Inhalt:
Während Alex noch über die sieben Meere schippert und sich von der Suche nach dem eigenen Seelenfrieden erholt, wird die „Rote Füchsin“ in ihrer Heimat sehnlichst erwartet.
Das allerdings nicht nur von ihrem Mitbewohner, denn Alex muss schon bald nach der Rückkehr feststellen, dass aus der Jägerin selbst eine Gejagte wurde …
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Carnivora 2
Carnivora 2
Die rote Füchsin
Novelle
© 2019 Zoe Zander
Carnivora 2, Die rote Füchsin
Novelle
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Covergestaltung Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Korrektorat: Stefanie Brandt
Postadresse:
Zoe Zander
Albertgasse 49/12a
1080 Wien
Email: zander.zoe@gmail.com
Autorenseite: www.zoe-zander.at
Er bezeichnet mich als Treibholz, gefangen in dem Strudel, in den ich auf der Suche nach mir selbst geraten bin. Sein Angebot, mich bei dieser Suche zu führen, klingt verlockend. Auch, weil er genau wissen will, was ich brauche …
Er: „Wenn du dich auf mein Spiel einlässt, dann hast du zu tun, was ich bestimme …“
Ich: „Wenn ich bei einem Spiel kein Mitspracherecht habe, dann ist es nicht (m)ein Spiel. Dann ist es Gewalt …“
Zoe Zander
Das Buch:
Alex war im Glauben, ihr altes Leben für alle Zeiten hinter sich gelassen zu haben. Doch die Vergangenheit holte sie schneller ein, als wie sie sich in ihrem neu gewonnenen Leben zurechtgefunden hatte.
Dieses Mal ging es nicht um einen Papierschnipsel oder ein paar Rollenspiele, sondern um ein Leben und dann auch noch um das Leben ihrer neuen Liebe …
Informationen zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.
2. Teil
Rote Füchsin
Einen schmucken Reif,
Ringe und Ketten
legen sie mir zu Füßen.
Sie binden mir Schleifen,
bürsten mein Fell,
um mir ein Loch hinein zu schießen.
Mit Küssen statt Pralinen
pflastern sie sich den Weg
zu meinem Herzen.
Sie stolpern über meine Liebe
und verbrennen meine Seele
im romantischen Licht der Kerzen.
Wie der Jagdtrieb des Vaters
in seinem Sohn – wurde auch ich
zum zweiten Mal geboren.
Um in der eisigen Hölle für Schuld,
die ich nie begangen,
mit einer Kugel im Kopf zu schmoren.
Nicht himmlische Wesen
und Amors scharfe Pfeile
kokettieren dort um meinen Verstand.
Meinen inneren Kampf
zwischen dem Tod und der Liebe
entscheidet schlussendlich (s)ein Freundschaftsband.
Zoe Zander
1
Einen Frauenkörper zu erkunden und von einer Frau meinen Körper erkunden zu lassen, war alles Mögliche. Es war aufregend, anregend, inspirierend und sogar erregend, aber es befriedigte mich nicht. Nicht meine Sinne und noch weniger meine wieder gefundene Seele. Es ließ das Feuer der Lust in mir nur aufflackern. Den Rest von mir ließ es kalt.
Ich nahm mir vor, mich vom Verlauf der Dinge überraschen zu lassen. Vielleicht erwartete ich dennoch unbewusst viel mehr, als Christina mir geben konnte.
Mein Körper war gezeichnet, auch wenn von den blauen Flecken, Striemen und Spuren von festen Schnürungen nichts mehr zu erkennen war. Christinas zärtliche Berührungen fühlten sich an, wie Balsam für meine geschundene Haut. Die Liebkosungen ihrer Lippen sprachen die Frau in mir merkbar an, aber beides war mir zu wenig. Ich wusste, wie es sich anfühlte, der Ohnmacht nahe zu sein. Einen Augenblick festhalten zu wollen. Und nun, wo ich endlich jemanden bei mir hatte, mit dem ich gerne die Zeit angehalten hätte – lösten sich solche Gefühle bei mir bereits auf der halben Strecke im Nichts auf.
Ich wusste nicht, was schlimmer sein sollte. Nicht mehr imstande zu sein, schöne Momente als mein Eigen anzunehmen und mir zu erlauben, sie auszukosten? Oder es nur unter Androhung von Schlägen so empfinden zu können? Vielleicht sogar nur noch als Kombination: Schläge und Lust zur gleichen Zeit.
Solche Menschen gibt es. Bin ich eine von ihnen? Schon immer gewesen oder erst geworden?
Es ist ja nicht so, dass Christina gar keine Gefühle in mir geweckt hätte. Im Gegenteil. Sie entfesselte eine regelrechte Gier in mir. Die Gier nach Nähe, nach Geborgenheit. Nach Zärtlichkeit und auch nach Sex …
Aber sie konnte sie nicht befriedigen und das hatte sie sehr wohl bemerkt, ohne, dass ich es mit einem einzigen Wort erwähnte, oder mit einer Geste darauf hinwies.
Wir haben drei wunderschöne Wochen auf offenem Meer verbracht. Doch als das Schiff im Hafen angelegt hatte und nach dem wir gemeinsam vom Bord gingen, einigten wir uns daraufhin , getrennte Wege zu gehen.
Wir hatten zwar noch zusammen den Heimflug gebucht, Christina befürchtete jedoch, sie könnte womöglich nicht die Finger davon lassen, es erneut versuchen zu wollen und ich … Ich wusste nicht, ob so etwas im zweiten Anlauf befriedigender werden könnte.
Ich buchte also den Flug um.
Jetzt schaue ich durch das Fenster und sehe nur das endlose Blau des Himmels. Entspannt mache ich die Augen zu, und bevor ich mich meiner Müdigkeit ausliefere, denke ich noch kurz an eine längst vergessene Szene …
Weihnachtsstress
„Boah …“ Alex lehnte sich im Sofa zurück. „Nur noch eine Woche und dann ist Weihnachten.“ Er blickte zu mir herüber, als würde er sich einen Kommentar von mir erwarten. „Hast du schon etwa alle Geschenke beisammen?“
Hätte ich gerade nicht eine Karotte im Mund stecken, hätte ich ihm eine Antwort gegeben, aber mit vollem Mund pflegte ich nicht zu sprechen.
„Entschuldige“, antwortete er an meiner Stelle. „Das habe ich völlig vergessen. Für wen solltest du denn schon Geschenke kaufen?“
„Na für dich zum Beispiel“, konterte ich sofort, um zu überspielen, wie sehr mich seine Worte trafen.
Während ich mich weiterhin seelenruhig meiner Karotte widmete, hat es ihm irgendwie die Sprache verschlagen.
„Echt jetzt?“, zweifelte er scheinbar an meinen Worten.
Ich grinste verschmitzt.
„Das würde ich jetzt aber schon gerne wissen.“
Mir war klar, dass er auf einen Hinweis wartete, ob er sich gleich morgen auf die Suche nach dem passenden Geschenk für mich begeben sollte.
„Lass dich überraschen. Freut man sich nicht am meisten dann über ein Geschenk, wenn man am wenigsten damit rechnet?“
2
Noch bevor ich die Augen ganz öffne, greife ich instinktiv nach der Papiertüte.
„Ist Ihnen schlecht?“
Ich drehe mich zur Seite und blicke meinem Sitznachbarn in sein fahles Gesicht.
