Inhalt:
„Es werden immer mehr“, seufzte er entmutigt. „Zu viele, in deren Schuld du mittlerweile stehst.“
„Die Menschen neigen nun mal dazu, Gefallen nicht umsonst zu tun“, klärte sie ihn über die Tatsache auf, derer er sich nur zu gut bewusst war.
„Eine Hand wäscht die andere – über all die Jahrtausende sind es eine ganze Menge Hände geworden“, nörgelte er weiter. „Und eine Menge an Feinde, die du dir gemacht hast und welche allesamt hinter dir her sind.“
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Eidolon - Das Erwachen
Zoe Zander
Einzelheiten zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.
© 2019 Zoe Zander
1. Teil der Eidolon Reihe – Das Erwachen
Inkl. Das Orakel der Tejas – Vorgeschichte zur Reihe
near-future-SciFi/low-urban-Fantasy-Roman
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: Jeanette Peters
Digitale Illustrationen und Cover: Lothar Bauer
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Korrektorat: Bianca Wild
Leseeulen-Verlag
Selbstverlag
Jeanette Peters
Dörwerstraße 68
44359 Dortmund
Email: Leseeulenverlag@gmx.de
Zander.Zoe@gmail.com
www.zoe-zander.at
Das Erwachen
1. Teil der Reihe
inkl.
Das Orakel der Tejas
die Vorgeschichte zur Reihe
Das Erwachen
Das Buch
„Es werden immer mehr“, seufzte er entmutigt. „Zu viele, in deren Schuld du mittlerweile stehst.“
„Die Menschen neigen nun mal dazu, Gefallen nicht umsonst zu tun“, klärte sie ihn über die Tatsache auf, derer er sich nur zu gut bewusst war.
„Eine Hand wäscht die andere – über all die Jahrtausende sind es eine ganze Menge Hände geworden“, nörgelte er weiter. „Und eine Menge an Feinde, die du dir gemacht hast und welche allesamt hinter dir her sind.“
1
Komme zu mir,
so lange wir träumen.
Keinen Herzschlag von dir
will ich mehr versäumen.
Lasse dich treiben
vom Wirbel der Zeit,
zurück zum Augenblick,
in dem wir waren vereint.
Folge meinem Ruf
zu diesem einen Ort.
Dort wieder Aug in Aug
ich einlösen will mein Wort.
Nur dich zu lieben,
nur dich zu begehren,
auf deine Rückkehr warten –
bis zum heutigen Tag entbehren …
Seit Ewigkeiten bereits
such’ ich nach dir.
Die Liebe, die du entfacht hast,
brennt nach wie vor in mir …Wie von fremder Hand gesteuert gingen seine Augen auf. Suchend sah er sich in der Dunkelheit um. Sein eigenes Schlafzimmer kam ihm urplötzlich fremd vor.
Er setzte sich auf, wischte sich mit der Bettdecke den Schweiß vom nackten Oberkörper ab. Ein Alptraum hatte ihn aus dem Schlaf geholt. Ihm die Farbe aus dem Gesicht radiert und den Schweiß aus den Poren getrieben. Nur langsam kehrte die Vernunft in seinen Kopf zurück und vertrieb die absurden Gedanken, die ihm das Blut in den Adern stocken ließen.
Mit einem tiefen Atemzug dehnte er bewusst seine Lunge bis an ihre Grenzen. Die Luft im Raum war stickig, wie in einem seit langem nicht geöffneten Kerker. Dieser erste Atemzug schmerzte unsagbar, aber mit dem Sauerstoff kehrte das Gefühl endlich auch in die letzten Zellen seines übermüdeten Körpers zurück und er konnte sicher gehen, noch unter den Lebenden zu verweilen.
Seine Aufregung legte sich allmählich. Mit müdem Blick durchforstete er die Dunkelheit erneut: „02:00, 16. April 2456“, die blaue Leuchtschrift der Uhr lachte ihn aus.
Bereits zum dritten Mal diese Woche holte ihn dieser Alptraum aus dem Schlaf und erschreckte ihn zu Tode. Wieso?, fragte sich Laman. Was habe ich damit zu tun?
2
Mysteriöses ging seit drei Tagen in der Shadow-AG vor. Dem Unternehmen, in dem Laman arbeitete und gleichzeitig auch wohnte.
Unheimlich genug war schon das Auftauchen des ominösen Sevick samt seinem Gefolge, vor fast einem halben Jahr und die darauf folgende Leitungsübernahme der Firma. Doch seit diesen besagten drei Tagen starb einer von Sevicks Männern nach dem anderen aufgrund offensichtlicher Gewaltauseinandersetzungen. Ihre Leichen wiesen jedoch keinerlei Spuren auf, die zu den Tätern führen würden. Unklar blieb auch das Motiv. Sowohl für Sevicks Anwesenheit, wie auch für die ungeklärten Morde. Zumindest für Laman, was nicht so bedeutend wäre, hätte er eine andere Funktion und nicht die des Chefs der Sicherheitsabteilung.
Nicht nachvollziehbar war für ihn auch die Tatsache, die Garde nicht verständigen zu dürfen. Einerseits kam es ihm recht, den uniformierten Gesetzeshütern nicht Rede und Antwort stehen zu müssen. Aber das bisschen Gewissen, das er besaß, forderte ihn fortwährend dazu auf, diese Verbrechen professionell aufklären zu lassen. Doch weder Sevick noch Simon, sein Vorgesetzter, ließen dies zu. Als ob sie mehr wussten, als er. Und er wusste wahrlich wenig. Nicht einmal, wo die sterblichen Überreste verblieben waren. Denn, kaum schafften die Sicherheitskräfte sie aus den öffentlichen Räumen, waren sie plötzlich unauffindbar. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Laman tappte im Dunkeln.
Und, als ob sich die Götter ebenfalls gegen ihn verschworen hätten, fand er auch in seinen Träumen keine Ruhe. Nacht für Nacht wurde er von einer unbekannten Frau heimgesucht.
Nach langem Strecken und Dehnen stand er schließlich auf und schlurfte zum Fenster.
Eine Massage. Training. Eine Runde auf der Maschine. Sex … Irgendwas! Nichts davon würde ihm vergönnt sein, solange sich die Situation im Haus nicht entspannte.
Nur wenige kamen in den Genuss, eine der Wohnungen beziehen zu können, die sich an der Außenseite des Gebäudes befanden. Die meisten Wohneinheiten verfügten über keine Fenster, lediglich über Einsätze, auf die rund um die Uhr Außenaufnahmen in Echtzeit projiziert wurden. Laman war einer der wenigen Glückspilze, auch wenn man den Unterschied gar nicht merkte.
Er warf einen Blick aus dem Fenster. Als wäre das Gebäude in eine schwarze Folie eingewickelt. Es war rein gar nichts zu sehen. Nicht der angrenzende Wald, nicht einmal der Vorplatz vor dem Firmeneingang. Geschweige denn ein Stück vom Himmel. Laman starrte dorthin, wo er Sterne vermutete …
Da!, erfreute er sich innerlich an dem schwachen Schimmern des Mondes.
Laman ertappte sich bei dem Gedanken an die Frau aus seinem Traum. Wäre er ehrlich zu sich selbst, müsste er sich gestehen, seit dem ersten Traum ununterbrochen an sie zu denken. An ihre smaragdgrüne Augen, deren Blick ihm jedes Mal den Atem stocken ließ.
… so erschreckend böse und doch so unschuldig. So erfahren und weise, und irgendwie dennoch naiv wie weltunerfahren. So voller Lebensfreude, trotzdem traurig und bedrückt.
Kalter Schauer streifte seinen Rücken, wie ein kühler Luftzug. Vertraut und doch fremd. Solche Augen habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Da war er sich sicher.
Mit der Hand tastete er sich die Wand entlang bis zum Lichtschalter. Ein Wort hätte genügt, aber seine Stimme weigerte sich seine Kehle zu verlassen.
Es klickte. Das grelle Licht durchflutete den Raum. Er runzelte die Stirn und schloss für einen Augenblick die Augen.
Was für eine beschissene Nacht …
3
„Drei Uhr morgens und wie lebendig begraben“, jammerte er genervt.
Gleich nach dem ersten Todesfall hatte Sevick sämtliche Sonderaktivitäten vom Tagesprogramm der Mitglieder und Angehörigen der AG gestrichen. Für Laman hieß es: keine zusätzlichen Vorträge für die Studenten, kein Kampftraining mit den Kollegen aus der Sicherheitsabteilung. Zudem durfte niemand das Areal verlassen. Weder um Besorgungen zu erledigen und auch nicht, um sich wo anders zu amüsieren, wenn es schon in dem riesigen Komplex nicht erlaubt war. Der Kontakt mit der Außenwelt war jedem strengstens untersagt. Sämtliche Telefongespräche wurden überwacht. Die Versorgungslieferungen nahmen ausschließlich Sevicks Leute entgegen.
Laman kam es schlimmer vor, wie zu der Zeit, als er noch bei seinem Vater wohnte, seinen Anweisungen Folge leisten musste und man von ihm für alles Rechenschaft abzulegen verlangte.
Nur ein einziges Mal ausgehen können. Ordentlich was trinken, die erstbeste Frau flach legen und danach … Einfach nur weiter saufen.
Laman brauchte keinen Alkohol, um sich besser zu fühlen. Nur wenn er mal über den Durst getrunken hatte, blieben die Träume aus.
Er streckte die Waffe – einen Nerven lähmenden Elektroimpulssender – hinter den Gürtel ein und schob ein paar Plastikstreifen, die er anstatt Handschellen verwendete, in die Hosentasche. Er hatte noch nie jemanden festhalten müssen. Auch nicht auf jemanden geschossen. Doch erst diese Ausrüstung machte seiner Ansicht nach aus dem Geschichte- und Chemielehrer einen Sicherheitsmann.
Er war mit dem Dienst erst in vier Stunden dran. Um den Schlaf beraubt, konnte er genauso gut jetzt schon mit dem Rundgang anfangen. Denn nichts zu tun, empfand er viel anstrengender als sich rund um die Uhr zu bewegen.
Als Chef der Abteilung war er für die Kontrolle der Einhaltung der Sicherheitsabläufe zuständig. Ebenso für die Effizienz und Funktionalität der erforderlichen Maßnahmen und Einsatzmittel. Nicht aus reiner Mitmenschenliebe, nur wegen der Selbstdarstellung verzichtete er auf Sonderregelungen und Privilegien, die sein Vorgesetztenstatus mit sich brachte. Alle sollten sehen, dass er genauso hart arbeiten konnte, wie seine Kollegen. Wenn nicht sogar härter.
4
Er machte die Tür seiner Wohnung zu und tauchte in die finsteren Gänge des Gebäudes ein. Er erwartete nichts anderes, wie die Nächte zuvor. Doch schon beim ersten Schritt war alles anders.
Was ist mit der Nachtbeleuchtung? Laman blickte zur Decke. Die winzigen rot leuchtenden Pünktchen an den Sensoren der Lichtkörper signalisierten ihre Bereitschaft.
Laman winkte. Einer der kleinen roten Punkte fing umgehend an zu blinken. Der Sensor hatte seine Bewegung wahrgenommen, dennoch blieb der Gang weiterhin in Dunkelheit gehüllt.
Warum hat das noch niemand behoben?
Er wunderte sich über die Nachlässigkeit, denn Pannen wie diese meldete das elektronische Überwachungssystem umgehend. Er taste sich die Wand entlang zur nächsten Sprechanlage, um in der Zentrale nachzufragen.
Keinen Meter weiter stießen seine Finger gegen die Funkkonsole. Umgehend versuchte er, eine Verbindung mit den Kollegen in der Zentrale aufzubauen. Die Bedienerkonsole signalisierte genauso wie die Gangbeleuchtung ihre Funktionstüchtigkeit. Doch wie bei den Lampen folgte auch hier nicht die gewünschte Reaktion.
„Was ist hier los, was geht hier vor?“, brach es laut aus ihm hinaus.
Noch drei Mal unternahm er den Versuch, seine Männer zu erreichen, eher er resignierte und sich wutentbrannt auf den Weg in die Sicherheitszentrale machte.
Die ungewohnte Dunkelheit stürzte ihn in eine eigenartige Stimmung. Die lumineszierenden Teilchen im Bodenbelag und der Wandverkleidung spielten seinen übernächtigten Augen Streiche und wühlten längst verdrängte Erinnerungen in ihm auf.
Fünf Jahre war er bereits hier. Die Heimat Hals über Kopf verlassen, traf er nach der Landung am Festland in Herroldstadt zufällig auf einen sehr guten Freund aus der Studienzeit wieder.
