt auf, dass ihr breiter Lidstrich bis fast zum Haaransatz reicht.
„Nicht bringt?“, verdutzt ziehe ich den Kopf wie eine Schildkröte zwischen den Schultern ein und zeitgleich auch die Stirn in Falten.
„Einen gemütlichen Abend beim Fernsehen, Essen oder Kino kann man auch mit Freunden oder Kollegen verbringen. Willst du bei einem Typen, der dir gefällt, nicht erfahren, ob er auch im Bett was taugt, ehe du deine kostbare Lebenszeit mit ihm vergeudest?“
Ich komme gar nicht dazu, mir zu überlegen, was mir mit Marcus alles hätte erspart bleiben können und beschäftige mich lediglich mit der Frage, wie sie sich wohl den Arbeitsalltag einer Autorin vorstellt, wenn die Rede von Kollegen ist.
Vinz bohrender Blick verlangt nach einer Antwort. Ich habe tatsächlich eine und nicht erst seit kurzem, sondern seit ich mich entsinnen kann. Der Schock, der mich so wortkarg macht, hat nichts damit zu tun, dass ich mich wieder mit der Eheschließung auseinandersetzen soll. Jedes Mal, wenn in dieser Runde das Wort Sex fällt, fühle ich mich, als wäre ich der Sprache, die sie alle zu sprechen scheinen, nicht mächtig. Nicht, als wüsste ich nicht, wie es geht. Mehr, als käme ich aus einem fremden Land, wenn nicht gar von einem anderen Planeten mit anderen Bräuchen und Voraussetzungen. Und da dies auch ein Teil meines Geheimnisses ist, das ich hinter der starren Fassade verstecke, starre ich ihn schweigend an.
Derweilen ich mir den Kopf zermartere, wie ich aus dieser Sache ohne Blessuren rauskommen kann, dreht er sich zum Publikum und richtet sein Wort auf dieses: „Liebe Männer. Wir haben euch vor dem Beginn der Show einige der Bücher von Frau Jansen zur Ansicht vorgelegt …“
Die Assistentin nähert sich unserer kleinen Runde und legt ihm eines der angesprochenen Exemplare in die offene Hand. „Ihr durftet schmökern und hattet Zeit, die eine oder andere Seite zu lesen. Stellt euch also folgende Szene vor …“
Der Vorhang, den ich die ganze Zeit für Dekoration hielt, geht auf und offenbart eine weitere kleine Bühne. Mittig dieser steht ein Bett. Darin räkelt sich eine ausgehfertig geschminkte Frau. Allerdings steckt sie in einem altmodischen Flanellpyjama, der bis unters Kinn zugeknöpft ist. Neben ihr liegt ein Mann wie aus einem Katalog ausgeschnitten. Im Gegenteil zu ihr ist er nackt und das womöglich sogar unter der Bettdecke, mit derer Zipfel er seine Lenden bedeckt. Die braungebräunte Haut glänzt im Licht, als wäre er eingeölt.
Das Publikum applaudiert und lacht. Sogar ich erhebe interessiert die Augenbrauen, kann mich vorerst nicht an seinen Muskeln sattsehen. Schriftstellertechnisch – versteht sich. Leider passt der Körper eher zu einem Holzfäller als zu einem Bankdirektor und damit erweist sich auch dieser Mann für meinen neuen Roman als gänzlich ungeeignet.
Nachdem der Applaus versieht, lässt der Typ die Brustmuskeln tänzeln, kokettiert auf diese Art mit dem weiblichen Publikum. Erst als auch das letzte Kichern versiegt, dreht er sich zu der verhüllten Frau, spitzt die Lippen, doch sie weicht dem Kuss aus, dreht sich zur Seite, greift nach dem Buch, das auf dem Nachtkästchen liegt. Es ist das gleiche Buch, wie das in der Hand des Moderators. Sie setzt sich eine altbackene Lesebrille auf, schlägt eine Seite auf und liest laut vor: „Gott“, seufzt sie auf die gleiche Art, wie ich in der einen Nacht, nach meiner ersten Begegnung mit dem Unbekannten. „Ist er gutaussehend! Sein Körper fühlt sich so unbeschreiblich gut unter meinen Händen an. Besser wirds nur, wenn ich selbst unter ihm begraben liege …“
Das Entsetzen zündet eine atemraubende Hitze in mir. Bevor ich die Knöpfe meiner Bluse löse, um mir Erleichterung zu verschaffen, will ich lieber ersticken.