Macht er sich Sorgen um seinen schönen Anzug oder um mich?
„Ich überlege noch …“ Ich atme mehrere Male tief durch.
„Sie überlegen noch?“, wundert er sich über meine – zugegeben – eigenartige Antwort.
Ich wische mir mit dem Handrücken über meine Lider und lege die Papiertüte zurück auf ihren Platz. Der Traum rührte meinen Mageninhalt gewaltig durcheinander.
„Alles in Ordnung?“
„Ja“, antworte ich knapp und wende mich von ihm ab, um nicht noch einmal den Mann ansehen zu müssen, der auf dem Rückweg von der Toilette soeben an unserer Sitzreihe vorbei geht.
Die Welt ist immer noch rund. Laufe ich also vor jemandem davon, hole ich ihn bald wieder ein. Und nach dem ich drei Wochen das Schiff neben weiteren dreitausend Passagieren und Besatzungsmitgliedern auch mit dem mir bekannten Katzenhasser teilte, wundere ich mich wesentlich weniger darüber, hier in sauerstoffarmer Höhe einen Fan von Wasserspielen anzutreffen, als von meinem Mitbewohner zu träumen.
„Möchten Sie ein Glas Wasser?“
„Nein.“ Ich drehe mich noch einmal kurz zu meinem Sitznachbarn. „Danke sehr.“
Erneut schließe ich meine Augen und will mich von den feinen Vibrationen des Flugzeuges in den Schlaf wiegen lassen. Doch meine Müdigkeit ist mit einem Mal wie weggefegt. Ich bekomme das Gesicht meines Sitznachbarn nicht mehr aus dem Sinn. Mehr noch. Mit der Zeit bekommt es sogar einen schicken Bilderrahmen, der obendrein noch einen Platz für ein zweites Gesicht freihält.
Nur in den seltensten Fällen machte ich mir in der Vergangenheit Gedanken darüber, wo ich wem in meinem früheren Leben begegnete. Ich reihe also das gerahmte Bild zu denen dazu, die ich in irgendwelchen Büros oder Privaträumen im Laufe der vergangenen Jahre zu Gesicht bekam. Die Gesichter der ebenfalls auf solchen Bildern verewigten Frauen merkte ich mir bislang grundsätzlich nicht. Das musste ich auch nicht. Großteils wurde ich dafür bezahlt, um für eine begrenzte Zeit ihre Identitäten anzunehmen.
Doch dieses eine Bild in meinem Kopf irritiert mich bedeutend. Ich bin mir nämlich sicher, dem Mann, der neben mir sitzt, vorher noch nie persönlich begegnet zu sein.
Also – wie kommt sein Bild nur in meinen Kopf hinein?
Nach der Landung versuche ich noch dahinterzukommen, woher meine Erinnerungen an das gerahmte Bild herrühren, aber ich verliere den Mann in der Ankunftshalle aus den Augen. Sein Bild in meinem Kopf hingegen, begleitet mich bis nach Hause. Es abzuschütteln gelingt mir erst, als ich in der Eingangshalle unseres Appartementhauses in den Aufzug steige. Dabei tausche ich das Bild des Mannes in meinem Kopf gegen die Erinnerung an den Tag vor Heiligabend im letzten Jahr …
Bescherung
„Warte!“, packte ich Alex ungehalten am Kragen, bevor die Aufzugstür zuging.
Er war um einen Kopf größer als ich, dennoch sah er mich an, als würde er plötzlich um sein Leben bangen.
„Ich hab etwas für dich.“ Ich drückte ihm ein buntes Kuvert in die Hand.
„Heute schon? Weihnachten ist doch erst morgen“, murmelte er überrascht.
„Warum unnötig Zeit verlieren?“
Alex beäugte das Kuvert. „Du schenkst mir doch kein Geld, oder?“
„Ich hab dir schon für eine ganze Weile die Miete erlassen. Was willst du noch?“, brummte ich enttäuscht.
Ich glaubte, dass ich mehr aufgeregt war als er, denn ich würde bald aus der Haut fahren, wenn er nicht gleich in das Kuvert hinein guckte.
Ja – ich hab ins Schwarze getroffen!
Alex Gesicht fing an zu strahlen, seine Augen leuchteten heller als die gesamte Weihnachtsdekoration unserer Stadt.
„Alex …“ Er sprang auf mich zu, so, dass ich nun einen Schrecken bekam. Er umarmte mich und drückte mir einen festen Kuss direkt auf den Mund. „Das ist das beste Geschenk … nein, du hast soeben aus diesen Weihnachten das schönste Fest meines Lebens gemacht.“ Er sah auf die Uhr. „Und tatsächlich – gerade noch rechtzeitig.“ Er schlängelte sich an mir vorbei und eilte in sein Zimmer.
Fünfzehn Minuten später stand ich immer noch vor der Aufzugtür. Ich wusste echt nicht, wie ich mit dem Kuss umgehen sollte. Vielleicht hoffte ich insgeheim, er würde ihn wieder mitnehmen, wenn er mit gepackten Koffern mein Appartement verlässt.
„Woher wusstest du …?“
„Nun ja, deine Telefonate sind nicht zu überhören.“
Alex errötete. „Ja, traurig. Seit ich mit meinen Eltern hierhergezogen bin, habe ich meine Oma nicht mehr gesehen. Sie fanden nie Zeit, um sie zu besuchen. Sie ist leider zu krank für so eine lange Reise, und mir fehlte bislang einfach das Geld.“
„Na dann – nicht, dass der Zug ohne dich losfährt.“ Ich wollte ihn schon in die Kabine schieben. Szenen wie diese war ich einfach nicht gewöhnt. Doch er blieb in der offenen Tür stehen.
„Ich habe auch etwas für dich.“
Mir baumelte plötzlich ein kleines, klobig verpacktes irgendwas vor der Nase herum.
„Es ist nichts Besonderes, aber ich hoffe, du wirst den Gedanken dahinter erkennen.“
Ich griff danach, aber er zog es wieder aus meiner Reichweite.
„Morgen. Du machst dein Geschenk erst morgen auf. Okay?“
„Versprochen. Und nun ab mit dir!“
3
Ich trage den Kuss der letzten Weihnacht wie ein Souvenir mit mir herum. Die ganze Zeit verhielt er sich wie ein unsichtbarer Talisman und nun, im letzten Stock angekommen, brennt er plötzlich auf meinen Lippen wie an dem Abend, als mir ihn Alex aufgesetzt hatte.
Ich gebe den Code ein und die Aufzugtür geht auf. Eine erdrückende Stille heißt mich in meinem Appartement willkommen. Meine Nase wittert abgestandene Luft und schnürt mir daraus eine Schlinge um mein Herz.
„Es ist nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine falsche Entscheidung traf“, bedauere ich mich nur kurz und steige aus der engen Kabine hinaus.
Die Tür schließt sich hinter mir und nun stehe ich da. Zurückgekehrt, in mein scheinbar verlassenes Zuhause.
Ich lasse meinen Koffer im Vorraum stehen und eile zu dem Zimmer, das ich die letzten paar Jahre nicht betrat.
„Kann alles heißen …“, will ich aus der spärlichen Ausstattung keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Dann fällt mein Blick auf sein Bett.
„Schade …“, erreicht mich die Kälte der nackten Matratze.