Simon Shadow hatte kurz zuvor seinen Vater beerdigt und an seiner Stelle die Leitung der Shadow Aktiengesellschaft übernommen. Durch den Verlust geschwächt und mit dem umfangreichen Unternehmen überfordert, war er froh, unverhofft Unterstützung bekommen zu haben. Er fragte nicht danach, was Laman hierher geführt hatte. Simon nahm ihn mit auf die Insel und bot ihm, ohne lange zu überlegen, die leitende Stelle der Sicherheitsabteilung in seiner Firma an. Und weil er um seine Stärken Bescheid wusste, durfte Laman nebenbei interessierte Studenten im Kampfsport unterrichten und Vorträge in Geschichte abhalten. Als Vertrauensbonus übernahm er das Projekt von Simons Schwester und damit die Verantwortung über den Chemikernachwuchs des Unternehmens. Das alles jedoch nur dann, wenn …
Wenn er nicht gerade in einem unbeleuchteten Gang, ohne den Kontakt zu der Sicherheitszentrale, über etwas Undefinierbares stolperte. So wie eben …
„Mist“, fluchte er und kniete sich nieder. Um ihn herum war es dermaßen dunkel, dass er anfangs gar nicht erkannt hatte, ob es sich bei diesem Fund um einen Menschen handelte, oder nur etwas dort lag, wo es nichts zu suchen hatte.
Laman fasste dieses Etwas an. Ein Mensch. Und noch warm. Schnell tastete er sich den fremden Rücken bis zum Hals vor, suchte nach dem Puls.
Nichts, stellte er entsetzt fest. Und nicht nur das. Wie schon den anderen von Sevicks Männern, wurde auch dieser mit einem gebrochenen Genick ins Jenseits befördert. Das verriet ihm die unnatürliche Stellung des Toten.
Laman sah sich um. Versuchte zu erspähen, ob er vielleicht Gesellschaft hatte.
In der Abgeschiedenheit des Ganges konnte er rein gar nichts entdecken. Er bemühte das Gehör. Außer seinem eigenen Herzschlag hörte er nichts.
Er widmete sich wieder der Leiche.
Ist es diesmal jemand von der AG oder wieder einer von Sevicks Arschkriechern? Dieser Typ war ihm von Anfang an unsympathisch. Er tauchte hier mit seinen Männern eines Tages wie aus dem Nichts auf. Sie nisteten sich im Unternehmen ein und so wie es aussah, hatten sie vor, noch lange zu bleiben.
Simon galt weiterhin nach Außen als Leiter der AG. Doch im Hause selbst hatte längst Sevick bei allem das Sagen.
In einer spontan organisierten Versammlung hatte Simon der gesamten Belegschaft nahe gelegt, Sevicks Anweisungen Folge zu leisten. Aus welchem Grund die Leute hergekommen waren und was sie vorhatten, wurde niemandem erläutert.
Simon wirkte seitdem bedrückt und sprach nur noch selten mit Laman. Ihm schien, als würde sich Simon vor dem Mann fürchten. Jedes Mal, wenn Laman ihn direkt darauf ansprach, wechselte Simon das Thema, oder verließ wortlos den Raum. Sein Freund trug offensichtlich ein Geheimnis mit sich herum, und Laman wollte ihn nicht löchern. Schließlich hatte er selbst etwas zu verbergen.
Unterdessen brütete Sevick mit seinen Männern Geheimes im Biolabor aus. Gleich, nach dem sie hier aufgekreuzt waren, ließ Sevick einen ganzen Sektor in der untersten Etage sperren. Nur er und seine Leute durften ihn betreten. Kein anderer. Nicht einmal Simon. Laman grübelte oft darüber nach, was die dort machten.
Entwickelten sie eine Biowaffe? Züchteten sie eine Mutation?
Die Firma verfügte über entsprechende Möglichkeiten.
Laman durchsuchte den Toten. Jeder im Unternehmen trug zumindest die Identifikationskarte mit sich. Aber die Taschen dieses Mannes waren leer. Als er an seinem Hals einen Anhänger mit Lederband ertastete, riss er ihm diesen runter.
Wenn ich nur etwas erkennen könnte.
Der Himmel schien nur darauf gewartet zu haben, denn die Wolken zogen plötzlich auseinander und der Mond schien so hell, wie schon seit Nächten nicht mehr.
Das Licht drang durch die riesige Kuppel der verglasten Aula, die die Form einer Säule hatte und das Rückgrat des Gebäudes bildete. Durch die verspiegelten Schächte gelang es dann bis in die abgelegensten Gänge.
Laman machte sich die grelle Kugel zunutze und betrachtete den Anhänger.
Gott, seufzte er erleichtert. Doch nur ein weiterer von Sevicks Männern.
Jeder von ihnen trug so einen um den Hals. Man konnte zwar nur die Lederbänder sehen, aber es war Laman schon gelungen, auf die eine oder andere Leiche einen Blick zu werfen, ehe ihn Sevick davon getrieben hatte.
Bei dem Anhänger handelte es sich um eine ovale Metallplatte aus einem Laman bislang unbekanntem Edelmetall. In derer Mitte war ein Zeichen eingraviert. Für Laman sah es aus wie eine Schleife, die nach unten verlief. Mittig in der Schleife war ein Punkt platziert. Was mag dies bedeuten? Als Fan uralter Epochen dachte er sofort an Hieroglyphen.
Was führen diese Typen nur im Schilde? Seit dem Tag ihrer Ankunft quälte ihn der Gedanke, dass sich ihre Absichten mit der Philosophie des Unternehmens nicht deckten. Die Shadow-AG hatte sich dem Wohle der Menschheit verschrieben. Nach dem Höhepunkt all der Katastrophen der letzten Jahrhunderte hatte es die Menschheit auch bitter nötig.
6
Grausliches Pack, Laman knirschte mit den Zähnen. Nach dem ein Geräusch seine Gedankengänge unterbrochen hatte, ließ er von dem Toten ab.
Der Mörder etwa?, schoss ihm durch den Kopf.
Seine mittlerweile abgeflachte Aufregung fand wieder Zunder. Der Anhänger wanderte rasch in seinen Hosensack. Er nahm die Waffe in die linke Hand und ging langsam, leise und vorsichtig dem Geräusch nach. Kurz darauf verschwand der Mond hinter der nächsten Wolke und die Dunkelheit verschluckte die Gänge Meter für Meter, bis wieder kaum etwas zu erkennen war. Laman, lediglich aufs Gehör angewiesen, schlich um die nächste Ecke.
Überall herrschte Stille.
Habe ich es mir nur eingebildet? Spielt mir mein müdes Hirn auch schon Streiche?
Laman hatte weitere Meter zurückgelegt, ehe er stehen geblieben war und wenden wollte, um weiter Richtung der Sicherheitszentrale zu gehen. Der lichtlose Spuk sollte endlich ein Ende finden.
Wieder erreichte ihn ein Geräusch. Diesmal war er sich sicher, ein schmerzerfülltes Stöhnen gehört zu haben.
Endlich wird es interessant. Vor Aufregung kribbelte es in seinen Fingern. Und er mochte dieses Kribbeln sehr.
Mit dem Rücken entlang der Wand näherte er sich dem nächsten Gang. Das Ende des breiten Flurs war erleuchtet. Doch auch hier funktionierte die Deckenbeleuchtung nicht. Das Licht kam von den geknickten Leuchtstäben, die zerstreut am Boden lagen.
Laman versteckte sich umgehend hinter einer der Stützsäulen, um das Geschehen mitten in dem künstlich erzeugten Licht zu beobachten. Wiedermal suchte er mit dem Blick zur Decke gerichtet nach einer Erklärung. Wie alle anderen Teile war auch diese Überwachungskamera aktiv.
Wo sind meine Leute? Pennen die etwa? Sie müssen es doch auf den Monitoren sehen! Die Anwesenheit der Fremden brachte ihn in Rage. In seinem Kopf wurde es vor Aufregung so laut, dass er sich beinahe selbst denken hörte. Wie, um Gottes Willen gelangten sie hier rein? Das Unternehmensgebäude glich einer Festung. Elektronisch geschützt durch ein hochsensibles und komplex durchdachtes Sicherheitssystem. Es war das Verlässlichste und Sicherste auf der ganzen Welt. Und dennoch hatten es drei fremde Gestalten unbemerkt in das Gebäude hereingeschafft. Ihr Anblick traf Laman wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Die fremden, dunkel gekleideten Männer zogen seinen Blick magnetisch an. Jeder von ihnen trug eine Kappe und versteckte seine Augen hinter einer Sonnenbrille …
Sonnenbrillen? Laman schüttelte den Kopf. Der Sicherheitsmann verstand nicht, für was das gut sein sollte. Die Stäbe spendeten gerade so viel Licht, dass sie sich gegenseitig nicht auf die Füße stiegen.
Ansonsten war es im Gebäude so finster, dass man die eigene Nasenspitze nicht erkennen konnte. Dann schwenkten seine Vermutungen in eine andere Richtung, aber bei Nachtsichtgeräten hätten sie keine Leuchtstäbe benötigt.
Laman kauerte sich tiefer hinter die Säule. Bei seiner Gestalt war das gar nicht so einfach. Als wollte ein ausgewachsener Tiger in ein Hasenloch hinein kriechen.
Er würde sich gerne kneifen. Unfassbares geschah direkt vor seinen Augen und es stand der Absurdität seines Alptraums in nichts nach.
Diese drei Eindringlinge, Diebe, Terroristen … Laman konnte sich darauf keinen Reim machen. Sie hatten es mit sieben Sevicks bewaffneten Männern aufgenommen.
Was ist das für eine Kampftechnik?, grübelte er.
Nahkampf war für ihn viel mehr als nur ein Hobby. Es war ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. Für sein Ego gab es nichts männlicheres, als sich im Kampf zu beweisen. Seine Kraft und Überlegenheit zu demonstrieren. Macht nicht nur zu demonstrieren, sie auch auszuleben, in dem er den Gegner bezwang.
Dieses Empfinden und Auftreten war nicht untypisch nach den Katastrophen. Viele der materiellen Dinge gingen mit den Landstrichen unter. Gesundheit und Kraft waren mit Vermögen und Gesellschaftsrang gleichgestellt.
Die Menschheit wurde fast ausgerottet. Gute Gene und Ausdauer halfen nicht nur bei dem Sichern der Nachkommen. Genauso wie im Tierreich bedeutete sie Aufsehen, Respekt und Macht.
Obwohl nach Lamans Ermessen ihm keiner dieser drei Eindringlinge körperlich das Wasser reichen konnte, kampftechnisch spielten sie genau in seiner Liga. Deshalb war er so fasziniert. Nein. Er war deshalb so fasziniert, weil er glaubte, dass der Kampf den Männern mehr bedeutete, als nur dem Gegner den Hals umzudrehen.
Als … Laman fehlten die Worte. Die Bewegungsabläufe wirkten anmutig. Als wäre er Zeuge eines unnatürlichen Vorgangs. Mit Erschrecken stellte er fest, dass auch Sevicks Männer mit dieser Art zu Kämpfen vertraut waren.
Was geht hier vor? Wer sind diese Drei? Wer sind die anderen Männer in Wirklichkeit? Wer ist Sevick?
Doch da wurden all die Fragen in seinem Inneren auch schon von einem eigenartigen Gefühl verdrängt. Dem Gefühl: nicht hier sein zu sollen.
Von Sevicks sieben Männern lagen mittlerweile vier leblos auf dem kalten Marmorboden. Laman hatte lange genug zugesehen, um sich der Gefahr bewusst zu werden, in der er sich befand. Doch er war mehr als nur fasziniert. Dieser Kampf, Mann gegen Mann, zog ihn in seinen Bann und er fühlte sich wie festgewachsen. Das Wort Weglaufen schien in seinem Wortschatz nicht existent zu sein.
Bald darauf wurde er Zeuge, wie auch den letzten drei durchtrainierten und vor allem bewaffneten Männern, einem nach dem anderen, ohne, dass diese auch nur einen Schuss abfeuern konnten, der Hals umgedreht wurde.
Saubere Arbeit. Geräuschlos. Unblutig. Aus nicht einmal ihm erklärbaren Gründen fand er diese abscheuliche Tat sogar erregend.
Und dann passiert es.
Laman versuchte noch, den Kopf hinter der Säule zu verstecken. Einer der Drei hatte ihn dennoch bemerkt. Dem Kampfspirit völlig verfallen, hatte er es versäumt, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Sein Herz schlug wie wild in der riesigen Brust. Aus Angst, ihn könnte das gleiche Schicksal ereilen. Er befürchtete, in diesem erregten Zustand wäre er außerstande, sich zur Wehr setzen zu können.
Der Fremde kam langsam auf ihn zu. Er brauchte sich nun wirklich nicht mehr verstecken. Mutig stieg er aus dem Schatten der Säule hervor. Es war wahrscheinlich das Dümmste, was er machen konnte. Sein eigener Herzschlag trieb ihn zunehmend in den Wahnsinn. Er glaubte, jeden Augenblick die Beherrschung zu verlieren und etwas noch Dümmeres zu tun. Er atmete laut und hastig, wie ein gehetztes Tier und trieb damit seine Aufregung noch weiter an. Es war sinnlos und unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, außer …
Lauf, lauf weg! Rette dich!
Doch seine Beine folgten dem Befehl nicht. Dann fiel ihm die Waffe ein, die er in der Hand hielt und er sah sie an. Er sah, wie verkrampft er sie mit den Fingern umklammerte.