Das männliche Publikum pfeift und ruft „Buh!“ Sie sind ebenso entsetzt wie ich, auch wenn ich glaube, aus einem ganz anderen Grund. Keinem von ihnen mute ich zu, auch nur eine Zeile aus diesem Buch gelesen zu haben. Somit wissen sie nicht, dass der zweite Satz im gesamten Buch nicht vorkommt. All meine Protagonistinnen werden liebkost, mit Küssen bedeckt, mit zärtlichen Berührungen überhäuft, aber nicht begraben!, schnaube ich innerlich vor Wut.
„Mit mir an der Seite kommt keine Frau in die Verlegenheit, sich in solche Fantasien zu flüchten!“, tönt es urplötzlich aus der hintersten Zuschauerreihe. Dann steht auch schon ein Mann auf, zieht sich sein Shirt aus, um allen zu zeigen, dass er sich mit dem Muskelprotz von der Bühne in puncto Aussehen und Figur messen kann.
„Das kann nur von jemand kommen, der Angst hat, nicht in den Fantasien der Frau vorzukommen“, sprudelt förmlich über die Lippen meiner Sitznachbarin, wie, wenn man eine Colaflasche vor dem Öffnen geschüttelt hätte.
Mein Blick springt von einem zum anderen, ich komme aus dem Staunen nicht raus. Während die Rede von meinem Roman ist, ist mir, als hätten sie heimlich in dem Buch meines eigenen Lebens gelesen …
Wie das?, fühle ich mich durchschaut.
„Was kümmern mich ihre Fantasien? Ich will wissen, was sie unter ihrem Pyjama versteckt“, steht auch schon der Nächste auf und zeigt auf die Frau im Bett.
„Bei einem Exemplar wie dir würde ich freiwillig aus dem Bett flüchten. Ein Mann, der sich nicht für meine Fantasien interessiert, ist nicht der Richtige für mich …“, entgegnet eine Frau aus dem Publikum und lässt mich weiter staunen.
Die kleine Kostprobe, inklusive nicht vorhandenen Zitates zettelt eine hitzige Diskussion an, die nur wenig später in einem lauten Durcheinander ausufert. Vinz ist bemüht, die Gemüter zu besänftigen und für Ruhe im Studio zu sorgen.
Meine Sitznachbarin schmunzelt begeistert und flüstert mir zu: „Ehrlich, Schätzchen, das hätte ich dir nicht zugetraut.“
Mir ist die allgemeine Aufregung unbegreiflich. Aber nicht nur deshalb streift mein Blick durch das Studio. Die lauten Stimmen erzeugen ein Rauschen in meinem Gehörgang, das mich an ein verdrängtes Ereignis erinnert …
Denk nicht dran!, reibe ich die Lippen mit viel Druck aneinander. Verdammt Eve!, rufe ich mir so laut in Gedanken zu, bis ich das Rauschen übertöne und die sich anbahnende Panikattacke damit ersticke.
Beruhigt kehrt mein Blick zu unserer Runde und stolpert wieder über den Fremden, der sich, für das Publikum nicht sichtbar, hinter Vinz Rücken mir direkt gegenüber aufhält.
Seine linke Augenbraue ist deutlich angehoben, dafür das rechte Auge etwas zugekniffen. Mit dem Daumen streift er sich über die Lippen, worauf ich sofort aufhöre, meine aneinander zu reiben.
„Frau Jansen, also …!“, keucht Vinz mit einem Lächeln auf den Lippen. Die tiefen Falten auf seiner Stirn berichten hingegen von einer inneren Unruhe. „Was soll ich sagen?“, wendet er sich von mir ab und deutet auf das Publikum. Dabei fasst er sich an den Ausschnitt seines Hemdes, rüttelt daran, um sich Luft zuzufächeln. „Ihr Buch hat mich wahrhaftig ins Schwitzen gebracht.“
Kein Applaus, aber auch kein Lachen. Ich kann nicht einschätzen, ob es ein Kompliment sein soll oder er mich lächerlich machen will.