Der Hunger treibt mich schlussendlich in die Küche, doch dem Kühlschrank knurrt der Magen mindestens so stark wie mir.
„Scheint schon ein paar Tage her zu sein …“
Wie viele Tage? Ging er vielleicht gleich nach mir?
Es fühlt sich an, als wäre ich über Glassplitter gelaufen. Oder eher, als hätte ich welche eingeatmet, denn das Stechen spüre ich nicht in meinen Fußsohlen, sondern in meiner Brust.
Ich hole meinen Koffer und will die Wäsche gleich in die Waschmaschine packen. Ich drücke den Türgriff der Waschküche hinunter, öffne die Tür …
„Oh mein Gott!“, rufen wir beide gleichzeitig und machen vor Schreck jeweils einen Schritt zurück.
Danach stehen wir da wie festgefroren.
Eine Ewigkeit lang.
„Nette Bettwäsche“, kommentiere ich das eigenartige Rosa in seinen Händen und mache so der erdrückenden Stille den Garaus.
„Beim letzten Mal habe ich eine rote Socke in der Waschmaschine vergessen.“
„Hast du die etwa nicht vermisst?“
„Doch. Aber es war nicht meine erste Socke, die mir in irgendeiner Waschmaschine verloren ging.“
„Na offensichtlich ging sie ja nicht verloren“, entfessle ich eine sinnlose Diskussion. „Sonst wäre deine Bettwäsche jetzt nicht rosa.“
„Bist du nur deshalb zurückgekommen, um mich zu belehren?“
„Ich bin mir nicht sicher“, gestehe ich entsetzt.
Wir schweigen wieder.
„Weißt du was?“, seufzt er genervt, dreht sich kurz zur Seite und lässt die saubere Wäsche auf den Boden fallen. „Wenn du dir nicht sicher bist, dann halte lieber den Mund.“
„Entschuldige. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“
Ich höre ein Knistern. Als ob etwas reißen würde. Sind es meine Hoffnungen? Meine Wünsche? Oder vielleicht sogar mein Herz?
Mein letztes Jahrzehnt hatte ich bis ins allerletzte Detail durchdacht und nun stehe ich da, wie frisch aus dem Ei geschlüpft. Früher führte ich mich in seiner Anwesenheit nicht wie eine Idiotin auf.
Was ist nur mit mir los?
Ich ziehe meine Finger fester um den Koffergriff zu und will mich fürs Erste in mein Zimmer zurückziehen. Womöglich nicht nur fürs Erste, sondern für den Rest meines Lebens.
Doch so weit komme ich nicht.
Er packt mich am Ellenbogen und zieht mich mit einem kräftigen Ruck zu sich, worauf ich tatsächlich nachsehe, ob er mir den Arm nicht herausgerissen hat. Und während ich noch zur Seite blicke, beugt er sich schon zu mir hinab und küsst mich.
„Ich hab dich vermisst. So vermisst …“, flüstert er mir zwischendurch ins Ohr.
Und ich? Ich stehe da, wie zu einer Säule erstarrt und merke erst, als mir schwindlig wird, dass ich das Atmen vergaß.
„Ich glaubte nicht, dass du zurückkommen würdest …“, er löst sich plötzlich von mir und sieht mir in die Augen. „Du bist doch zurückgekommen, oder?“
Ich nicke nur.
In meinem Leben lernte ich, mit vielen Dingen zu rechnen, oder mich wenigstens nicht von ihnen überraschen zu lassen. Aber seine Reaktion überrollte mich förmlich wie eine der Wellen, von denen ich an Bord des Schiffes so einige Geschichten zu hören bekam.
Alex hebt mich hoch und weil meine Körperspannung einer Stoffpuppe ähnelt, drückt er meinen Rücken gegen die Wand, um mich kurz loslassen zu können und sich meine Beine um seine Hüften zu legen.
Sein nächster Kuss nagelt meinen Kopf an der Wand fest.
So langsam kehrt meine eigene Wahrnehmung zurück und ich lege ihm meine Arme um den Hals. Das Feuer auf meinen Lippen entflammt erneut. Seine weiteren Küsse löschen es allmählich, weshalb ich sie endlich genießen kann.
„Wo bist du eigentlich gewesen? Du hast dich so schnell verabschiedet, ohne ein Wort zu sagen, wohin du eigentlich gehst.“
Ich streife ihm mit den Fingern über den kahl geschorenen Kopf und erlebe bewusst den Unterschied – mal keine Haare unter den Fingern zu spüren.
Auf einmal zieht er seinen Kopf zurück und sieht mich erneut an. In seinen Augen erkenne ich Unsicherheit.
„Du hast doch nicht etwa wieder …“
„Nein!“, erwacht auch meine Stimme wieder zum Leben und ich leite ihn mit einem sanften Druck im Nacken zu meinen Lippen zurück.
„Gut. Das ist gut …“
Er trägt mich blind durch den Vorraum und bleibt erst vor der Tür seines Zimmers stehen.
„Zu blöd. Ich hab mein Bett noch nicht frisch bezogen.“
Die Wahrheit ist wohl eher, dass er kein zweites Set von Bettwäsche besitzt und somit warten muss, bis der Trockner seine Arbeit erledigt.
Doch ich bin viel zu sehr mit dem Feuerwerk in meinem Bauch beschäftigt, als mich von seinen Worten angesprochen zu fühlen.
Er zögert und ich begreife nicht, dass er auf die Aufforderung wartet, sich in mein Zimmer begeben zu dürfen.
„Willst du etwa nicht …?“, fragt er mich unerwartet.
„Schlafen? Ja, klar …“, antworte ich zügig, als wäre es das Natürlichste in meinem Leben.
Ich war nur kurz im Flugzeug eingenickt und je mehr meine Anspannung in seinen Armen nachlässt, umso mehr meldet sich meine Müdigkeit zurück.
Er stolpert über seine eigenen Füße, rammt meinen Rücken gegen die Garderobe und drückt mir schließlich den Griff meiner Tür in die Po-Ritze, die aus meinem viel zu tiefen Hosenbund hinausragt.
Nachdem wir in die völlige Dunkelheit meines Zimmers eintauchen, werde ich plötzlich munter.
Alex’ Hand steckt unter meinem Shirt und tastet sich meinen Büstenhalter entlang, während sein warmer Atem einen Wirbelsturm in meinem Bauchnabel entstehen lässt.
„Lass los …“, versucht er vergeblich meine Beine von sich zu drücken, und erst bei dieser Abmahnung wird mir bewusst, wie verkrampft ich ihn umklammere.
Er drückt sich mit den Ellenbogen in die Höhe und schiebt meine Knie zusammen. Doch erst als er sich meinem Hosenbund zuwendet, begreife ich endlich …
Ach – so schlafen!
Ich bekomme es unerwartet mit der Angst zu tun.
„Stimmt etwas nicht?“
Mein Zittern muss sich wie ein Erdbeben für ihn angefühlt haben.
„Nein“, meine Lippen verselbstständigen sich und tischen ihm eine dreiste Lüge auf.
Was ist, wenn er meine Erwartungen ebenso nicht erfüllt?
Meine Bedenken sammeln sich in meinem Hals zu einem dicken Kloß zusammen und ich muss den Kopf nach hinten neigen, um weiterhin Luft zu bekommen.