Der Kleinste und Schmächtigste von den dreien schritt auf seinen Komplizen zu. Er legte ihm seine Hand auf die Schulter, ohne Laman aus den Augen zu lassen. Dann sprach er zu seinem Partner: „No samine. Me aruminate Sevick!“ (Töte ihn nicht. Wir suchen nach Sevick.)
Laman verstand kein Wort und seine bisherige Faszination schlug rasend schnell in Wut um. Die Kampftechnik war ihm unbekannt und dann auch noch die Sprache, der er nicht mächtig war. Dabei beherrschte er beinahe alle der noch gesprochenen Sprachen.
Vielleicht ist dies auch nur einer dieser beschissenen Träume. Ja, sicher. Ich liege garantiert im Bett, schwitze mir wieder einen ab und werde jeden Augenblick mit einem Schrecken aufwachen. Wieder kam ihm der Gedanke in den Sinn, sich zu kneifen.
Da meldet sich wiederum der Größere zum Wort: „Se mariban.“ (Er ist bewaffnet.) Er deutete auf Lamans Hand, in der er so verkrampft den Phaser hielt.
Soll ich schießen? Im selben Zug vertrieb er den Gedanken wieder. Mehr als einen, höchstens zwei, würde er nicht außer Gefecht setzen können. Die elektrische Entladung lähmte, je nach Intensität, das Nervensystem bis zu mehreren Stunden. Um erneut Spannung aufzubauen, benötigte es Zeit. Zeit, die er nicht hatte. Kostbare Sekunden, in denen er in seine Bestandteile zerlegt werden würde.
„No samine, (Töte ihn nicht.)ermahnte ihn nochmals der Zierliche und stellte sich zwischen seinen Partner und Laman, als wolle er ihm mit seinem schmächtig gebauten Körper Schutz bieten. Danach deutete er seinen Komplizen zu verschwinden. „Une lumine amato.“ (Bringt euch in Sicherheit.) Er wiederholte die Handbewegung. Die zwei verbeugten sich und verschwanden daraufhin wortlos in der Dunkelheit.
Laman verlor sich in der eigenartigen Geste und vergaß den Augenblick zu nützen, in dem er hätte flüchten können.
Soll das etwa ihr Anführer sein? Laman überlegte, ob er einer Person, der er sichtlich körperlich überlegen war, mit solchem Respekt begegnen könnte. Dann auch noch mit solch einer veralteten Geste.
Ein Alptraum, war er sich sicher. Diese absurde Szene kann nur einem Alptraum entspringen.
Erneut wurde er sich der Waffe in seiner Hand bewusst. Er drückte so fest zu, bis er in den Knöcheln ein schmerzhaftes Ziehen verspürte. Das wiederum widerlegte seine Alptraumtheorie. Dabei tauchten neue Fragen in seinem Kopf auf: Warum haben sie mich nicht umgebracht? Zu dritt hätten sie ein leichtes Spiel. Warum flüchtete dieser Mann nicht gemeinsam mit seinen Partnern? Warum? … Warum?
Plötzlich leuchtete es ihm ein: Er will mich ablenken. So lange beschäftigen, bis die Zwei in Sicherheit sind.
Dann meldete sich wiederum sein Kämpfer-Ego zu Wort.
Er hätte einen anderen hier lassen sollen. Dieser reicht mir doch gerade so bis zur Brust. Wie viel Vorsprung will er ihnen verschaffen? Ein paar Sekunden?
Er hätte glatt zu lachen anfangen können.
Dennoch. Die Beschützergeste schürte das Entsetzen in ihm. Er war doch derjenige, der sich um alle um ihn herum kümmerte. Alle Fäden im Griff hatte. Das war schon immer so und nicht nur, weil er sogar die größten seiner Mitmenschen noch beinahe um einen ganzen Kopf überragte. Und nun sollte er sich mit einer Fliege messen. Wie demütigend …
Das Entsetzen verwandelte sich bald darauf in Zorn und dann in Hass. Er fand Hass gut, denn der Hass könnte ihn die Ungleichheit vergessen lassen, wenn …
Nur noch sie zwei. Er und der Fremde. Laman war knapp über zwei Meter groß. An seinen Schultern hingen Oberarme wie Baumstämme. Das hatte mal ein Mädchen zu ihm gesagt, ehe er sie mit diesen Baumstämmen gegen die Matratze gedrückt hatte.
Mit seinen hundertzwanzig Kilo wollte er den Fremden plattwalzen. Laman wollte gerne grinsen, aber seine Mimik war ihm bei der ganzen Aufregung eingeschlafen.
Er musterte den Unbekannten. Die Person war um etliches kleiner als er. Diese zerbrechliche Gestalt, mit ihren nicht mehr als fünfzig Kilo, plante er mit einer einzigen Armbewegung dem Boden gleich zu machen.
Er muss verrückt sein, wenn er sich alleine mit mir anlegen will.
Laman stellte weiterhin Vergleiche an und fand sie allesamt lächerlich. Dennoch war ihm nicht nach Lachen zumute. Er suchte nach dem Haken, den das Ganze haben musste. Der Fremde war sicher nicht hierhergekommen, um sein Leben in Lamans Händen zu lassen.
Lange Zeit standen sie sich reglos gegenüber. Dann streckte er Laman seine leeren Hände entgegen. „Ja ne mariban.“ (Ich bin unbewaffnet.)
„Ich verstehe dich nicht“, gab Laman ungeniert zu und dachte dabei an die paar Menschengruppen, die am Rande der verbotenen Zone lebten. Abseits der Gesellschaft, abgeschottet, konnte es durchaus sein, dass sie im Laufe der Zeit und mit Zeit meinte er mehr als ein Jahrhundert, eine eigene Sprache entwickelt hatten.
Vielleicht gehörte dieses Individuum einer Terroristeneinheit an, die aus den vergangenen Katastrophen nichts gelernt hatte und die die Welt endgültig zum Untergehen bringen wollte. Auch deshalb war Simon ein gut funktionierendes Sicherheitssystem in seinem Unternehmen so sehr am Herzen gelegen. Laman war nicht mit allen Vorgängen vertraut, die unter dem Dach der AG abliefen. Er glaubte jedoch fest, dass im Haus Prozesse stattfanden, die sowohl die ganze Welt auslöschen, wie auch wieder zum Florieren bringen konnten. Es hinge lediglich davon ab, wie die Ergebnisse eingesetzt werden würden.
Ist diesem Idioten bewusst, dass er so gut wie erledigt ist?
Laman glaubte fest an sich und seine Kampffähigkeiten. Trotzdem wollte er sich nicht von der Waffe trennen. Es war aber nicht seine Art, jemanden so feige zu erledigen.
Plötzlich verspürte er Lust auf ein Katz und Maus Spiel und entschuldigte sein riskantes Unterfangen, weil die Fremden sich auch nicht in Überzahl auf ihn gestürzt hatten.
„Wer bist du?“, fragte er den Unbekannten, doch dieser antwortete ihm nicht. Stattdessen kam er ein weiteres Stückchen auf Laman zu und er machte es ihm gleich. Beide gingen so weit, bis nur noch eine kurze Distanz zwischen ihnen geblieben war. Laman hielt immer noch die Waffe fest in der Hand. Der Fremde streckte ihm abermals seine leeren Hände entgegen. Erst jetzt bemerkte Laman seinen Blick. Trotz der Sonnenbrille war er sich sicher, diesen richtig gedeutet zu haben. Er sah nicht ihn an, sondern fixierte die Mündung von Lamans Waffe.
Kennt er keinen Phaser?
Die Schusswaffen, die mit Schwarzpulver arbeiteten, gab es nicht mehr. Offiziell jedenfalls nicht. Und am Schwarzmarkt hatte Laman auch schon lange nichts Entsprechendes gesichtet. Sie wurden vor rund zweihundert Jahren auf der ganzen Welt verboten. Es gab einfach zu wenige Menschen, als dass man sich der Gefahr, durch einen Schuss aus dem Hinterhalt getötet zu werden, aussetzen wollte.
Der Fremde starrte die Betäubungswaffe an.
Oder denkt er etwa, er könnte der Entladung ausweichen? So schnell und vorausschauend ist niemand.
Der Mann streckte ein drittes Mal Laman die Hände entgegen.
„Rede mit mir, oder verstehst du mich nicht?“
Der Fremde öffnete die Lippen und flüstert leise: „No lej samine ty, aruminate …“ (Ich will dich nicht töten, ich suche nach …)
„Sevick.“ Laman führte trotz mangelnder Sprachkenntnisse den Satz zu ende. Ja, das habe ich schon gehört – ärgerte er sich über dessen Sturheit. „Ich bin keiner von seinen Leuten.“ So ist es also. Er ist nur hinter Sevick her. Lamans Wut fing an zu schwinden und er bekam mit einem Mal ein ganz mieses Gefühl. Ich sollte echt nicht hier sein. „Ich kann dich nicht einfach so gehen lassen“, fühlte er sich zur Erklärung genötigt. Das ist doch verrückt. Was mache ich hier?
Laman wäre ihm durchaus dankbar, wenn er und seine Komplizen Sevick erwischen würden. Da er für die Sicherheit aller verantwortlich war und Vorschriften befolgen musste, die ihm zwar im gegenwärtigen Zeitpunkt zuwider waren, musste er auch für Sevicks Sicherheit sorgen. Egal wie sehr er sich wünschte, der Boden würde sich unter ihm auftun. Dieser Fremde jedoch könnte seinem Wunsch ein wenig nachhelfen …
Laman traf eine verrückte Entscheidung.
„Ich biete dir einen fairen Kampf an.“ Eigentlich fand er nur eine Lösung, wie er aus diesem Spiel mit reinem Gewissen aussteigen konnte. Würde er ihm entkommen, hätte er keine Möglichkeit mehr, ihn daran zu hindern, auch Sevick den Hals umzudrehen.
Kriegte er ihn jedoch, und davon ging er aus, könnte ihm keiner vorwerfen, ihm keine Chance gegeben zu haben.
Was für eine Chance? Er wurde sich erneut des gewaltigen Unterschiedes zwischen ihnen bewusst. Ist echt wie in einem schlechten Film.
Und von denen gab es in dieser Zeit jede Menge. Keiner wollte sich an die Themen wagen, die die Menschheit tatsächlich bewegten. Die seichte Unterhaltung, welche ihnen die Medien präsentierten, entsprach nicht annähernd Lamans Geschmack. Friede und heile Welt, wohin das Programm reichte. Er sehnte keinen Krieg herbei. Aber von so viel Liebe und Zuneigung wurde ihm regelmäßig kotzübel.
Laman rätselte, ob der Fremde überhaupt etwas von dem verstand, was er zu ihm gesagt hatte. Dennoch hielt er an seinem Entschluss fest und warf die Waffe weg.
Der Impulssender rutschte tief in den Gang, weit aus der Reichweite der Leuchtstäbe. Laman zeigte dem Mann seine leeren Handflächen.
Sie bewegten sich im Kreis. Ein paar Schritte nach rechts, dann ein paar Schritte nach links. Keiner von ihnen wollte den Anfang machen. Laman stellte sich bereits auf eine lange und vor allem öde Zeit ein, ohne zu ahnen, wie falsch er liegen würde.
Laman war angespannt. Der Fremde hingegen wirkte auf ihn ruhig. Während Laman die Arme weit vom Körper hielt, als wollte er ihn jeden Augenblick umarmen, hingen seine Arme locker neben seinem schmalen Körper. Bis auf die Schritte, mit denen er einen Kreis andeutete, war der Rest seines Körpers vollkommen reglos. Dann fiel es Laman auf: Atmet er? Sein Brustkorb bewegte sich nicht. Doch Laman spürte die Wärme in dem Blick, der sich hinter der Brille verbarg.
Der Sicherheitschef wagte den ersten Schritt und sprang auf ihn zu, wie eine Raubkatze, die lange genug ihre Beute beobachtet hatte. Er sprang ins Leere. So schwach der Fremde auch aussah, er war flink. Laman ließ sich nicht entmutigen.
Anfängerglück, bestärkte er sein Ego und startete den nächsten Angriff. Mit geballter Faust wollte er ihn zum Boden fegen.
Der Fremde warf sich blitzschnell hin und rollte zur Seite. Mit einem kräftigen Tritt gegen Lamans Schienbeine brachte er ihn ins Straucheln. Er taumelte, stieß dabei mit der Schulter gegen einen Sockel. Die darauf stehende Büste einer nackten Venus fiel runter und schlug mit einem lauten Knall auf dem Marmorboden auf.
Man mag uns vielleicht nicht sehen, aber das hat man bestimmt sogar durch geschlossene Türen gehört. Bald wird es hier von meinen Männern nur so wimmeln. Mit einem Mal fiel die gesamte Anspannung von ihm ab. Laman freute sich insgeheim, weil er so leicht die Verantwortung über das Schicksal des Fremden loswurde. Der Gegner zog die Knie zur Brust, drückte sich mit den Armen vom Boden ab und sprang auf die Beine. Laman streckte ihm wieder die Faust entgegen und wurde prompt mit der hohlen Handfläche aufgehalten. Ihm war, als hätte er mit der Faust gegen eine Wand geschlagen.
Er dachte an den reglosen Brustkorb seines Gegenübers.