Nebst allen möglichen Empfindungen brodelt es in mir weiterhin vor Wut, weil er mein Buch mit diesem missratenen Satz entstellte. „So“, entringe ich mir schließlich.
„Dass jemand mit Ihren Wertvorstellungen das Zuschauerlager spalten würde, hätte ich mir nie träumen lassen. Aber ja“, nickt er in meine Richtung. „Viele scheinen zumindest an die wahre Liebe zu glauben und nehmen sich die nötige Zeit, der vorherrschenden Schnelllebigkeit zum Trotz.“
„Beinahe tut es mir leid, bei einer Sendung wie dieser nicht an den Pranger gestellt zu werden“, sagt meine Sitznachbarin. Ich drehe den Kopf und treffe auf ein breites Grinsen in einem Gesicht, das die ganze Zeit so düster wirkte, dass ich mich vor der Frau tatsächlich fürchtete. „Aber im Grund suchen wir alle nach dem Mr. Right. Nur, dass wir uns die Zeit der Suche auf unsere Art und Weise vertreiben …“, holt sie das Ding vom Karabiner, das schon die ganze Zeit an ihrer Taille baumelte und mich über seinen Sinn und Zweck sinnieren ließ. Sie schwingt es durch die Luft, worauf ein lauter Knall ertönt und mich vor Schreck zusammen fahren lässt.
Apathisch lasse ich die Vorführung auf mich wirken und erliege schon wieder dem Drang, nach dem unbekannten Mann zu sehen.
„Besuch mich mal in meinem Studio. Bei einem Glas Wein könnten wir dieses Gespräch fortsetzen und vielleicht sogar etwas vertiefen.“
„Mal sehen“, schaffet es diesmal mehr als nur eine Silbe über meine Lippen.
Vinz steht auf und geht auf das Publikum zu. Damit läutet er das Ende dieser Show an und überlässt mich dem Wirrwarr in meinem Kopf, den diese Show angezettelt hat.
*
Ohne das Buffet auch nur anzuschauen, eile ich in die Garderobe. Mal sehen? Eve?, staune ich über mich selbst. Erst wenn die Hölle zufriert, wäre eine gute Antwort. Oder – nur über meine Leiche. Im nächsten Leben vielleicht, aber doch nicht – mal sehen?!, packe ich schnell meine paar Sachen zusammen und flüchte in die Garage. Ich laufe über den riesigen Parkplatz, entriegle mit der Fernbedienung schon von weitem den Wagen. Als ich das Auto erreiche, bin ich völlig aus der Puste. Ich werfe die Handtasche auf den Beifahrersitz und sinke hinters Lenkrad. Es knallt laut, als die Tür hinter mir zufällt. Mit einem einzigen Knopfdruck aktiviere ich die Zentralverriegelung.
Ich bin schweißgebadet und es wäre an der Zeit, tief Luft zu holen, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
„Der Richtige …“, stoße ich hinaus, wie eine Beschwörung. Natürlich hielt ich Marcus nie für den Richtigen für mich. Dieser Platz war nur ein einziges Mal zu vergeben und auch wenn das nicht funktionierte … „Denke nicht daran!“, fauche ich laut und wische mir mit den Handrücken über die Augen, da Schweiß in den Augen echt fies sein kann. Neben den Schweißperlen trockne ich auch noch die eine oder andere Träne … „Mein Gott, was habe ich getan?!“, spreche ich endlich das aus, worüber ich mir seit dem Disput den Kopf zermartere.
Seit Jahrzehnten verstecke ich mich hinter einer konstruierten Persönlichkeit. Gleichzeitig offenbare ich unterschwellig, aber vor allem unbewusst, in jedem meiner Bücher meine eigene Lebensgeschichte.
Ohne hinzusehen, greife ich nach meiner Handtasche, lege sie mir in den Schoß und wühle darin nach Taschentüchern. Die paar Tränen haben die hartnäckige Schminke endlich gelöst und ich rubble mir das Zeug mit viel Kraft von der Haut. Umgehend fühle ich mich leichter, auch wenn nicht unbedingt erleichtert.