„Hmm …“ Alex leckt mit Genuss über meine Leiste und ist von meiner Körperregung hörbar angetan, auch wenn sie etwas ganz anderes bedeutet, als was er offensichtlich glaubt.
Ich kann es nicht zulassen. Ich setze so viel auf ihn und will nicht erleben, dass ich enttäuscht werde. Doch Angst war schon immer ein schlechter Gefährte.
Je intimer wir werden, umso mehr verkrampfe ich mich. Als ich ihn schlussendlich von mir wegdrücken will, um diesem Treiben ein Ende zu setzen, und meine bislang unerfüllten Wünsche und Träume weiterhin unerfüllt zu lassen, sind meine Arme von der steifen Körperhaltung so taub geworden, dass ich sie nicht ausreichend heben kann und ihn anstatt in die Höhe, nur noch tiefer schiebe.
„Na, du bist heute aber direkt“, kichert er kindisch. Er zeigt sich angetan von meinem Missgeschick, zieht mir den Slip zur Seite und taucht seine Zunge zwischen meine Schamlippen …
„Was war das?“ Alex hebt den Kopf und sieht sich wahrscheinlich um. Das nehme ich an, denn ich kann ihn in der Dunkelheit nicht erkennen.
Es ist mir peinlich zuzugeben, dass dieses Geräusch mir über die Lippen kam. Und so schweige ich, rühre mich nicht und hoffe, er kehrt bald zu dem Vorspiel zurück.
Als er erneut mit seiner Zungenspitze über meinen Kitzler streichelt, greife ich zu dem Polster hinter meinem Kopf.
„Wage es nicht, das Kissen über dein Gesicht zu ziehen“, bemerkt er, für mich völlig unerwartet. „Dein Grunzen macht mich tierisch an.“
„Mein Gott …“, ich verdrehe die Augen. „So was bringt doch jede Stimmung um.“
Auch, wenn er es nicht sehen kann. Ich spüre das Feuer in meinem Gesicht, das mir dieses peinliche Missgeschick entfachte.
„Und wie ist es hiermit?“
Keine Ahnung, was er dort unten mit mir anstellt, aber …
„Alex? Alex!“ Er neigt sich plötzlich über mich und pustet mir ins Gesicht. „Ich dachte, du wärst ohnmächtig geworden.“
War ich auch. Aber meine eigenen Bedenken reichen aus. Er muss sich nicht auch noch zusätzlich Sorgen machen.
Ich spüre, wie unregelmäßig mein Herz schlägt, und ich denke an all das, was ich die letzten Jahre über mich und meinen Körper ergehen ließ.
Ein Säuseln erreicht mein Gehör. Behaarte Schenkel drängen sich zwischen meine Beine. Verschwitzte Hände suchen sich den Weg unter meinen Po und er in mich hinein.
Ich will so sehr erfahren, wie es ist, mich freiwillig, bewusst, ausdrücklich gewollt und mit viel Gefühl hinzugeben, dass ich bei all dem Wirrwarr an Auswertungen in meinem Kopf den eigentlichen Akt fast verpasse.
„Nur ein Wort von dir und ich höre auf.“
„Wieso?“
„Es fühlt sich an, als würde ich es mit einem Stein treiben. Entspann dich, Alex.“
„Nein.“
„Was nein?“
„Hör bitte nicht auf.“
„Du machst es mir nicht gerade leicht.“
„Du sollst es nicht leicht haben, du sollst mich befriedigen.“
„Wie bitte?“
„Ach, vergiss es.“
„Was?“
„Alles.“
Alex hält an und schnauft mich einmal laut an. „Wie wäre es, wenn du aufhörst, dir Gedanken zu machen?“
„Ist womöglich eine sehr gute Idee.“
Alex stürzt mit der Stirn auf meine Brust und ich höre ihn leise lachen.
Dann küsst er mich auf den Busen, lässt in meinem Bauchnabel einen Wirbelsturm entstehen und fängt das Spiel von vorne an.
4
Wir starren uns an, als sehen wir uns an diesem Morgen das erste Mal im Leben. Beide ziehen wir uns die Decke bis zum Kinn, als schämten wir uns vor dem anderen, ein Stückchen der eigenen nackten Haut herzuzeigen. Und wir schweigen uns an, als hätten wir uns schlimme Worte an die Köpfe geworfen und würden uns nun fragen, ob sich der andere noch daran erinnern kann.
„Guten Morgen“, raufe ich mich als Erste dazu, den Mund aufzumachen.
„Guten Morgen“, brummt er mich mit heiserer Stimme an.
„Wie fühlst du dich?“
„Seltsam“, antwortet Alex. „Und wie geht es dir?“
„Eigenartig“, bin ich dabei, meine Gefühle und Gedanken zu ordnen.
„Gehst du?“
„Wohin?“ Ich sehe mich schon mit gepackten Koffern auf irgendeinem Flughafen stehen.
„Duschen.“
„Geh du ruhig. Ich muss …“
„Nachdenken?“
„Ja.“
„Na dann …“
Alex steigt über mich aus dem Bett und schlurft langsam aus meinem Zimmer hinaus. Ich setze mich im Bett auf, wickle mich in meine Bettdecke und befördere meinen Blick ins Nirgendwo.
*
„War für dich wohl nicht so der Burner, oder?“
„Hn?“ Mein Kopf wurde viel zu oft irgendwo dagegen geschlagen und scheinbar habe ich es nun mit den ersten Folgen zu tun.
Ich war nicht gläubig und lief dennoch so viele Jahre einem Zettel hinterher, auf dem die Wörter: meine Seele, geschrieben standen.
Ich starre Alex an. Sehe in Wirklichkeit durch ihn hindurch und suche in einer mir unbekannten Dimension nach Antworten auf die Fragen, die mir plötzlich so wichtig erscheinen.
Gibt es sie etwa tatsächlich? Fühlt sie sich in meinem geschundenen Körper vielleicht nicht wohl?
Mit Überlegungen wie diesen versuche ich mir das Hämmern in meiner Brust und die Achterbahn in meinem Bauch zu erklären.
„Du wirkst nicht besonders glücklich auf mich.“
„Entschuldige, Alex. Ich bin gerade völlig neben der Spur.“
„So siehst du auch aus. Hör zu …“, sagt er zu mir.
Ich kneife kurz meine Augen ganz fest zu und sehe ihn gleich wieder an.
„An mir ging die letzte Nacht auch nicht spurlos vorüber. Für mich gibt es auch so einiges zu überdenken.“ Alex sieht auf die Uhr. „Ich muss jetzt los. Aber wir sollten unbedingt miteinander reden. Und das machen wir auch, sobald ich zurückkomme.“
„Aha“, nicke ich nur und ziehe mir die Decke fester um den Körper. Nicht, dass ich frösteln würde, aber meine Knie schlottern so stark, dass er es merken könnte.
„Na gut. Ich muss dann mal los.“
„Ist gut.“ Ich senke meinen Blick, denn irgendwie lösen seine Worte ganz traurige Erinnerungen in mir aus.
Einige Sekunden später neigt sich ein Schatten über mich, sodass ich erschrocken hoch blicke.
„Tschüss.“ Alex drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und wirbelt damit meine sich langsam abgesetzten Gedanken und Gefühle wieder auf.
„Tschüss.“
5
Gestern dachte ich noch, es wäre der schönste Tag in meinem Leben und es würden nur noch solche Tage folgen.