Ist dieses smarte Wesen ein Mensch, oder ist es eine Maschine? Ist die künstliche Intelligenz heutzutage schon so weit entwickelt? Kann sie den Menschen so perfekt imitieren?
Laman versuchte augenblicklich diese Gedanken zu zerstreuen, um sich nicht verunsichern zu lassen. Mit der rechten Hand griff er pfeilschnell dem Mann ins Gesicht, riss ihm die Brille hinunter und sah ihn an.
Braune Augen. Braune menschliche Augen.
Durch die weiten Gänge hallten die ersten Schritte. Sie kamen ihnen näher und das ziemlich schnell.
Der Fremde schlug Laman unerwartet mit der flachen Hand und traf ihn mitten auf der Brust. Für Laman glich der Schlag einem Rammbock. Der Hieb beförderte ihn gleich mehrere Schritte rückwärts. Der Gegner gönnte ihm keinen Augenblick, um sich neu orientieren zu können. Er ging sofort in die Knie, breitete seine Arme aus, als wären es Flügel, stieß sich mit dem linken Fuß ab und sprang hoch. Laman sah ihm zu, wie er sich in der Luft drehte. Dabei entging ihm, wie gefährlich nahe er ihm mit dem anderen Fuß gekommen war. Als er den enormen Schmerz im Unterkiefer verspürte, war es bereits zu spät.
Laman stolperte nach hinten, schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand und rutschte benommen zu Boden. Dabei fielen ihm die Lider zu und seine Gedanken verloren sich kurz in einem bodenlosen Nichts. Erst die Luftbewegung über seiner Brust holte ihn aus dem tiefen Loch zurück und er machte die Augen auf.
Der Fremde kniete über ihm und tastete mit seinen schmalen Fingern seinen Hals nach dem Puls ab. Bevor Laman wieder zu einer Bewegung fähig war, nahm er seine Brille aus Lamans Hand und setzte sich diese wieder auf. Im selben Augenblick ging die Nachtbeleuchtung an. Im Gang wurde es plötzlich ungemütlich hell.
Mit Ehrfurcht starrte ihn Laman an, weiterhin unfähig einer Regung. Schon lange hatte er es nicht mit solcher Angst zu tun. Er wurde sich bewusst, wie unbedacht er sich auf diesen Kampf eingelassen hatte. Und vor allem, zu was er sich hinreißen ließ, nur weil ihm jemand seine leeren Hände entgegengestreckt hatte.
Die Schritte kamen immer näher. Es trennten sie nur noch wenige Sekunden, höchstens eine Minute. Laman starrte sein Gegenüber an. Leere Hände, aber Taschen voller Waffen?
Der Mann beugte sich plötzlich zu ihm runter. Brust an Brust flüsterte er ihm ins Ohr: „Ja no samine te, Cèsar Encore“. (Ich will dich nicht töten, …)
Danach stand er auf, wendete sich von Laman ab und während ihn dieser starr mit weit offenem Mund ansah, nahm er kurzen Anlauf und sprang hoch. Er hielt sich an der Kante eines offenen Lüftungsschachtes in der Decke fest. Auch etwas, womit Laman noch eine Weile zu kämpfen haben würde. Das Loch war ihm bis zu diesem Augenblick nicht aufgefallen.
Er schaukelte hin und her und zog sich dann, mit den Füßen voran, in den Schacht hinein.
Als die ersten Männer um die Ecke gekommen waren und zu schießen anfingen, war der Fremde in dem Schacht verschwunden.
Endlich überwand Laman den Schock und setzte sich auf. Mit den Fingern tastete er die blutende Wunde an seinem Hinterkopf ab. Was ist geschehen? Wer ist dieser Mensch mit den tiefen, dunkelbraunen Augen? Woher nahm dieser Haufen von Nichts solche Kraft? Laman atmete einige Male tief durch. Woher kennt der Fremde meinen richtigen Namen? Lediglich Simon wusste über seine Herkunft Bescheid. Im Unternehmen war er unter dem Namen Laman registriert. Es war nichts auffälliges. Viele Menschen lebten seit Generationen ohne Nachnamen. Vielerorts gingen diese im Laufe der Zeit unter, wurden bedeutungslos. Wichtiger war, woher man stammte. Es gab Gegenden, die als Herkunft einen guten Ruf genossen. Wegen sauberem Trinkwasser oder reichhaltigen Nahrungsquellen. Nicht jeder durfte einfach so hinziehen, wo es ihm gefiel. Land wurde rar, Bewohnerzahlen behielt man streng im Auge.
Laman schüttelte den Kopf, als wollte er den Schmerz und vor allem die Bedenken abwerfen, jemand hätte das Geheimnis um seine Identität herausgefunden. Und – verdammt, waren das etwa zwei Frauenbrüste, die mich da berührten? Sein Kopf dröhnte, wie nach einer durchgemachten Nacht.
Ein Kollege vom Nachtdienst wollte dem Fremden in den Lüftungsschacht folgen. Egal, wie sehr er sich auch anstrengte, er kam an die Öffnung nicht heran und musste sich von den anderen helfen lassen.
Wie beschämend.
Auch Laman hatte mit einer Niederlage zu kämpfen. Nur widerwillig ließ er sich auf die Beine helfen.
„Wo seid ihre die ganze Zeit gewesen? An jeder Ecke hängt eine Kamera. Wofür eigentlich? Ihr müsst uns doch gesehen haben!“, brüllte er seine Leute an.
„Das System hatte bis zuletzt keine Störung angezeigt. Auf den Übertragungen waren leere und beleuchtete Gänge zu sehen. Erst als Maari etwas zu essen holen gegangen war, fiel auf, dass etwas nicht stimmte. Wir wissen immer noch nicht, wo der Fehler lag. Es ist uns erst von wenigen Minuten gelungen, die Anlage von neuem hochzufahren.“
„Hat sich etwa jemand in das System reingehackt?“
„In unser System? Du scherzst. Wohl eher ein starker Sonnensturm, der unsere Elektronik durcheinander brachte. Einen Vorfall dieser Art hatten wir noch nie. Denn nicht einmal die Außensensoren haben etwas angezeigt“, erklärte einer von seinen Kollegen.
Kaum ließ der Tumult um ihn herum etwas nach, tauchten aus einer der Ganggabelungen Simon und Sevick auf.
„Was war hier los?“, fragte Simon und Laman erzählte ihm in Kürze, was vorgefallen war. Seine merkwürdigen Empfindungen verschwieg er jedoch. Welcher Mann gab schon freiwillig zu, womöglich von einer Frau niedergeschlagen worden zu sein?
„Hast du jemanden erkannt?“, mischte sich Sevick ein. „Wer waren die Angreifer?“, wollte er weiter wissen.
„Keine Ahnung, Sir.“ Laman ärgerte sich maßlos über die distanzlose Art, selbst blieb er jedoch professionell höflich. „Alle waren schwarz gekleidet, trugen Kappen und Sonnenbrillen. Sie sprachen eine mir unbekannte Sprache …“ Laman fiel sofort auf, wie Simon bei den Worten die Farbe aus dem Gesicht schwand.
„Was haben sie gesagt, kannst du dich erinnern? Wenigstens ein Wort!“, drängte Sevick.
Simon starrte Laman an, als ob er ihn beschwören wollte, nichts zu verraten. Laman musste gar nicht erst überlegen. „Sir, bei bestem Willen, ich weiß es nicht mehr.“ Er zeigte ihm die blutigen Finger und deutete auf seinen Kopf.
„Ach“, ätzte Sevick ohne jedes Mitgefühl. „Na gut. Solltest du dich doch noch an etwas erinnern, dann will ich es sofort wissen.“ Sevick drehte sich um und bemerkte Simons fahles Gesicht. „Verschweigst du mir etwas?“
Simon erzitterte. „Nein, Raphael, bitte glaube mir. Ich weiß genau so wenig wie du.“
„Teilt euch auf und durchkämmt das Gelände. Sie müssen hier noch irgendwo sein.“ Während Sevick seinen Leuten noch weitere Befehle erteilte, kroch Lamans Kollege wieder aus dem Schacht heraus. Alle sahen sofort zu ihm hoch, gespannt, was er ihnen für Neuigkeiten brachte.
„Er muss sich in Luft aufgelöst haben. Ich habe es bis zur Luftansaugvorrichtung geschafft und keine Spuren entdeckt. Alle Nebenschächte sind fest verschlossen und der Ventilator ist in Betrieb. Wäre er dort durch …“
Er musste nicht erklären, was dann mit ihm passiert wäre. Bei dem Gedanken wurde sogar Laman übel.
„Sucht weiter!“, schrie Sevick erzürnt. Er schnippte noch mit den Fingern und machte sich auf den Weg zurück. Seine restlichen Männer schafften umgehend die Leichen fort.
Da beklagte Sevick bereits achtzehn Opfer. Sieben Männer hatte er noch übrig. Die Garde wurde weder verständigt, nicht mal mehr mit einem Wort erwähnt.
Warum? Warum meldet er das nicht? Sein merkwürdiges Vorgehen ließ Laman keine Ruhe. Was hat Sevick zu verbergen, dass er gegen diese systematische Liquidation seiner Leute nichts unternimmt? Wo bringen sie die Leichen hin, sie können sie doch nicht einfach so verschwinden lassen? Die toten Körper können sich schließlich nicht in Luft auflösen.
Sevick war für ihn wie ein Buch mit sieben Siegeln. Laman sah ihn öfters nachts bei seinen Rundgängen in einem der verglasten Büros. Er kniete bei Kerzenlicht und betete. Doch seine unheimliche Art ließ Laman vermuten, dass es nicht Gott war, zu dem er aufsah, sondern der Teufel, den er beschwor.
Laman blieb mit Simon und den Männern von der Nachtschicht alleine. „Ihr könnt gehen, ich komme gleich nach“ schickte er die Männer fort. Kaum verschwand der Letzte im Gang, nahm er den zitternden Simon an den Schultern und rüttelte ihn kräftig durch. „Mensch, komm endlich zu dir und verrate mir, was hier vor sich geht!“
Simon sah ihn an. In seinen Augen entdeckte Laman Angst. Bodenlose Angst. Laman merkte, wie sein Freund am ganzen Körper zitterte.
„Wovor fürchtest du dich so sehr?“, fragte er weiter nach.
Simon starrte ihn fortwährend an, ohne ein einziges Wort zu sagen.
„Ich bin es, Laman, dein Freund! Wenn du mir nicht vertrauen kannst, wem dann? So lass dir doch helfen!“
Simon schüttelte nur den Kopf und versuchte ihn von sich zu drücken. Also ließ er von ihm ab, ging ein paar Schritte. Doch dann drehte er sich noch einmal um. „Solltest du deine Meinung ändern, du weißt, wo du mich findest. Ich bin immer für dich da. Zu jeder Zeit …“ Laman ging weiter und ließ ihn alleine. Bevor er um die Ecke bog, blickte er nochmals über die Schulter. Simon rutschte auf die Knie, verdeckte sich mit den Händen das Gesicht. Laman hörte ihn weinen. Und er hörte ihn flüstern: „Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.“
Laman sah es ihm an, wie gerne er sich ihm anvertraut hätte. Doch irgendwas erlaubte es ihm nicht, es zu tun. Er betrachtete seinen abgemagerten Körper. „Simon?“, versuchte er es nochmals.
Er raufte sich auf, nahm die Hände von seinem Gesicht runter und sah ihn an. Erneut schüttelte er den Kopf.
„Ich warte …“ Laman ließ ungern einen Freund alleine. Tief im Inneren spürte er jedoch, würde er ihn zwingen, würde er alles nur noch schlimmer machen. Also sah er davon ab, in der Hoffnung, er würde bald alleine den Weg zu ihm finden.
5
Durch die massive Umweltverschmutzung am Ende des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts hatte sich die Erde am Rande ihres Untergangs befunden. Flutkatastrophen ungekannten Ausmaßes fegten ganze Landstriche leer. Unerwartete stürmische Windböen, Bodenerosionen, verheerende Hurrikans, Erdverflüssigung unter Verwerfungen, Tornados, die an Stärke und Häufigkeiten zugenommen hatten, verwandelten ganze Staaten in Mondlandschaften.
Felsstürze, Erdrutsche, ruhende Krater, die wieder aktiv geworden waren, die Wiederkehr der Sandwüsten, Atomreaktorunfälle, Austreten von Naturgas und darauf folgende unterirdische Feuer, machten große Teile der Kontinente unbewohnbar. Dem waren schwerwiegende wirtschaftliche Differenzen gefolgt, Rüstungseskalation … Religiöse Sekten versuchten, ihre eigenen Weltanschauungen der Allgemeinheit aufzuzwingen, um der Unruhen Herr zu werden. Regierungsinterventionen folgten kriegerische Auseinandersetzungen. Unter dem Vorwand, den Terrorismus zu bekämpfen, fanden verhängnisvolle Kriege statt, begleitet von Zwischenfällen mit Viren als Biowaffen.