Ich starte den Motor, schalte das Licht an und lege die Tasche zurück auf den Beifahrersitz.
„Hm, wo kommt der daher?“, entdecke ich einen kleinen Zettel in dem Spalt zwischen Sitzfläche und Rückenlehne stecken. Ich lege die Tasche ab und nehme das viereckige Stück Papier zwischen die Finger. Eine Rechnung? Habe ich etwa einen Strafzettel vergessen? Neugierig falte ich das Stück Papier auseinander.
Mein Oberkörper knickt so schnell ein, dass ich mit der Stirn gegen die Hupe schlage. Eine derartige Hitze steigt mir in den Kopf, dass ich am liebsten das Fenster aufmachen würde. Doch dafür entfacht die Botschaft ein Kribbeln in meinen Fingern, sodass ich den Schalter nicht betätigen kann.
Als Aller erstes schaue ich in den Rückspiegel. Nachdem ich dort niemanden sichte, wage ich es, mich umzusehen. Doch die Garage ist leer. Mit angehaltenem Atem lese ich die Nachricht nochmals durch: „Du hast schon recht. Tiefe Ausschnitte brauchen bedeutend mehr Selbstwertgefühl …“
Die ansteigende Röte in meinem Gesicht löst die Hitze in meinem Kopf ab. Verlegen senke ich den Blick, betrachte die Knöpfe, an denen man noch mit Sicherheit die Fingerabdrücke der Visagistin finden würde.
Ein Ächzen zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Aufzugstür öffnet sich langsam. Ich lasse den Zettel sofort in meiner Handtasche verschwinden, starte den Wagen und rase mit Vollgas davon.
6
Mein Terminkalender ist zum Bersten voll. Interviews, Sponsorentreffen, Preisauszeichnungen, Lesungen, Autogrammstunden und gemeinnützige Veranstaltungen. Entweder bin ich unter Menschen oder nutze die restliche Zeit und arbeite an dem Manuskript.
In meinem Kopf ist kein Platz mehr für Erinnerungen an Marcus. Dafür gibt es genügend Lücken, die umgehend mit den Gedanken rund um und über den Fremden gefüllt werden.
In der Öffentlichkeit erwische ich mich immer wieder dabei, wie mein Blick durch die Masse streift. Auf der Straße schaue ich in die Auslagen, in denen sich die Passanten spiegeln.
Vergebens.
So uneingeladen er in mein Leben trat, so rasch verabschiedete er sich offenbar auch wieder. Er scheint das Interesse an mir verloren zu haben, falls … Falls ich mir sein Interesse nicht nur einbildete.
*
Die Promenade des Einkaufszentrums erinnert an die Abfertigungshalle am Flughafen. Ihre Größe wie auch der darin vorherrschende Tumult. Will man mich finden, muss man zwischen den vielen Kauflustigen nach mir suchen wie nach dieser bekannten Nadel. Wenngleich alle Plakate und Wegweiser einen bis zu meinem Tisch führen, umgeben von den buchbegeisterten Fans bin ich dennoch kaum zu sehen.
Mit dem eingeübten Lächeln auf den Lippen signiere ich seit Stunden die mitgebrachten Bücher der Fans. In meinen Gedanken brodelt es vor Zorn, denn Harder, die männliche Hauptfigur meines neuen Romans, stellt sich äußerst ungeschickt an und passt absolut nicht in mein gewohntes Konzept.
Ich schreibe gerade die üblichen Zeilen in das Buch einer jungen Mutter, die sich während dessen bemüht, das Baby in ihren Armen zu beruhigen. Um uns herum ist es sehr laut, dennoch vernehme ich das leise Surren eines Handys.
Überrascht sehe ich mich um, denn es klingt, als wäre es in unmittelbarer Nähe und auf meiner Seite des Tisches gibt es neben einem Stapel Bücher, Lesezeichen und anderer Goodies niemanden außer mir.