Vorhin erlebte mich Alex noch immer im Bann der letzten Nacht gefangen. Ich kann es mir nicht erklären, warum ich seine Berührungen wesentlich intensiver empfinde als die von Christina. Es kann nicht daran liegen, dass er ein Mann ist. Mein Körper ist Männerhände und sonst noch alles, was an einem Männerkörper baumelt, gewöhnt. Es liegt bestimmt an ihm selbst.
Es waren diese Fragen, die mich bei unserem Gespräch so wortkarg machten. Die Unsicherheit, er könnte anders empfunden haben als ich, hielt meine Arme an der kurzen Leine, sonst wäre ich ihm gleich nach dem er die Augen geöffnet hatte, um den Hals gefallen.
Zudem war ich nicht die ganze Zeit im Bett gesessen, während Alex duschte und sich anzog.
Ich holte die Post, die ich gestern bei der Mischung aus Aufregung und Müdigkeit vergessen hatte.
Die Rechnungen waren nicht der Rede wert.
Die Werbesendungen ließ ich noch beim Portier im Mülleimer verschwinden.
Das, was ich vor Alex unter der Decke versteckte, war weder mein nackter Körper, noch der Hausanzug, den ich mir für den Gang zum Postfach schnell überzogen hatte. Es war ein Brief in einem unscheinbaren Umschlag. Eigentlich handelt es sich nur um einen Zettel, der es trotz seines mageren Inhaltes ziemlich in sich hat:
„Ich weiß, wer du bist.“
Carnivora 2
Carnivora
2
Die rote Füchsin
Novelle
© 2019 Zoe Zander
Carnivora 2, Die rote Füchsin
Novelle
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Covergestaltung Jeanette Peters
Buchsatz und Textgestaltung: Zoe Zander
Korrektorat: Stefanie Brandt
Postadresse:
Zoe Zander
Albertgasse 49/12a
1080 Wien
Email: zander.zoe@gmail.com
Autorenseite: www.zoe-zander.at
Er bezeichnet mich als Treibholz, gefangen in dem Strudel, in den ich auf der Suche nach mir selbst geraten bin. Sein Angebot, mich bei dieser Suche zu führen, klingt verlockend. Auch, weil er genau wissen will, was ich brauche …
Er: „Wenn du dich auf mein Spiel einlässt, dann hast du zu tun, was ich bestimme …“
Ich: „Wenn ich bei einem Spiel kein Mitspracherecht habe, dann ist es nicht (m)ein Spiel. Dann ist es Gewalt …“
Zoe Zander
Das Buch:
Alex war im Glauben, ihr altes Leben für alle Zeiten hinter sich gelassen zu haben. Doch die Vergangenheit holte sie schneller ein, als wie sie sich in ihrem neu gewonnenen Leben zurechtgefunden hatte.
Dieses Mal ging es nicht um einen Papierschnipsel oder ein paar Rollenspiele, sondern um ein Leben und dann auch noch um das Leben ihrer neuen Liebe …
Informationen zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.
2. Teil
Rote Füchsin
Einen schmucken Reif,
Ringe und Ketten
legen sie mir zu Füßen.
Sie binden mir Schleifen,
bürsten mein Fell,
um mir ein Loch hinein zu schießen.
Mit Küssen statt Pralinen
pflastern sie sich den Weg
zu meinem Herzen.
Sie stolpern über meine Liebe
und verbrennen meine Seele
im romantischen Licht der Kerzen.
Wie der Jagdtrieb des Vaters
in seinem Sohn – wurde auch ich
zum zweiten Mal geboren.
Um in der eisigen Hölle für Schuld,
die ich nie begangen,
mit einer Kugel im Kopf zu schmoren.
Nicht himmlische Wesen
und Amors scharfe Pfeile
kokettieren dort um meinen Verstand.
Meinen inneren Kampf
zwischen dem Tod und der Liebe
entscheidet schlussendlich (s)ein Freundschaftsband.
Zoe Zander
1
Einen Frauenkörper zu erkunden und von einer Frau meinen Körper erkunden zu lassen, war alles Mögliche. Es war aufregend, anregend, inspirierend und sogar erregend, aber es befriedigte mich nicht. Nicht meine Sinne und noch weniger meine wieder gefundene Seele. Es ließ das Feuer der Lust in mir nur aufflackern. Den Rest von mir ließ es kalt.
Ich nahm mir vor, mich vom Verlauf der Dinge überraschen zu lassen. Vielleicht erwartete ich dennoch unbewusst viel mehr, als Christina mir geben konnte.
Mein Körper war gezeichnet, auch wenn von den blauen Flecken, Striemen und Spuren von festen Schnürungen nichts mehr zu erkennen war. Christinas zärtliche Berührungen fühlten sich an, wie Balsam für meine geschundene Haut. Die Liebkosungen ihrer Lippen sprachen die Frau in mir merkbar an, aber beides war mir zu wenig. Ich wusste, wie es sich anfühlte, der Ohnmacht nahe zu sein. Einen Augenblick festhalten zu wollen. Und nun, wo ich endlich jemanden bei mir hatte, mit dem ich gerne die Zeit angehalten hätte – lösten sich solche Gefühle bei mir bereits auf der halben Strecke im Nichts auf.
Ich wusste nicht, was schlimmer sein sollte. Nicht mehr imstande zu sein, schöne Momente als mein Eigen anzunehmen und mir zu erlauben, sie auszukosten? Oder es nur unter Androhung von Schlägen so empfinden zu können? Vielleicht sogar nur noch als Kombination: Schläge und Lust zur gleichen Zeit.
Solche Menschen gibt es. Bin ich eine von ihnen? Schon immer gewesen oder erst geworden?
Es ist ja nicht so, dass Christina gar keine Gefühle in mir geweckt hätte. Im Gegenteil. Sie entfesselte eine regelrechte Gier in mir. Die Gier nach Nähe, nach Geborgenheit. Nach Zärtlichkeit und auch nach Sex …
Aber sie konnte sie nicht befriedigen und das hatte sie sehr wohl bemerkt, ohne, dass ich es mit einem einzigen Wort erwähnte, oder mit einer Geste darauf hinwies.
Wir haben drei wunderschöne Wochen auf offenem Meer verbracht. Doch als das Schiff im Hafen angelegt hatte und nach dem wir gemeinsam vom Bord gingen, einigten wir uns daraufhin , getrennte Wege zu gehen.
Wir hatten zwar noch zusammen den Heimflug gebucht, Christina befürchtete jedoch, sie könnte womöglich nicht die Finger davon lassen, es erneut versuchen zu wollen und ich … Ich wusste nicht, ob so etwas im zweiten Anlauf befriedigender werden könnte.
Ich buchte also den Flug um.
Jetzt schaue ich durch das Fenster und sehe nur das endlose Blau des Himmels. Entspannt mache ich die Augen zu, und bevor ich mich meiner Müdigkeit ausliefere, denke ich noch kurz an eine längst vergessene Szene …
Weihnachtsstress
„Boah …“ Alex lehnte sich im Sofa zurück. „Nur noch eine Woche und dann ist Weihnachten.“ Er blickte zu mir herüber, als würde er sich einen Kommentar von mir erwarten. „Hast du schon etwa alle Geschenke beisammen?“
Hätte ich gerade nicht eine Karotte im Mund stecken, hätte ich ihm eine Antwort gegeben, aber mit vollem Mund pflegte ich nicht zu sprechen.