Beschäftigt mit sich selbst und ihrer Gier nach Macht und Geld, sahen es die Vorfahren nicht kommen: Die Menschheit war im Begriff gewesen, sich selbst auszulöschen. Viele, im Laufe der Milliarden von Jahren sich formenden Kontinente waren in Bruchteilen dieser Zeit in dem steigenden Wasser der Ozeane versunken.
Die Übergebliebenen hatten eine neue Gestalt angenommen …
Eidolon - Das Erwachen
Zoe Zander
Einzelheiten zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.
© 2019 Zoe Zander
1. Teil der Eidolon Reihe – Das Erwachen
Inkl. Das Orakel der Tejas – Vorgeschichte zur Reihe
near-future-SciFi/low-urban-Fantasy-Roman
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: Jeanette Peters
Digitale Illustrationen und Cover: Lothar Bauer
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Korrektorat: Bianca Wild
Leseeulen-Verlag
Selbstverlag
Jeanette Peters
Dörwerstraße 68
44359 Dortmund
Email: Leseeulenverlag@gmx.de
Zander.Zoe@gmail.com
www.zoe-zander.at
Das Erwachen
1. Teil der Reihe
inkl.
Das Orakel der Tejas
die Vorgeschichte zur Reihe
Das Erwachen
Das Buch
„Es werden immer mehr“, seufzte er entmutigt. „Zu viele, in deren Schuld du mittlerweile stehst.“
„Die Menschen neigen nun mal dazu, Gefallen nicht umsonst zu tun“, klärte sie ihn über die Tatsache auf, derer er sich nur zu gut bewusst war.
„Eine Hand wäscht die andere – über all die Jahrtausende sind es eine ganze Menge Hände geworden“, nörgelte er weiter. „Und eine Menge an Feinde, die du dir gemacht hast und welche allesamt hinter dir her sind.“
1
Komme zu mir,
so lange wir träumen.
Keinen Herzschlag von dir
will ich mehr versäumen.
Lasse dich treiben
vom Wirbel der Zeit,
zurück zum Augenblick,
in dem wir waren vereint.
Folge meinem Ruf
zu diesem einen Ort.
Dort wieder Aug in Aug
ich einlösen will mein Wort.
Nur dich zu lieben,
nur dich zu begehren,
auf deine Rückkehr warten –
bis zum heutigen Tag entbehren …
Seit Ewigkeiten bereits
such’ ich nach dir.
Die Liebe, die du entfacht hast,
brennt nach wie vor in mir …Wie von fremder Hand gesteuert gingen seine Augen auf. Suchend sah er sich in der Dunkelheit um. Sein eigenes Schlafzimmer kam ihm urplötzlich fremd vor.
Er setzte sich auf, wischte sich mit der Bettdecke den Schweiß vom nackten Oberkörper ab. Ein Alptraum hatte ihn aus dem Schlaf geholt. Ihm die Farbe aus dem Gesicht radiert und den Schweiß aus den Poren getrieben. Nur langsam kehrte die Vernunft in seinen Kopf zurück und vertrieb die absurden Gedanken, die ihm das Blut in den Adern stocken ließen.
Mit einem tiefen Atemzug dehnte er bewusst seine Lunge bis an ihre Grenzen. Die Luft im Raum war stickig, wie in einem seit langem nicht geöffneten Kerker. Dieser erste Atemzug schmerzte unsagbar, aber mit dem Sauerstoff kehrte das Gefühl endlich auch in die letzten Zellen seines übermüdeten Körpers zurück und er konnte sicher gehen, noch unter den Lebenden zu verweilen.
Seine Aufregung legte sich allmählich. Mit müdem Blick durchforstete er die Dunkelheit erneut: „02:00, 16. April 2456“, die blaue Leuchtschrift der Uhr lachte ihn aus.
Bereits zum dritten Mal diese Woche holte ihn dieser Alptraum aus dem Schlaf und erschreckte ihn zu Tode. Wieso?, fragte sich Laman. Was habe ich damit zu tun?
2
Mysteriöses ging seit drei Tagen in der Shadow-AG vor. Dem Unternehmen, in dem Laman arbeitete und gleichzeitig auch wohnte.
Unheimlich genug war schon das Auftauchen des ominösen Sevick samt seinem Gefolge, vor fast einem halben Jahr und die darauf folgende Leitungsübernahme der Firma. Doch seit diesen besagten drei Tagen starb einer von Sevicks Männern nach dem anderen aufgrund offensichtlicher Gewaltauseinandersetzungen. Ihre Leichen wiesen jedoch keinerlei Spuren auf, die zu den Tätern führen würden. Unklar blieb auch das Motiv. Sowohl für Sevicks Anwesenheit, wie auch für die ungeklärten Morde. Zumindest für Laman, was nicht so bedeutend wäre, hätte er eine andere Funktion und nicht die des Chefs der Sicherheitsabteilung.
Nicht nachvollziehbar war für ihn auch die Tatsache, die Garde nicht verständigen zu dürfen. Einerseits kam es ihm recht, den uniformierten Gesetzeshütern nicht Rede und Antwort stehen zu müssen. Aber das bisschen Gewissen, das er besaß, forderte ihn fortwährend dazu auf, diese Verbrechen professionell aufklären zu lassen. Doch weder Sevick noch Simon, sein Vorgesetzter, ließen dies zu. Als ob sie mehr wussten, als er. Und er wusste wahrlich wenig. Nicht einmal, wo die sterblichen Überreste verblieben waren. Denn, kaum schafften die Sicherheitskräfte sie aus den öffentlichen Räumen, waren sie plötzlich unauffindbar. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Laman tappte im Dunkeln.
Und, als ob sich die Götter ebenfalls gegen ihn verschworen hätten, fand er auch in seinen Träumen keine Ruhe. Nacht für Nacht wurde er von einer unbekannten Frau heimgesucht.
Nach langem Strecken und Dehnen stand er schließlich auf und schlurfte zum Fenster.
Eine Massage. Training. Eine Runde auf der Maschine. Sex … Irgendwas! Nichts davon würde ihm vergönnt sein, solange sich die Situation im Haus nicht entspannte.
Nur wenige kamen in den Genuss, eine der Wohnungen beziehen zu können, die sich an der Außenseite des Gebäudes befanden. Die meisten Wohneinheiten verfügten über keine Fenster, lediglich über Einsätze, auf die rund um die Uhr Außenaufnahmen in Echtzeit projiziert wurden. Laman war einer der wenigen Glückspilze, auch wenn man den Unterschied gar nicht merkte.
Er warf einen Blick aus dem Fenster. Als wäre das Gebäude in eine schwarze Folie eingewickelt. Es war rein gar nichts zu sehen. Nicht der angrenzende Wald, nicht einmal der Vorplatz vor dem Firmeneingang. Geschweige denn ein Stück vom Himmel. Laman starrte dorthin, wo er Sterne vermutete …
Da!, erfreute er sich innerlich an dem schwachen Schimmern des Mondes.
Laman ertappte sich bei dem Gedanken an die Frau aus seinem Traum. Wäre er ehrlich zu sich selbst, müsste er sich gestehen, seit dem ersten Traum ununterbrochen an sie zu denken. An ihre smaragdgrüne Augen, deren Blick ihm jedes Mal den Atem stocken ließ.
… so erschreckend böse und doch so unschuldig. So erfahren und weise, und irgendwie dennoch naiv wie weltunerfahren. So voller Lebensfreude, trotzdem traurig und bedrückt.
Kalter Schauer streifte seinen Rücken, wie ein kühler Luftzug. Vertraut und doch fremd. Solche Augen habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Da war er sich sicher.
Mit der Hand tastete er sich die Wand entlang bis zum Lichtschalter. Ein Wort hätte genügt, aber seine Stimme weigerte sich seine Kehle zu verlassen.
Es klickte. Das grelle Licht durchflutete den Raum. Er runzelte die Stirn und schloss für einen Augenblick die Augen.
Was für eine beschissene Nacht …
3
„Drei Uhr morgens und wie lebendig begraben“, jammerte er genervt.
Gleich nach dem ersten Todesfall hatte Sevick sämtliche Sonderaktivitäten vom Tagesprogramm der Mitglieder und Angehörigen der AG gestrichen. Für Laman hieß es: keine zusätzlichen Vorträge für die Studenten, kein Kampftraining mit den Kollegen aus der Sicherheitsabteilung. Zudem durfte niemand das Areal verlassen. Weder um Besorgungen zu erledigen und auch nicht, um sich wo anders zu amüsieren, wenn es schon in dem riesigen Komplex nicht erlaubt war. Der Kontakt mit der Außenwelt war jedem strengstens untersagt. Sämtliche Telefongespräche wurden überwacht. Die Versorgungslieferungen nahmen ausschließlich Sevicks Leute entgegen.
Laman kam es schlimmer vor, wie zu der Zeit, als er noch bei seinem Vater wohnte, seinen Anweisungen Folge leisten musste und man von ihm für alles Rechenschaft abzulegen verlangte.
Nur ein einziges Mal ausgehen können. Ordentlich was trinken, die erstbeste Frau flach legen und danach … Einfach nur weiter saufen.
Laman brauchte keinen Alkohol, um sich besser zu fühlen. Nur wenn er mal über den Durst getrunken hatte, blieben die Träume aus.
Er streckte die Waffe – einen Nerven lähmenden Elektroimpulssender – hinter den Gürtel ein und schob ein paar Plastikstreifen, die er anstatt Handschellen verwendete, in die Hosentasche. Er hatte noch nie jemanden festhalten müssen. Auch nicht auf jemanden geschossen. Doch erst diese Ausrüstung machte seiner Ansicht nach aus dem Geschichte- und Chemielehrer einen Sicherheitsmann.
Er war mit dem Dienst erst in vier Stunden dran. Um den Schlaf beraubt, konnte er genauso gut jetzt schon mit dem Rundgang anfangen. Denn nichts zu tun, empfand er viel anstrengender als sich rund um die Uhr zu bewegen.
Als Chef der Abteilung war er für die Kontrolle der Einhaltung der Sicherheitsabläufe zuständig. Ebenso für die Effizienz und Funktionalität der erforderlichen Maßnahmen und Einsatzmittel. Nicht aus reiner Mitmenschenliebe, nur wegen der Selbstdarstellung verzichtete er auf Sonderregelungen und Privilegien, die sein Vorgesetztenstatus mit sich brachte. Alle sollten sehen, dass er genauso hart arbeiten konnte, wie seine Kollegen. Wenn nicht sogar härter.
4
Er machte die Tür seiner Wohnung zu und tauchte in die finsteren Gänge des Gebäudes ein. Er erwartete nichts anderes, wie die Nächte zuvor. Doch schon beim ersten Schritt war alles anders.
Was ist mit der Nachtbeleuchtung? Laman blickte zur Decke. Die winzigen rot leuchtenden Pünktchen an den Sensoren der Lichtkörper signalisierten ihre Bereitschaft.
Laman winkte. Einer der kleinen roten Punkte fing umgehend an zu blinken. Der Sensor hatte seine Bewegung wahrgenommen, dennoch blieb der Gang weiterhin in Dunkelheit gehüllt.
Warum hat das noch niemand behoben?
Er wunderte sich über die Nachlässigkeit, denn Pannen wie diese meldete das elektronische Überwachungssystem umgehend. Er taste sich die Wand entlang zur nächsten Sprechanlage, um in der Zentrale nachzufragen.
Keinen Meter weiter stießen seine Finger gegen die Funkkonsole. Umgehend versuchte er, eine Verbindung mit den Kollegen in der Zentrale aufzubauen. Die Bedienerkonsole signalisierte genauso wie die Gangbeleuchtung ihre Funktionstüchtigkeit. Doch wie bei den Lampen folgte auch hier nicht die gewünschte Reaktion.
„Was ist hier los, was geht hier vor?“, brach es laut aus ihm hinaus.
Noch drei Mal unternahm er den Versuch, seine Männer zu erreichen, eher er resignierte und sich wutentbrannt auf den Weg in die Sicherheitszentrale machte.
Die ungewohnte Dunkelheit stürzte ihn in eine eigenartige Stimmung. Die lumineszierenden Teilchen im Bodenbelag und der Wandverkleidung spielten seinen übernächtigten Augen Streiche und wühlten längst verdrängte Erinnerungen in ihm auf.
Fünf Jahre war er bereits hier. Die Heimat Hals über Kopf verlassen, traf er nach der Landung am Festland in Herroldstadt zufällig auf einen sehr guten Freund aus der Studienzeit wieder.
Simon Shadow hatte kurz zuvor seinen Vater beerdigt und an seiner Stelle die Leitung der Shadow Aktiengesellschaft übernommen. Durch den Verlust geschwächt und mit dem umfangreichen Unternehmen überfordert, war er froh, unverhofft Unterstützung bekommen zu haben. Er fragte nicht danach, was Laman hierher geführt hatte. Simon nahm ihn mit auf die Insel und bot ihm, ohne lange zu überlegen, die leitende Stelle der Sicherheitsabteilung in seiner Firma an. Und weil er um seine Stärken Bescheid wusste, durfte Laman nebenbei interessierte Studenten im Kampfsport unterrichten und Vorträge in Geschichte abhalten. Als Vertrauensbonus übernahm er das Projekt von Simons Schwester und damit die Verantwortung über den Chemikernachwuchs des Unternehmens. Das alles jedoch nur dann, wenn …
Wenn er nicht gerade in einem unbeleuchteten Gang, ohne den Kontakt zu der Sicherheitszentrale, über etwas Undefinierbares stolperte. So wie eben …
„Mist“, fluchte er und kniete sich nieder. Um ihn herum war es dermaßen dunkel, dass er anfangs gar nicht erkannt hatte, ob es sich bei diesem Fund um einen Menschen handelte, oder nur etwas dort lag, wo es nichts zu suchen hatte.