Dann fällt mir das leuchtende Display in meiner offenen Handtasche auf und das versetzt mich wahrhaftig ins Staunen. Die offene Tasche wie auch das Surren, denn ich glaube, mich zu erinnern, den Reißverschluss nicht nur zugemacht, sondern die Tasche auch noch unter dem Tisch verstaut zu haben. Zudem erwarte ich gar keinen Anruf. Das Handy habe ich erst ein paar Wochen und außer meiner Verlegerin Annemarie ergab sich noch gar keine Gelegenheit, die neue Nummer jemandem zu geben. Gerade an einem Tag wie heute würde Annemarie nicht mich anrufen, sondern sich an meine Assistentin wenden.
Ich bemühe meine Augen: unbekannter Teilnehmer.
Das beschert mir ein paar Grübelfalten und aufgeplusterte Wangen. Doch kaum atme ich die angestaute Luft raus, fokussiere ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Fan und lasse das Telefon unberührt an seinem Platz.
Das schreiende Baby schläft wie auf Knopfdruck ein und die glückliche Mutter bekommt ihr Buch mit einer Widmung zurück. Bis die nächste Autogrammjägerin dran ist, bleiben mir ein paar Sekunden. Gerade als ich dem Handy wieder etwas von meiner Aufmerksamkeit schenken möchte, verstummt es.
Der nächste Fan bittet mich um ein paar persönliche Worte, weshalb ich mich nach seinem Namen erkundige. Da zappelt das kleine Ding von neuem wild in der Tasche herum. Ich ärgere mich über diese Unpässlichkeit. Damit ich dem Drang leichter widerstehen kann, dem Störenfried die Meinung zu geigen, zupfe ich mit den Fingern am Reißverschluss meines Rollkragens herum, um mich abzulenken.
Es ist mir zu wider, wenn Menschen die Möglichkeit der Anonymität nutzen und sich hinter dieser verstecken. Dabei vergesse ich selbst all zu oft, dass mein Pseudonym auch nur ein Schutzschild ist, mit Hilfe diesen ich mich meiner eigenen Vergangenheit entziehen will.
„Wenn jemand mit mir reden will, dann soll er sich gefälligst zu erkennen geben“, murmle ich leise.
„Möchten Sie nicht rangehen? Ich warte gerne“, bekommt es ein Mutter-Tochter-Gespann mit.
„Nein“, erröte ich verlegen. „Das ist nicht wichtig.“
Noch während ich die Widmung schreibe, verstummt das Unding abermals.
Eine Stunde später lässt der erste Ansturm nach und ich gönne mir eine Pause. Natalie besorgt uns Tee und setzt sich zu mir. Wir unterhalten uns – worüber sonst – über den Ausverkauf im Bücherladen am anderen Ende des Einkaufszentrums. Wir nippen an unseren Tassen und ich lehne mich gerade entspannt zurück, als sich diese Technikerrungenschaft abermals zu Wort meldet. Genervt von diesem ständigen „Srrrr“, könnte ich einerseits in die Luft gehen, andererseits vor Neugier platzen, weil ich nur zu gerne wüsste, wer mich so unbedingt sprechen möchte. Im selben Moment, als ich nach dem Telefon greife, steht Natalie auf und geht zur Seite.
Mit der rechten Hand führe ich mir das Telefon zum Ohr, mit der linken spiele ich erneut mit meinem Reißverschluss.
„Ja?“, halte ich mich knapp.
„Wieder so wortkarg und zugeknöpft …“
Das Telefon gleitet mir aus der Hand. Einige Sekunden jongliere ich damit herum, bis es wieder sicher in meiner Hand landet. Binnen dieser paar Sekunden schießt mein Puls durch das Kaufhausdach und mein Herz bleibt mir auf der Zungenspitze hängen. Dies verdanke ich lediglich meinen aneinandergepressten Lippen.
Die freie Hand lege ich mir auf die Brust, um mein rasendes Herz zu beruhigen. Suchend sehe ich mich in der großen Halle um, blicke in den oberen Stock hinauf, stöbere mit den Augen das Gelände vor den Geschäften durch, schwenke den Kopf zu dem Schnellrestaurant hinüber, kontrolliere sämtliche Cafétische rundherum.