„Entschuldige“, antwortete er an meiner Stelle. „Das habe ich völlig vergessen. Für wen solltest du denn schon Geschenke kaufen?“
„Na für dich zum Beispiel“, konterte ich sofort, um zu überspielen, wie sehr mich seine Worte trafen.
Während ich mich weiterhin seelenruhig meiner Karotte widmete, hat es ihm irgendwie die Sprache verschlagen.
„Echt jetzt?“, zweifelte er scheinbar an meinen Worten.
Ich grinste verschmitzt.
„Das würde ich jetzt aber schon gerne wissen.“
Mir war klar, dass er auf einen Hinweis wartete, ob er sich gleich morgen auf die Suche nach dem passenden Geschenk für mich begeben sollte.
„Lass dich überraschen. Freut man sich nicht am meisten dann über ein Geschenk, wenn man am wenigsten damit rechnet?“
2
Noch bevor ich die Augen ganz öffne, greife ich instinktiv nach der Papiertüte.
„Ist Ihnen schlecht?“
Ich drehe mich zur Seite und blicke meinem Sitznachbarn in sein fahles Gesicht.
Macht er sich Sorgen um seinen schönen Anzug oder um mich?
„Ich überlege noch …“ Ich atme mehrere Male tief durch.
„Sie überlegen noch?“, wundert er sich über meine – zugegeben – eigenartige Antwort.
Ich wische mir mit dem Handrücken über meine Lider und lege die Papiertüte zurück auf ihren Platz. Der Traum rührte meinen Mageninhalt gewaltig durcheinander.
„Alles in Ordnung?“
„Ja“, antworte ich knapp und wende mich von ihm ab, um nicht noch einmal den Mann ansehen zu müssen, der auf dem Rückweg von der Toilette soeben an unserer Sitzreihe vorbei geht.
Die Welt ist immer noch rund. Laufe ich also vor jemandem davon, hole ich ihn bald wieder ein. Und nach dem ich drei Wochen das Schiff neben weiteren dreitausend Passagieren und Besatzungsmitgliedern auch mit dem mir bekannten Katzenhasser teilte, wundere ich mich wesentlich weniger darüber, hier in sauerstoffarmer Höhe einen Fan von Wasserspielen anzutreffen, als von meinem Mitbewohner zu träumen.
„Möchten Sie ein Glas Wasser?“
„Nein.“ Ich drehe mich noch einmal kurz zu meinem Sitznachbarn. „Danke sehr.“
Erneut schließe ich meine Augen und will mich von den feinen Vibrationen des Flugzeuges in den Schlaf wiegen lassen. Doch meine Müdigkeit ist mit einem Mal wie weggefegt. Ich bekomme das Gesicht meines Sitznachbarn nicht mehr aus dem Sinn. Mehr noch. Mit der Zeit bekommt es sogar einen schicken Bilderrahmen, der obendrein noch einen Platz für ein zweites Gesicht freihält.
Nur in den seltensten Fällen machte ich mir in der Vergangenheit Gedanken darüber, wo ich wem in meinem früheren Leben begegnete. Ich reihe also das gerahmte Bild zu denen dazu, die ich in irgendwelchen Büros oder Privaträumen im Laufe der vergangenen Jahre zu Gesicht bekam. Die Gesichter der ebenfalls auf solchen Bildern verewigten Frauen merkte ich mir bislang grundsätzlich nicht. Das musste ich auch nicht. Großteils wurde ich dafür bezahlt, um für eine begrenzte Zeit ihre Identitäten anzunehmen.
Doch dieses eine Bild in meinem Kopf irritiert mich bedeutend. Ich bin mir nämlich sicher, dem Mann, der neben mir sitzt, vorher noch nie persönlich begegnet zu sein.
Also – wie kommt sein Bild nur in meinen Kopf hinein?
Nach der Landung versuche ich noch dahinterzukommen, woher meine Erinnerungen an das gerahmte Bild herrühren, aber ich verliere den Mann in der Ankunftshalle aus den Augen. Sein Bild in meinem Kopf hingegen, begleitet mich bis nach Hause. Es abzuschütteln gelingt mir erst, als ich in der Eingangshalle unseres Appartementhauses in den Aufzug steige. Dabei tausche ich das Bild des Mannes in meinem Kopf gegen die Erinnerung an den Tag vor Heiligabend im letzten Jahr …
Bescherung
„Warte!“, packte ich Alex ungehalten am Kragen, bevor die Aufzugstür zuging.
Er war um einen Kopf größer als ich, dennoch sah er mich an, als würde er plötzlich um sein Leben bangen.
„Ich hab etwas für dich.“ Ich drückte ihm ein buntes Kuvert in die Hand.
„Heute schon? Weihnachten ist doch erst morgen“, murmelte er überrascht.
„Warum unnötig Zeit verlieren?“
Alex beäugte das Kuvert. „Du schenkst mir doch kein Geld, oder?“
„Ich hab dir schon für eine ganze Weile die Miete erlassen. Was willst du noch?“, brummte ich enttäuscht.
Ich glaubte, dass ich mehr aufgeregt war als er, denn ich würde bald aus der Haut fahren, wenn er nicht gleich in das Kuvert hinein guckte.
Ja – ich hab ins Schwarze getroffen!
Alex Gesicht fing an zu strahlen, seine Augen leuchteten heller als die gesamte Weihnachtsdekoration unserer Stadt.
„Alex …“ Er sprang auf mich zu, so, dass ich nun einen Schrecken bekam. Er umarmte mich und drückte mir einen festen Kuss direkt auf den Mund. „Das ist das beste Geschenk … nein, du hast soeben aus diesen Weihnachten das schönste Fest meines Lebens gemacht.“ Er sah auf die Uhr. „Und tatsächlich – gerade noch rechtzeitig.“ Er schlängelte sich an mir vorbei und eilte in sein Zimmer.
Fünfzehn Minuten später stand ich immer noch vor der Aufzugtür. Ich wusste echt nicht, wie ich mit dem Kuss umgehen sollte. Vielleicht hoffte ich insgeheim, er würde ihn wieder mitnehmen, wenn er mit gepackten Koffern mein Appartement verlässt.
„Woher wusstest du …?“
„Nun ja, deine Telefonate sind nicht zu überhören.“
Alex errötete. „Ja, traurig. Seit ich mit meinen Eltern hierhergezogen bin, habe ich meine Oma nicht mehr gesehen. Sie fanden nie Zeit, um sie zu besuchen. Sie ist leider zu krank für so eine lange Reise, und mir fehlte bislang einfach das Geld.“
„Na dann – nicht, dass der Zug ohne dich losfährt.“ Ich wollte ihn schon in die Kabine schieben. Szenen wie diese war ich einfach nicht gewöhnt. Doch er blieb in der offenen Tür stehen.
„Ich habe auch etwas für dich.“
Mir baumelte plötzlich ein kleines, klobig verpacktes irgendwas vor der Nase herum.
„Es ist nichts Besonderes, aber ich hoffe, du wirst den Gedanken dahinter erkennen.“
Ich griff danach, aber er zog es wieder aus meiner Reichweite.