Laman fasste dieses Etwas an. Ein Mensch. Und noch warm. Schnell tastete er sich den fremden Rücken bis zum Hals vor, suchte nach dem Puls.
Nichts, stellte er entsetzt fest. Und nicht nur das. Wie schon den anderen von Sevicks Männern, wurde auch dieser mit einem gebrochenen Genick ins Jenseits befördert. Das verriet ihm die unnatürliche Stellung des Toten.
Laman sah sich um. Versuchte zu erspähen, ob er vielleicht Gesellschaft hatte.
In der Abgeschiedenheit des Ganges konnte er rein gar nichts entdecken. Er bemühte das Gehör. Außer seinem eigenen Herzschlag hörte er nichts.
Er widmete sich wieder der Leiche.
Ist es diesmal jemand von der AG oder wieder einer von Sevicks Arschkriechern? Dieser Typ war ihm von Anfang an unsympathisch. Er tauchte hier mit seinen Männern eines Tages wie aus dem Nichts auf. Sie nisteten sich im Unternehmen ein und so wie es aussah, hatten sie vor, noch lange zu bleiben.
Simon galt weiterhin nach Außen als Leiter der AG. Doch im Hause selbst hatte längst Sevick bei allem das Sagen.
In einer spontan organisierten Versammlung hatte Simon der gesamten Belegschaft nahe gelegt, Sevicks Anweisungen Folge zu leisten. Aus welchem Grund die Leute hergekommen waren und was sie vorhatten, wurde niemandem erläutert.
Simon wirkte seitdem bedrückt und sprach nur noch selten mit Laman. Ihm schien, als würde sich Simon vor dem Mann fürchten. Jedes Mal, wenn Laman ihn direkt darauf ansprach, wechselte Simon das Thema, oder verließ wortlos den Raum. Sein Freund trug offensichtlich ein Geheimnis mit sich herum, und Laman wollte ihn nicht löchern. Schließlich hatte er selbst etwas zu verbergen.
Unterdessen brütete Sevick mit seinen Männern Geheimes im Biolabor aus. Gleich, nach dem sie hier aufgekreuzt waren, ließ Sevick einen ganzen Sektor in der untersten Etage sperren. Nur er und seine Leute durften ihn betreten. Kein anderer. Nicht einmal Simon. Laman grübelte oft darüber nach, was die dort machten.
Entwickelten sie eine Biowaffe? Züchteten sie eine Mutation?
Die Firma verfügte über entsprechende Möglichkeiten.
Laman durchsuchte den Toten. Jeder im Unternehmen trug zumindest die Identifikationskarte mit sich. Aber die Taschen dieses Mannes waren leer. Als er an seinem Hals einen Anhänger mit Lederband ertastete, riss er ihm diesen runter.
Wenn ich nur etwas erkennen könnte.
Der Himmel schien nur darauf gewartet zu haben, denn die Wolken zogen plötzlich auseinander und der Mond schien so hell, wie schon seit Nächten nicht mehr.
Das Licht drang durch die riesige Kuppel der verglasten Aula, die die Form einer Säule hatte und das Rückgrat des Gebäudes bildete. Durch die verspiegelten Schächte gelang es dann bis in die abgelegensten Gänge.
Laman machte sich die grelle Kugel zunutze und betrachtete den Anhänger.
Gott, seufzte er erleichtert. Doch nur ein weiterer von Sevicks Männern.
Jeder von ihnen trug so einen um den Hals. Man konnte zwar nur die Lederbänder sehen, aber es war Laman schon gelungen, auf die eine oder andere Leiche einen Blick zu werfen, ehe ihn Sevick davon getrieben hatte.
Bei dem Anhänger handelte es sich um eine ovale Metallplatte aus einem Laman bislang unbekanntem Edelmetall. In derer Mitte war ein Zeichen eingraviert. Für Laman sah es aus wie eine Schleife, die nach unten verlief. Mittig in der Schleife war ein Punkt platziert. Was mag dies bedeuten? Als Fan uralter Epochen dachte er sofort an Hieroglyphen.
Was führen diese Typen nur im Schilde? Seit dem Tag ihrer Ankunft quälte ihn der Gedanke, dass sich ihre Absichten mit der Philosophie des Unternehmens nicht deckten. Die Shadow-AG hatte sich dem Wohle der Menschheit verschrieben. Nach dem Höhepunkt all der Katastrophen der letzten Jahrhunderte hatte es die Menschheit auch bitter nötig.
6
Grausliches Pack, Laman knirschte mit den Zähnen. Nach dem ein Geräusch seine Gedankengänge unterbrochen hatte, ließ er von dem Toten ab.
Der Mörder etwa?, schoss ihm durch den Kopf.
Seine mittlerweile abgeflachte Aufregung fand wieder Zunder. Der Anhänger wanderte rasch in seinen Hosensack. Er nahm die Waffe in die linke Hand und ging langsam, leise und vorsichtig dem Geräusch nach. Kurz darauf verschwand der Mond hinter der nächsten Wolke und die Dunkelheit verschluckte die Gänge Meter für Meter, bis wieder kaum etwas zu erkennen war. Laman, lediglich aufs Gehör angewiesen, schlich um die nächste Ecke.
Überall herrschte Stille.
Habe ich es mir nur eingebildet? Spielt mir mein müdes Hirn auch schon Streiche?
Laman hatte weitere Meter zurückgelegt, ehe er stehen geblieben war und wenden wollte, um weiter Richtung der Sicherheitszentrale zu gehen. Der lichtlose Spuk sollte endlich ein Ende finden.
Wieder erreichte ihn ein Geräusch. Diesmal war er sich sicher, ein schmerzerfülltes Stöhnen gehört zu haben.
Endlich wird es interessant. Vor Aufregung kribbelte es in seinen Fingern. Und er mochte dieses Kribbeln sehr.
Mit dem Rücken entlang der Wand näherte er sich dem nächsten Gang. Das Ende des breiten Flurs war erleuchtet. Doch auch hier funktionierte die Deckenbeleuchtung nicht. Das Licht kam von den geknickten Leuchtstäben, die zerstreut am Boden lagen.
Laman versteckte sich umgehend hinter einer der Stützsäulen, um das Geschehen mitten in dem künstlich erzeugten Licht zu beobachten. Wiedermal suchte er mit dem Blick zur Decke gerichtet nach einer Erklärung. Wie alle anderen Teile war auch diese Überwachungskamera aktiv.
Wo sind meine Leute? Pennen die etwa? Sie müssen es doch auf den Monitoren sehen! Die Anwesenheit der Fremden brachte ihn in Rage. In seinem Kopf wurde es vor Aufregung so laut, dass er sich beinahe selbst denken hörte. Wie, um Gottes Willen gelangten sie hier rein? Das Unternehmensgebäude glich einer Festung. Elektronisch geschützt durch ein hochsensibles und komplex durchdachtes Sicherheitssystem. Es war das Verlässlichste und Sicherste auf der ganzen Welt. Und dennoch hatten es drei fremde Gestalten unbemerkt in das Gebäude hereingeschafft. Ihr Anblick traf Laman wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Die fremden, dunkel gekleideten Männer zogen seinen Blick magnetisch an. Jeder von ihnen trug eine Kappe und versteckte seine Augen hinter einer Sonnenbrille …
Sonnenbrillen? Laman schüttelte den Kopf. Der Sicherheitsmann verstand nicht, für was das gut sein sollte. Die Stäbe spendeten gerade so viel Licht, dass sie sich gegenseitig nicht auf die Füße stiegen.
Ansonsten war es im Gebäude so finster, dass man die eigene Nasenspitze nicht erkennen konnte. Dann schwenkten seine Vermutungen in eine andere Richtung, aber bei Nachtsichtgeräten hätten sie keine Leuchtstäbe benötigt.
Laman kauerte sich tiefer hinter die Säule. Bei seiner Gestalt war das gar nicht so einfach. Als wollte ein ausgewachsener Tiger in ein Hasenloch hinein kriechen.
Er würde sich gerne kneifen. Unfassbares geschah direkt vor seinen Augen und es stand der Absurdität seines Alptraums in nichts nach.
Diese drei Eindringlinge, Diebe, Terroristen … Laman konnte sich darauf keinen Reim machen. Sie hatten es mit sieben Sevicks bewaffneten Männern aufgenommen.
Was ist das für eine Kampftechnik?, grübelte er.
Nahkampf war für ihn viel mehr als nur ein Hobby. Es war ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. Für sein Ego gab es nichts männlicheres, als sich im Kampf zu beweisen. Seine Kraft und Überlegenheit zu demonstrieren. Macht nicht nur zu demonstrieren, sie auch auszuleben, in dem er den Gegner bezwang.
Dieses Empfinden und Auftreten war nicht untypisch nach den Katastrophen. Viele der materiellen Dinge gingen mit den Landstrichen unter. Gesundheit und Kraft waren mit Vermögen und Gesellschaftsrang gleichgestellt.
Die Menschheit wurde fast ausgerottet. Gute Gene und Ausdauer halfen nicht nur bei dem Sichern der Nachkommen. Genauso wie im Tierreich bedeutete sie Aufsehen, Respekt und Macht.
Obwohl nach Lamans Ermessen ihm keiner dieser drei Eindringlinge körperlich das Wasser reichen konnte, kampftechnisch spielten sie genau in seiner Liga. Deshalb war er so fasziniert. Nein. Er war deshalb so fasziniert, weil er glaubte, dass der Kampf den Männern mehr bedeutete, als nur dem Gegner den Hals umzudrehen.
Als … Laman fehlten die Worte. Die Bewegungsabläufe wirkten anmutig. Als wäre er Zeuge eines unnatürlichen Vorgangs. Mit Erschrecken stellte er fest, dass auch Sevicks Männer mit dieser Art zu Kämpfen vertraut waren.
Was geht hier vor? Wer sind diese Drei? Wer sind die anderen Männer in Wirklichkeit? Wer ist Sevick?
Doch da wurden all die Fragen in seinem Inneren auch schon von einem eigenartigen Gefühl verdrängt. Dem Gefühl: nicht hier sein zu sollen.
Von Sevicks sieben Männern lagen mittlerweile vier leblos auf dem kalten Marmorboden. Laman hatte lange genug zugesehen, um sich der Gefahr bewusst zu werden, in der er sich befand. Doch er war mehr als nur fasziniert. Dieser Kampf, Mann gegen Mann, zog ihn in seinen Bann und er fühlte sich wie festgewachsen. Das Wort Weglaufen schien in seinem Wortschatz nicht existent zu sein.
Bald darauf wurde er Zeuge, wie auch den letzten drei durchtrainierten und vor allem bewaffneten Männern, einem nach dem anderen, ohne, dass diese auch nur einen Schuss abfeuern konnten, der Hals umgedreht wurde.
Saubere Arbeit. Geräuschlos. Unblutig. Aus nicht einmal ihm erklärbaren Gründen fand er diese abscheuliche Tat sogar erregend.
Und dann passiert es.
Laman versuchte noch, den Kopf hinter der Säule zu verstecken. Einer der Drei hatte ihn dennoch bemerkt. Dem Kampfspirit völlig verfallen, hatte er es versäumt, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Sein Herz schlug wie wild in der riesigen Brust. Aus Angst, ihn könnte das gleiche Schicksal ereilen. Er befürchtete, in diesem erregten Zustand wäre er außerstande, sich zur Wehr setzen zu können.
Der Fremde kam langsam auf ihn zu. Er brauchte sich nun wirklich nicht mehr verstecken. Mutig stieg er aus dem Schatten der Säule hervor. Es war wahrscheinlich das Dümmste, was er machen konnte. Sein eigener Herzschlag trieb ihn zunehmend in den Wahnsinn. Er glaubte, jeden Augenblick die Beherrschung zu verlieren und etwas noch Dümmeres zu tun. Er atmete laut und hastig, wie ein gehetztes Tier und trieb damit seine Aufregung noch weiter an. Es war sinnlos und unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, außer …
Lauf, lauf weg! Rette dich!
Doch seine Beine folgten dem Befehl nicht. Dann fiel ihm die Waffe ein, die er in der Hand hielt und er sah sie an. Er sah, wie verkrampft er sie mit den Fingern umklammerte.
Der Kleinste und Schmächtigste von den dreien schritt auf seinen Komplizen zu. Er legte ihm seine Hand auf die Schulter, ohne Laman aus den Augen zu lassen. Dann sprach er zu seinem Partner: „No samine. Me aruminate Sevick!“ (Töte ihn nicht. Wir suchen nach Sevick.)