Er ist nirgendwo zu finden.
„Denkst du nicht, dass – würdest du dir mit solch engen Kragen nicht die Kehle zuschnüren, wenn es darauf ankommt, du es bis zu einem vollständigen Satz bringen würdest?“
Ich nehme die Hand von meiner Brust weg und greife mir damit in die hochgesteckten Haare, als wollte ich durch das Berühren meiner Schädeldecke die rotierenden Gedanken anhalten, denn seine Worte rühren wie ein Strohhalm in mir um und bringen mich völlig durcheinander. Sie zünden wieder dieses sonderbare Knistern und ich glaube, alsbald anfangen Funken zu sprühen. Bin ich etwa peinlich berührt?, versuche ich mein Befinden zuzuordnen. Verärgert und verängstigt zugleich?, grüble ich über das Rumoren in meinem Bauch. Oder etwa …?, stocke ich. Nein, erregt fühle ich mich keinesfalls. Glaube ich zumindest.
Nochmals forste ich mit dem Blick die Gegend durch. Ganz genau betrachte ich jede Stelle, von der man erkennen könnte, wo sich meine Hände befinden. Aber auch dieses Mal kann ich ihn nirgendwo entdecken.
Langsam finde ich zurück zur Ruhe. Und je mehr Zeit verstreicht, umso sicherer kommt mir der Platz vor, an dem ich mich befinde. Mitten im Getümmel, unter so vielen Menschen, fühle ich mich plötzlich zu etwas herausgefordert, was mir sonst nicht einmal im Traum in den Sinn käme.
Ich nehme erneut den Reißverschluss in die Finger und ziehe ihn ganz langsam in die Tiefe. Wie in Zeitlupe, Millimeter für Millimeter, Zahn für Zahn. So tief hinunter, dass man die pastellrosa Spitze meines Unterhemdes erkennen kann. In Erwartung eines Kompliments, da ich glaube, eine ganze Menge an Selbstbewusstsein bewiesen zu haben, lehne ich mich zurück …
„Wie hat es dir in München gefallen?“
Es trifft mich wie ein Blitz.
„Und in Bern? Langweilig?“
Das verschmitzte Lächeln, für das ich Jahre brauchte, um es perfekt zu beherrschen, friert mir im Gesicht fest.
„Hast du mich etwa vermisst?“
Mir stockt der Atem.
„Vielleicht täusche ich mich … Aber es sah so aus, als hättest du überall Ausschau nach mir gehalten.“
Seine Worte prasseln auf mich herab wie Hagelregen. Die Kälte rüttelt mich umgehend wach. Ich drücke auf die Taste, beende das Telefonat. Dann ziehe ich mir augenblicklich den Reißverschluss hoch. Ich springe auf, ergreife meine Handtasche und den Mantel und wende mich an Natalie. „Ich muss dringend weg. Könnten Sie mir bitte ein Taxi rufen?“
Ich verspüre ein sonderbares Kribbeln rund um meine Nase, was ich aus Erfahrung mit Blässe in Verbindung bringe. Natalie bestätigt mich in meiner Annahme, denn sie fragt gar nicht erst nach dem Grund für meinen plötzlichen Aufbruch, sondern organisiert mir schnell einen Wagen und begleitet mich sogar ohne Aufforderung zum Ausgang.
Auf dem Weg nach draußen sehe ich mich um. In jedem Lächeln, das mir begegnet, vermute ich ein hämisches Grinsen. Zufällige Blicke deute ich als abwertendes Mustern. Mir selbst bleibt es ein Rätsel, wie ich mich so gehen lassen konnte. Marcus erlaubte ich in der Öffentlichkeit weder zärtliche Berührungen noch intime Gesten. Für diesen Fremden zog ich mich beinahe aus. Und er hat mich tatsächlich erwischt. Noch nie habe ich mich nach fremden Männern umgesehen. Schon gar nicht nach irgendwelchen mit Absicht gesucht. Ich schäme mich, wenn ich nur daran denke und jetzt, wo ich weiß, dass er dies mitbekam, finde ich es ganz schrecklich.
Schrecklich erregend …