„Morgen. Du machst dein Geschenk erst morgen auf. Okay?“
„Versprochen. Und nun ab mit dir!“
3
Ich trage den Kuss der letzten Weihnacht wie ein Souvenir mit mir herum. Die ganze Zeit verhielt er sich wie ein unsichtbarer Talisman und nun, im letzten Stock angekommen, brennt er plötzlich auf meinen Lippen wie an dem Abend, als mir ihn Alex aufgesetzt hatte.
Ich gebe den Code ein und die Aufzugtür geht auf. Eine erdrückende Stille heißt mich in meinem Appartement willkommen. Meine Nase wittert abgestandene Luft und schnürt mir daraus eine Schlinge um mein Herz.
„Es ist nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine falsche Entscheidung traf“, bedauere ich mich nur kurz und steige aus der engen Kabine hinaus.
Die Tür schließt sich hinter mir und nun stehe ich da. Zurückgekehrt, in mein scheinbar verlassenes Zuhause.
Ich lasse meinen Koffer im Vorraum stehen und eile zu dem Zimmer, das ich die letzten paar Jahre nicht betrat.
„Kann alles heißen …“, will ich aus der spärlichen Ausstattung keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Dann fällt mein Blick auf sein Bett.
„Schade …“, erreicht mich die Kälte der nackten Matratze.
Der Hunger treibt mich schlussendlich in die Küche, doch dem Kühlschrank knurrt der Magen mindestens so stark wie mir.
„Scheint schon ein paar Tage her zu sein …“
Wie viele Tage? Ging er vielleicht gleich nach mir?
Es fühlt sich an, als wäre ich über Glassplitter gelaufen. Oder eher, als hätte ich welche eingeatmet, denn das Stechen spüre ich nicht in meinen Fußsohlen, sondern in meiner Brust.
Ich hole meinen Koffer und will die Wäsche gleich in die Waschmaschine packen. Ich drücke den Türgriff der Waschküche hinunter, öffne die Tür …
„Oh mein Gott!“, rufen wir beide gleichzeitig und machen vor Schreck jeweils einen Schritt zurück.
Danach stehen wir da wie festgefroren.
Eine Ewigkeit lang.
„Nette Bettwäsche“, kommentiere ich das eigenartige Rosa in seinen Händen und mache so der erdrückenden Stille den Garaus.
„Beim letzten Mal habe ich eine rote Socke in der Waschmaschine vergessen.“
„Hast du die etwa nicht vermisst?“
„Doch. Aber es war nicht meine erste Socke, die mir in irgendeiner Waschmaschine verloren ging.“
„Na offensichtlich ging sie ja nicht verloren“, entfessle ich eine sinnlose Diskussion. „Sonst wäre deine Bettwäsche jetzt nicht rosa.“
„Bist du nur deshalb zurückgekommen, um mich zu belehren?“
„Ich bin mir nicht sicher“, gestehe ich entsetzt.
Wir schweigen wieder.
„Weißt du was?“, seufzt er genervt, dreht sich kurz zur Seite und lässt die saubere Wäsche auf den Boden fallen. „Wenn du dir nicht sicher bist, dann halte lieber den Mund.“
„Entschuldige. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“
Ich höre ein Knistern. Als ob etwas reißen würde. Sind es meine Hoffnungen? Meine Wünsche? Oder vielleicht sogar mein Herz?
Mein letztes Jahrzehnt hatte ich bis ins allerletzte Detail durchdacht und nun stehe ich da, wie frisch aus dem Ei geschlüpft. Früher führte ich mich in seiner Anwesenheit nicht wie eine Idiotin auf.
Was ist nur mit mir los?
Ich ziehe meine Finger fester um den Koffergriff zu und will mich fürs Erste in mein Zimmer zurückziehen. Womöglich nicht nur fürs Erste, sondern für den Rest meines Lebens.
Doch so weit komme ich nicht.
Er packt mich am Ellenbogen und zieht mich mit einem kräftigen Ruck zu sich, worauf ich tatsächlich nachsehe, ob er mir den Arm nicht herausgerissen hat. Und während ich noch zur Seite blicke, beugt er sich schon zu mir hinab und küsst mich.
„Ich hab dich vermisst. So vermisst …“, flüstert er mir zwischendurch ins Ohr.
Und ich? Ich stehe da, wie zu einer Säule erstarrt und merke erst, als mir schwindlig wird, dass ich das Atmen vergaß.
„Ich glaubte nicht, dass du zurückkommen würdest …“, er löst sich plötzlich von mir und sieht mir in die Augen. „Du bist doch zurückgekommen, oder?“
Ich nicke nur.
In meinem Leben lernte ich, mit vielen Dingen zu rechnen, oder mich wenigstens nicht von ihnen überraschen zu lassen. Aber seine Reaktion überrollte mich förmlich wie eine der Wellen, von denen ich an Bord des Schiffes so einige Geschichten zu hören bekam.
Alex hebt mich hoch und weil meine Körperspannung einer Stoffpuppe ähnelt, drückt er meinen Rücken gegen die Wand, um mich kurz loslassen zu können und sich meine Beine um seine Hüften zu legen.
Sein nächster Kuss nagelt meinen Kopf an der Wand fest.
So langsam kehrt meine eigene Wahrnehmung zurück und ich lege ihm meine Arme um den Hals. Das Feuer auf meinen Lippen entflammt erneut. Seine weiteren Küsse löschen es allmählich, weshalb ich sie endlich genießen kann.
„Wo bist du eigentlich gewesen? Du hast dich so schnell verabschiedet, ohne ein Wort zu sagen, wohin du eigentlich gehst.“
Ich streife ihm mit den Fingern über den kahl geschorenen Kopf und erlebe bewusst den Unterschied – mal keine Haare unter den Fingern zu spüren.
Auf einmal zieht er seinen Kopf zurück und sieht mich erneut an. In seinen Augen erkenne ich Unsicherheit.
„Du hast doch nicht etwa wieder …“
„Nein!“, erwacht auch meine Stimme wieder zum Leben und ich leite ihn mit einem sanften Druck im Nacken zu meinen Lippen zurück.
„Gut. Das ist gut …“
Er trägt mich blind durch den Vorraum und bleibt erst vor der Tür seines Zimmers stehen.
„Zu blöd. Ich hab mein Bett noch nicht frisch bezogen.“
Die Wahrheit ist wohl eher, dass er kein zweites Set von Bettwäsche besitzt und somit warten muss, bis der Trockner seine Arbeit erledigt.
Doch ich bin viel zu sehr mit dem Feuerwerk in meinem Bauch beschäftigt, als mich von seinen Worten angesprochen zu fühlen.
Er zögert und ich begreife nicht, dass er auf die Aufforderung wartet, sich in mein Zimmer begeben zu dürfen.
„Willst du etwa nicht …?“, fragt er mich unerwartet.
„Schlafen? Ja, klar …“, antworte ich zügig, als wäre es das Natürlichste in meinem Leben.
Ich war nur kurz im Flugzeug eingenickt und je mehr meine Anspannung in seinen Armen nachlässt, umso mehr meldet sich meine Müdigkeit zurück.
Er stolpert über seine eigenen Füße, rammt meinen Rücken gegen die Garderobe und drückt mir schließlich den Griff meiner Tür in die Po-Ritze, die aus meinem viel zu tiefen Hosenbund hinausragt.