Laman verstand kein Wort und seine bisherige Faszination schlug rasend schnell in Wut um. Die Kampftechnik war ihm unbekannt und dann auch noch die Sprache, der er nicht mächtig war. Dabei beherrschte er beinahe alle der noch gesprochenen Sprachen.
Vielleicht ist dies auch nur einer dieser beschissenen Träume. Ja, sicher. Ich liege garantiert im Bett, schwitze mir wieder einen ab und werde jeden Augenblick mit einem Schrecken aufwachen. Wieder kam ihm der Gedanke in den Sinn, sich zu kneifen.
Da meldet sich wiederum der Größere zum Wort: „Se mariban.“ (Er ist bewaffnet.) Er deutete auf Lamans Hand, in der er so verkrampft den Phaser hielt.
Soll ich schießen? Im selben Zug vertrieb er den Gedanken wieder. Mehr als einen, höchstens zwei, würde er nicht außer Gefecht setzen können. Die elektrische Entladung lähmte, je nach Intensität, das Nervensystem bis zu mehreren Stunden. Um erneut Spannung aufzubauen, benötigte es Zeit. Zeit, die er nicht hatte. Kostbare Sekunden, in denen er in seine Bestandteile zerlegt werden würde.
„No samine, (Töte ihn nicht.)ermahnte ihn nochmals der Zierliche und stellte sich zwischen seinen Partner und Laman, als wolle er ihm mit seinem schmächtig gebauten Körper Schutz bieten. Danach deutete er seinen Komplizen zu verschwinden. „Une lumine amato.“ (Bringt euch in Sicherheit.) Er wiederholte die Handbewegung. Die zwei verbeugten sich und verschwanden daraufhin wortlos in der Dunkelheit.
Laman verlor sich in der eigenartigen Geste und vergaß den Augenblick zu nützen, in dem er hätte flüchten können.
Soll das etwa ihr Anführer sein? Laman überlegte, ob er einer Person, der er sichtlich körperlich überlegen war, mit solchem Respekt begegnen könnte. Dann auch noch mit solch einer veralteten Geste.
Ein Alptraum, war er sich sicher. Diese absurde Szene kann nur einem Alptraum entspringen.
Erneut wurde er sich der Waffe in seiner Hand bewusst. Er drückte so fest zu, bis er in den Knöcheln ein schmerzhaftes Ziehen verspürte. Das wiederum widerlegte seine Alptraumtheorie. Dabei tauchten neue Fragen in seinem Kopf auf: Warum haben sie mich nicht umgebracht? Zu dritt hätten sie ein leichtes Spiel. Warum flüchtete dieser Mann nicht gemeinsam mit seinen Partnern? Warum? … Warum?
Plötzlich leuchtete es ihm ein: Er will mich ablenken. So lange beschäftigen, bis die Zwei in Sicherheit sind.
Dann meldete sich wiederum sein Kämpfer-Ego zu Wort.
Er hätte einen anderen hier lassen sollen. Dieser reicht mir doch gerade so bis zur Brust. Wie viel Vorsprung will er ihnen verschaffen? Ein paar Sekunden?
Er hätte glatt zu lachen anfangen können.
Dennoch. Die Beschützergeste schürte das Entsetzen in ihm. Er war doch derjenige, der sich um alle um ihn herum kümmerte. Alle Fäden im Griff hatte. Das war schon immer so und nicht nur, weil er sogar die größten seiner Mitmenschen noch beinahe um einen ganzen Kopf überragte. Und nun sollte er sich mit einer Fliege messen. Wie demütigend …
Das Entsetzen verwandelte sich bald darauf in Zorn und dann in Hass. Er fand Hass gut, denn der Hass könnte ihn die Ungleichheit vergessen lassen, wenn …
Nur noch sie zwei. Er und der Fremde. Laman war knapp über zwei Meter groß. An seinen Schultern hingen Oberarme wie Baumstämme. Das hatte mal ein Mädchen zu ihm gesagt, ehe er sie mit diesen Baumstämmen gegen die Matratze gedrückt hatte.
Mit seinen hundertzwanzig Kilo wollte er den Fremden plattwalzen. Laman wollte gerne grinsen, aber seine Mimik war ihm bei der ganzen Aufregung eingeschlafen.
Er musterte den Unbekannten. Die Person war um etliches kleiner als er. Diese zerbrechliche Gestalt, mit ihren nicht mehr als fünfzig Kilo, plante er mit einer einzigen Armbewegung dem Boden gleich zu machen.
Er muss verrückt sein, wenn er sich alleine mit mir anlegen will.
Laman stellte weiterhin Vergleiche an und fand sie allesamt lächerlich. Dennoch war ihm nicht nach Lachen zumute. Er suchte nach dem Haken, den das Ganze haben musste. Der Fremde war sicher nicht hierhergekommen, um sein Leben in Lamans Händen zu lassen.
Lange Zeit standen sie sich reglos gegenüber. Dann streckte er Laman seine leeren Hände entgegen. „Ja ne mariban.“ (Ich bin unbewaffnet.)
„Ich verstehe dich nicht“, gab Laman ungeniert zu und dachte dabei an die paar Menschengruppen, die am Rande der verbotenen Zone lebten. Abseits der Gesellschaft, abgeschottet, konnte es durchaus sein, dass sie im Laufe der Zeit und mit Zeit meinte er mehr als ein Jahrhundert, eine eigene Sprache entwickelt hatten.
Vielleicht gehörte dieses Individuum einer Terroristeneinheit an, die aus den vergangenen Katastrophen nichts gelernt hatte und die die Welt endgültig zum Untergehen bringen wollte. Auch deshalb war Simon ein gut funktionierendes Sicherheitssystem in seinem Unternehmen so sehr am Herzen gelegen. Laman war nicht mit allen Vorgängen vertraut, die unter dem Dach der AG abliefen. Er glaubte jedoch fest, dass im Haus Prozesse stattfanden, die sowohl die ganze Welt auslöschen, wie auch wieder zum Florieren bringen konnten. Es hinge lediglich davon ab, wie die Ergebnisse eingesetzt werden würden.
Ist diesem Idioten bewusst, dass er so gut wie erledigt ist?
Laman glaubte fest an sich und seine Kampffähigkeiten. Trotzdem wollte er sich nicht von der Waffe trennen. Es war aber nicht seine Art, jemanden so feige zu erledigen.
Plötzlich verspürte er Lust auf ein Katz und Maus Spiel und entschuldigte sein riskantes Unterfangen, weil die Fremden sich auch nicht in Überzahl auf ihn gestürzt hatten.
„Wer bist du?“, fragte er den Unbekannten, doch dieser antwortete ihm nicht. Stattdessen kam er ein weiteres Stückchen auf Laman zu und er machte es ihm gleich. Beide gingen so weit, bis nur noch eine kurze Distanz zwischen ihnen geblieben war. Laman hielt immer noch die Waffe fest in der Hand. Der Fremde streckte ihm abermals seine leeren Hände entgegen. Erst jetzt bemerkte Laman seinen Blick. Trotz der Sonnenbrille war er sich sicher, diesen richtig gedeutet zu haben. Er sah nicht ihn an, sondern fixierte die Mündung von Lamans Waffe.
Kennt er keinen Phaser?
Die Schusswaffen, die mit Schwarzpulver arbeiteten, gab es nicht mehr. Offiziell jedenfalls nicht. Und am Schwarzmarkt hatte Laman auch schon lange nichts Entsprechendes gesichtet. Sie wurden vor rund zweihundert Jahren auf der ganzen Welt verboten. Es gab einfach zu wenige Menschen, als dass man sich der Gefahr, durch einen Schuss aus dem Hinterhalt getötet zu werden, aussetzen wollte.
Der Fremde starrte die Betäubungswaffe an.
Oder denkt er etwa, er könnte der Entladung ausweichen? So schnell und vorausschauend ist niemand.
Der Mann streckte ein drittes Mal Laman die Hände entgegen.
„Rede mit mir, oder verstehst du mich nicht?“
Der Fremde öffnete die Lippen und flüstert leise: „No lej samine ty, aruminate …“ (Ich will dich nicht töten, ich suche nach …)
„Sevick.“ Laman führte trotz mangelnder Sprachkenntnisse den Satz zu ende. Ja, das habe ich schon gehört – ärgerte er sich über dessen Sturheit. „Ich bin keiner von seinen Leuten.“ So ist es also. Er ist nur hinter Sevick her. Lamans Wut fing an zu schwinden und er bekam mit einem Mal ein ganz mieses Gefühl. Ich sollte echt nicht hier sein. „Ich kann dich nicht einfach so gehen lassen“, fühlte er sich zur Erklärung genötigt. Das ist doch verrückt. Was mache ich hier?
Laman wäre ihm durchaus dankbar, wenn er und seine Komplizen Sevick erwischen würden. Da er für die Sicherheit aller verantwortlich war und Vorschriften befolgen musste, die ihm zwar im gegenwärtigen Zeitpunkt zuwider waren, musste er auch für Sevicks Sicherheit sorgen. Egal wie sehr er sich wünschte, der Boden würde sich unter ihm auftun. Dieser Fremde jedoch könnte seinem Wunsch ein wenig nachhelfen …
Laman traf eine verrückte Entscheidung.
„Ich biete dir einen fairen Kampf an.“ Eigentlich fand er nur eine Lösung, wie er aus diesem Spiel mit reinem Gewissen aussteigen konnte. Würde er ihm entkommen, hätte er keine Möglichkeit mehr, ihn daran zu hindern, auch Sevick den Hals umzudrehen.
Kriegte er ihn jedoch, und davon ging er aus, könnte ihm keiner vorwerfen, ihm keine Chance gegeben zu haben.
Was für eine Chance? Er wurde sich erneut des gewaltigen Unterschiedes zwischen ihnen bewusst. Ist echt wie in einem schlechten Film.
Und von denen gab es in dieser Zeit jede Menge. Keiner wollte sich an die Themen wagen, die die Menschheit tatsächlich bewegten. Die seichte Unterhaltung, welche ihnen die Medien präsentierten, entsprach nicht annähernd Lamans Geschmack. Friede und heile Welt, wohin das Programm reichte. Er sehnte keinen Krieg herbei. Aber von so viel Liebe und Zuneigung wurde ihm regelmäßig kotzübel.
Laman rätselte, ob der Fremde überhaupt etwas von dem verstand, was er zu ihm gesagt hatte. Dennoch hielt er an seinem Entschluss fest und warf die Waffe weg.
Der Impulssender rutschte tief in den Gang, weit aus der Reichweite der Leuchtstäbe. Laman zeigte dem Mann seine leeren Handflächen.
Sie bewegten sich im Kreis. Ein paar Schritte nach rechts, dann ein paar Schritte nach links. Keiner von ihnen wollte den Anfang machen. Laman stellte sich bereits auf eine lange und vor allem öde Zeit ein, ohne zu ahnen, wie falsch er liegen würde.
Laman war angespannt. Der Fremde hingegen wirkte auf ihn ruhig. Während Laman die Arme weit vom Körper hielt, als wollte er ihn jeden Augenblick umarmen, hingen seine Arme locker neben seinem schmalen Körper. Bis auf die Schritte, mit denen er einen Kreis andeutete, war der Rest seines Körpers vollkommen reglos. Dann fiel es Laman auf: Atmet er? Sein Brustkorb bewegte sich nicht. Doch Laman spürte die Wärme in dem Blick, der sich hinter der Brille verbarg.
Der Sicherheitschef wagte den ersten Schritt und sprang auf ihn zu, wie eine Raubkatze, die lange genug ihre Beute beobachtet hatte. Er sprang ins Leere. So schwach der Fremde auch aussah, er war flink. Laman ließ sich nicht entmutigen.
Anfängerglück, bestärkte er sein Ego und startete den nächsten Angriff. Mit geballter Faust wollte er ihn zum Boden fegen.
Der Fremde warf sich blitzschnell hin und rollte zur Seite. Mit einem kräftigen Tritt gegen Lamans Schienbeine brachte er ihn ins Straucheln. Er taumelte, stieß dabei mit der Schulter gegen einen Sockel. Die darauf stehende Büste einer nackten Venus fiel runter und schlug mit einem lauten Knall auf dem Marmorboden auf.
Man mag uns vielleicht nicht sehen, aber das hat man bestimmt sogar durch geschlossene Türen gehört. Bald wird es hier von meinen Männern nur so wimmeln. Mit einem Mal fiel die gesamte Anspannung von ihm ab. Laman freute sich insgeheim, weil er so leicht die Verantwortung über das Schicksal des Fremden loswurde. Der Gegner zog die Knie zur Brust, drückte sich mit den Armen vom Boden ab und sprang auf die Beine. Laman streckte ihm wieder die Faust entgegen und wurde prompt mit der hohlen Handfläche aufgehalten. Ihm war, als hätte er mit der Faust gegen eine Wand geschlagen.
Er dachte an den reglosen Brustkorb seines Gegenübers.
Ist dieses smarte Wesen ein Mensch, oder ist es eine Maschine? Ist die künstliche Intelligenz heutzutage schon so weit entwickelt? Kann sie den Menschen so perfekt imitieren?
Laman versuchte augenblicklich diese Gedanken zu zerstreuen, um sich nicht verunsichern zu lassen. Mit der rechten Hand griff er pfeilschnell dem Mann ins Gesicht, riss ihm die Brille hinunter und sah ihn an.
Braune Augen. Braune menschliche Augen.
Durch die weiten Gänge hallten die ersten Schritte. Sie kamen ihnen näher und das ziemlich schnell.
Der Fremde schlug Laman unerwartet mit der flachen Hand und traf ihn mitten auf der Brust. Für Laman glich der Schlag einem Rammbock. Der Hieb beförderte ihn gleich mehrere Schritte rückwärts. Der Gegner gönnte ihm keinen Augenblick, um sich neu orientieren zu können. Er ging sofort in die Knie, breitete seine Arme aus, als wären es Flügel, stieß sich mit dem linken Fuß ab und sprang hoch. Laman sah ihm zu, wie er sich in der Luft drehte. Dabei entging ihm, wie gefährlich nahe er ihm mit dem anderen Fuß gekommen war. Als er den enormen Schmerz im Unterkiefer verspürte, war es bereits zu spät.
Laman stolperte nach hinten, schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand und rutschte benommen zu Boden. Dabei fielen ihm die Lider zu und seine Gedanken verloren sich kurz in einem bodenlosen Nichts. Erst die Luftbewegung über seiner Brust holte ihn aus dem tiefen Loch zurück und er machte die Augen auf.
Der Fremde kniete über ihm und tastete mit seinen schmalen Fingern seinen Hals nach dem Puls ab. Bevor Laman wieder zu einer Bewegung fähig war, nahm er seine Brille aus Lamans Hand und setzte sich diese wieder auf. Im selben Augenblick ging die Nachtbeleuchtung an. Im Gang wurde es plötzlich ungemütlich hell.
Mit Ehrfurcht starrte ihn Laman an, weiterhin unfähig einer Regung. Schon lange hatte er es nicht mit solcher Angst zu tun. Er wurde sich bewusst, wie unbedacht er sich auf diesen Kampf eingelassen hatte. Und vor allem, zu was er sich hinreißen ließ, nur weil ihm jemand seine leeren Hände entgegengestreckt hatte.
Die Schritte kamen immer näher. Es trennten sie nur noch wenige Sekunden, höchstens eine Minute. Laman starrte sein Gegenüber an. Leere Hände, aber Taschen voller Waffen?
Der Mann beugte sich plötzlich zu ihm runter. Brust an Brust flüsterte er ihm ins Ohr: „Ja no samine te, Cèsar Encore“. (Ich will dich nicht töten, …)
Danach stand er auf, wendete sich von Laman ab und während ihn dieser starr mit weit offenem Mund ansah, nahm er kurzen Anlauf und sprang hoch. Er hielt sich an der Kante eines offenen Lüftungsschachtes in der Decke fest. Auch etwas, womit Laman noch eine Weile zu kämpfen haben würde. Das Loch war ihm bis zu diesem Augenblick nicht aufgefallen.
Er schaukelte hin und her und zog sich dann, mit den Füßen voran, in den Schacht hinein.
Als die ersten Männer um die Ecke gekommen waren und zu schießen anfingen, war der Fremde in dem Schacht verschwunden.
Endlich überwand Laman den Schock und setzte sich auf. Mit den Fingern tastete er die blutende Wunde an seinem Hinterkopf ab. Was ist geschehen? Wer ist dieser Mensch mit den tiefen, dunkelbraunen Augen? Woher nahm dieser Haufen von Nichts solche Kraft? Laman atmete einige Male tief durch. Woher kennt der Fremde meinen richtigen Namen? Lediglich Simon wusste über seine Herkunft Bescheid. Im Unternehmen war er unter dem Namen Laman registriert. Es war nichts auffälliges. Viele Menschen lebten seit Generationen ohne Nachnamen. Vielerorts gingen diese im Laufe der Zeit unter, wurden bedeutungslos. Wichtiger war, woher man stammte. Es gab Gegenden, die als Herkunft einen guten Ruf genossen. Wegen sauberem Trinkwasser oder reichhaltigen Nahrungsquellen. Nicht jeder durfte einfach so hinziehen, wo es ihm gefiel. Land wurde rar, Bewohnerzahlen behielt man streng im Auge.
Laman schüttelte den Kopf, als wollte er den Schmerz und vor allem die Bedenken abwerfen, jemand hätte das Geheimnis um seine Identität herausgefunden. Und – verdammt, waren das etwa zwei Frauenbrüste, die mich da berührten? Sein Kopf dröhnte, wie nach einer durchgemachten Nacht.
Ein Kollege vom Nachtdienst wollte dem Fremden in den Lüftungsschacht folgen. Egal, wie sehr er sich auch anstrengte, er kam an die Öffnung nicht heran und musste sich von den anderen helfen lassen.
Wie beschämend.
Auch Laman hatte mit einer Niederlage zu kämpfen. Nur widerwillig ließ er sich auf die Beine helfen.
„Wo seid ihre die ganze Zeit gewesen? An jeder Ecke hängt eine Kamera. Wofür eigentlich? Ihr müsst uns doch gesehen haben!“, brüllte er seine Leute an.
„Das System hatte bis zuletzt keine Störung angezeigt. Auf den Übertragungen waren leere und beleuchtete Gänge zu sehen. Erst als Maari etwas zu essen holen gegangen war, fiel auf, dass etwas nicht stimmte. Wir wissen immer noch nicht, wo der Fehler lag. Es ist uns erst von wenigen Minuten gelungen, die Anlage von neuem hochzufahren.“
„Hat sich etwa jemand in das System reingehackt?“
„In unser System? Du scherzst. Wohl eher ein starker Sonnensturm, der unsere Elektronik durcheinander brachte. Einen Vorfall dieser Art hatten wir noch nie. Denn nicht einmal die Außensensoren haben etwas angezeigt“, erklärte einer von seinen Kollegen.
Kaum ließ der Tumult um ihn herum etwas nach, tauchten aus einer der Ganggabelungen Simon und Sevick auf.
„Was war hier los?“, fragte Simon und Laman erzählte ihm in Kürze, was vorgefallen war. Seine merkwürdigen Empfindungen verschwieg er jedoch. Welcher Mann gab schon freiwillig zu, womöglich von einer Frau niedergeschlagen worden zu sein?
„Hast du jemanden erkannt?“, mischte sich Sevick ein. „Wer waren die Angreifer?“, wollte er weiter wissen.
„Keine Ahnung, Sir.“ Laman ärgerte sich maßlos über die distanzlose Art, selbst blieb er jedoch professionell höflich. „Alle waren schwarz gekleidet, trugen Kappen und Sonnenbrillen. Sie sprachen eine mir unbekannte Sprache …“ Laman fiel sofort auf, wie Simon bei den Worten die Farbe aus dem Gesicht schwand.
„Was haben sie gesagt, kannst du dich erinnern? Wenigstens ein Wort!“, drängte Sevick.
Simon starrte Laman an, als ob er ihn beschwören wollte, nichts zu verraten. Laman musste gar nicht erst überlegen. „Sir, bei bestem Willen, ich weiß es nicht mehr.“ Er zeigte ihm die blutigen Finger und deutete auf seinen Kopf.
„Ach“, ätzte Sevick ohne jedes Mitgefühl. „Na gut. Solltest du dich doch noch an etwas erinnern, dann will ich es sofort wissen.“ Sevick drehte sich um und bemerkte Simons fahles Gesicht. „Verschweigst du mir etwas?“
Simon erzitterte. „Nein, Raphael, bitte glaube mir. Ich weiß genau so wenig wie du.“
„Teilt euch auf und durchkämmt das Gelände. Sie müssen hier noch irgendwo sein.“ Während Sevick seinen Leuten noch weitere Befehle erteilte, kroch Lamans Kollege wieder aus dem Schacht heraus. Alle sahen sofort zu ihm hoch, gespannt, was er ihnen für Neuigkeiten brachte.
„Er muss sich in Luft aufgelöst haben. Ich habe es bis zur Luftansaugvorrichtung geschafft und keine Spuren entdeckt. Alle Nebenschächte sind fest verschlossen und der Ventilator ist in Betrieb. Wäre er dort durch …“
Er musste nicht erklären, was dann mit ihm passiert wäre. Bei dem Gedanken wurde sogar Laman übel.
„Sucht weiter!“, schrie Sevick erzürnt. Er schnippte noch mit den Fingern und machte sich auf den Weg zurück. Seine restlichen Männer schafften umgehend die Leichen fort.
Da beklagte Sevick bereits achtzehn Opfer. Sieben Männer hatte er noch übrig. Die Garde wurde weder verständigt, nicht mal mehr mit einem Wort erwähnt.
Warum? Warum meldet er das nicht? Sein merkwürdiges Vorgehen ließ Laman keine Ruhe. Was hat Sevick zu verbergen, dass er gegen diese systematische Liquidation seiner Leute nichts unternimmt? Wo bringen sie die Leichen hin, sie können sie doch nicht einfach so verschwinden lassen? Die toten Körper können sich schließlich nicht in Luft auflösen.
Sevick war für ihn wie ein Buch mit sieben Siegeln. Laman sah ihn öfters nachts bei seinen Rundgängen in einem der verglasten Büros. Er kniete bei Kerzenlicht und betete. Doch seine unheimliche Art ließ Laman vermuten, dass es nicht Gott war, zu dem er aufsah, sondern der Teufel, den er beschwor.
Laman blieb mit Simon und den Männern von der Nachtschicht alleine. „Ihr könnt gehen, ich komme gleich nach“ schickte er die Männer fort. Kaum verschwand der Letzte im Gang, nahm er den zitternden Simon an den Schultern und rüttelte ihn kräftig durch. „Mensch, komm endlich zu dir und verrate mir, was hier vor sich geht!“
Simon sah ihn an. In seinen Augen entdeckte Laman Angst. Bodenlose Angst. Laman merkte, wie sein Freund am ganzen Körper zitterte.
„Wovor fürchtest du dich so sehr?“, fragte er weiter nach.
Simon starrte ihn fortwährend an, ohne ein einziges Wort zu sagen.
„Ich bin es, Laman, dein Freund! Wenn du mir nicht vertrauen kannst, wem dann? So lass dir doch helfen!“
Simon schüttelte nur den Kopf und versuchte ihn von sich zu drücken. Also ließ er von ihm ab, ging ein paar Schritte. Doch dann drehte er sich noch einmal um. „Solltest du deine Meinung ändern, du weißt, wo du mich findest. Ich bin immer für dich da. Zu jeder Zeit …“ Laman ging weiter und ließ ihn alleine. Bevor er um die Ecke bog, blickte er nochmals über die Schulter. Simon rutschte auf die Knie, verdeckte sich mit den Händen das Gesicht. Laman hörte ihn weinen. Und er hörte ihn flüstern: „Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.“
Laman sah es ihm an, wie gerne er sich ihm anvertraut hätte. Doch irgendwas erlaubte es ihm nicht, es zu tun. Er betrachtete seinen abgemagerten Körper. „Simon?“, versuchte er es nochmals.
Er raufte sich auf, nahm die Hände von seinem Gesicht runter und sah ihn an. Erneut schüttelte er den Kopf.
„Ich warte …“ Laman ließ ungern einen Freund alleine. Tief im Inneren spürte er jedoch, würde er ihn zwingen, würde er alles nur noch schlimmer machen. Also sah er davon ab, in der Hoffnung, er würde bald alleine den Weg zu ihm finden.
5
Durch die massive Umweltverschmutzung am Ende des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts hatte sich die Erde am Rande ihres Untergangs befunden. Flutkatastrophen ungekannten Ausmaßes fegten ganze Landstriche leer. Unerwartete stürmische Windböen, Bodenerosionen, verheerende Hurrikans, Erdverflüssigung unter Verwerfungen, Tornados, die an Stärke und Häufigkeiten zugenommen hatten, verwandelten ganze Staaten in Mondlandschaften.
Felsstürze, Erdrutsche, ruhende Krater, die wieder aktiv geworden waren, die Wiederkehr der Sandwüsten, Atomreaktorunfälle, Austreten von Naturgas und darauf folgende unterirdische Feuer, machten große Teile der Kontinente unbewohnbar. Dem waren schwerwiegende wirtschaftliche Differenzen gefolgt, Rüstungseskalation … Religiöse Sekten versuchten, ihre eigenen Weltanschauungen der Allgemeinheit aufzuzwingen, um der Unruhen Herr zu werden. Regierungsinterventionen folgten kriegerische Auseinandersetzungen. Unter dem Vorwand, den Terrorismus zu bekämpfen, fanden verhängnisvolle Kriege statt, begleitet von Zwischenfällen mit Viren als Biowaffen.
Beschäftigt mit sich selbst und ihrer Gier nach Macht und Geld, sahen es die Vorfahren nicht kommen: Die Menschheit war im Begriff gewesen, sich selbst auszulöschen. Viele, im Laufe der Milliarden von Jahren sich formenden Kontinente waren in Bruchteilen dieser Zeit in dem steigenden Wasser der Ozeane versunken.
Die Übergebliebenen hatten eine neue Gestalt angenommen …