Nachdem wir in die völlige Dunkelheit meines Zimmers eintauchen, werde ich plötzlich munter.
Alex’ Hand steckt unter meinem Shirt und tastet sich meinen Büstenhalter entlang, während sein warmer Atem einen Wirbelsturm in meinem Bauchnabel entstehen lässt.
„Lass los …“, versucht er vergeblich meine Beine von sich zu drücken, und erst bei dieser Abmahnung wird mir bewusst, wie verkrampft ich ihn umklammere.
Er drückt sich mit den Ellenbogen in die Höhe und schiebt meine Knie zusammen. Doch erst als er sich meinem Hosenbund zuwendet, begreife ich endlich …
Ach – so schlafen!
Ich bekomme es unerwartet mit der Angst zu tun.
„Stimmt etwas nicht?“
Mein Zittern muss sich wie ein Erdbeben für ihn angefühlt haben.
„Nein“, meine Lippen verselbstständigen sich und tischen ihm eine dreiste Lüge auf.
Was ist, wenn er meine Erwartungen ebenso nicht erfüllt?
Meine Bedenken sammeln sich in meinem Hals zu einem dicken Kloß zusammen und ich muss den Kopf nach hinten neigen, um weiterhin Luft zu bekommen.
„Hmm …“ Alex leckt mit Genuss über meine Leiste und ist von meiner Körperregung hörbar angetan, auch wenn sie etwas ganz anderes bedeutet, als was er offensichtlich glaubt.
Ich kann es nicht zulassen. Ich setze so viel auf ihn und will nicht erleben, dass ich enttäuscht werde. Doch Angst war schon immer ein schlechter Gefährte.
Je intimer wir werden, umso mehr verkrampfe ich mich. Als ich ihn schlussendlich von mir wegdrücken will, um diesem Treiben ein Ende zu setzen, und meine bislang unerfüllten Wünsche und Träume weiterhin unerfüllt zu lassen, sind meine Arme von der steifen Körperhaltung so taub geworden, dass ich sie nicht ausreichend heben kann und ihn anstatt in die Höhe, nur noch tiefer schiebe.
„Na, du bist heute aber direkt“, kichert er kindisch. Er zeigt sich angetan von meinem Missgeschick, zieht mir den Slip zur Seite und taucht seine Zunge zwischen meine Schamlippen …
„Was war das?“ Alex hebt den Kopf und sieht sich wahrscheinlich um. Das nehme ich an, denn ich kann ihn in der Dunkelheit nicht erkennen.
Es ist mir peinlich zuzugeben, dass dieses Geräusch mir über die Lippen kam. Und so schweige ich, rühre mich nicht und hoffe, er kehrt bald zu dem Vorspiel zurück.
Als er erneut mit seiner Zungenspitze über meinen Kitzler streichelt, greife ich zu dem Polster hinter meinem Kopf.
„Wage es nicht, das Kissen über dein Gesicht zu ziehen“, bemerkt er, für mich völlig unerwartet. „Dein Grunzen macht mich tierisch an.“
„Mein Gott …“, ich verdrehe die Augen. „So was bringt doch jede Stimmung um.“
Auch, wenn er es nicht sehen kann. Ich spüre das Feuer in meinem Gesicht, das mir dieses peinliche Missgeschick entfachte.
„Und wie ist es hiermit?“
Keine Ahnung, was er dort unten mit mir anstellt, aber …
„Alex? Alex!“ Er neigt sich plötzlich über mich und pustet mir ins Gesicht. „Ich dachte, du wärst ohnmächtig geworden.“
War ich auch. Aber meine eigenen Bedenken reichen aus. Er muss sich nicht auch noch zusätzlich Sorgen machen.
Ich spüre, wie unregelmäßig mein Herz schlägt, und ich denke an all das, was ich die letzten Jahre über mich und meinen Körper ergehen ließ.
Ein Säuseln erreicht mein Gehör. Behaarte Schenkel drängen sich zwischen meine Beine. Verschwitzte Hände suchen sich den Weg unter meinen Po und er in mich hinein.
Ich will so sehr erfahren, wie es ist, mich freiwillig, bewusst, ausdrücklich gewollt und mit viel Gefühl hinzugeben, dass ich bei all dem Wirrwarr an Auswertungen in meinem Kopf den eigentlichen Akt fast verpasse.
„Nur ein Wort von dir und ich höre auf.“
„Wieso?“
„Es fühlt sich an, als würde ich es mit einem Stein treiben. Entspann dich, Alex.“
„Nein.“
„Was nein?“
„Hör bitte nicht auf.“
„Du machst es mir nicht gerade leicht.“
„Du sollst es nicht leicht haben, du sollst mich befriedigen.“
„Wie bitte?“
„Ach, vergiss es.“
„Was?“
„Alles.“
Alex hält an und schnauft mich einmal laut an. „Wie wäre es, wenn du aufhörst, dir Gedanken zu machen?“
„Ist womöglich eine sehr gute Idee.“
Alex stürzt mit der Stirn auf meine Brust und ich höre ihn leise lachen.
Dann küsst er mich auf den Busen, lässt in meinem Bauchnabel einen Wirbelsturm entstehen und fängt das Spiel von vorne an.
4
Wir starren uns an, als sehen wir uns an diesem Morgen das erste Mal im Leben. Beide ziehen wir uns die Decke bis zum Kinn, als schämten wir uns vor dem anderen, ein Stückchen der eigenen nackten Haut herzuzeigen. Und wir schweigen uns an, als hätten wir uns schlimme Worte an die Köpfe geworfen und würden uns nun fragen, ob sich der andere noch daran erinnern kann.
„Guten Morgen“, raufe ich mich als Erste dazu, den Mund aufzumachen.
„Guten Morgen“, brummt er mich mit heiserer Stimme an.
„Wie fühlst du dich?“
„Seltsam“, antwortet Alex. „Und wie geht es dir?“
„Eigenartig“, bin ich dabei, meine Gefühle und Gedanken zu ordnen.
„Gehst du?“
„Wohin?“ Ich sehe mich schon mit gepackten Koffern auf irgendeinem Flughafen stehen.
„Duschen.“
„Geh du ruhig. Ich muss …“
„Nachdenken?“
„Ja.“
„Na dann …“
Alex steigt über mich aus dem Bett und schlurft langsam aus meinem Zimmer hinaus. Ich setze mich im Bett auf, wickle mich in meine Bettdecke und befördere meinen Blick ins Nirgendwo.
*
„War für dich wohl nicht so der Burner, oder?“
„Hn?“ Mein Kopf wurde viel zu oft irgendwo dagegen geschlagen und scheinbar habe ich es nun mit den ersten Folgen zu tun.
Ich war nicht gläubig und lief dennoch so viele Jahre einem Zettel hinterher, auf dem die Wörter: meine Seele, geschrieben standen.
Ich starre Alex an. Sehe in Wirklichkeit durch ihn hindurch und suche in einer mir unbekannten Dimension nach Antworten auf die Fragen, die mir plötzlich so wichtig erscheinen.
Gibt es sie etwa tatsächlich? Fühlt sie sich in meinem geschundenen Körper vielleicht nicht wohl?
Mit Überlegungen wie diesen versuche ich mir das Hämmern in meiner Brust und die Achterbahn in meinem Bauch zu erklären.
„Du wirkst nicht besonders glücklich auf mich.“
„Entschuldige, Alex. Ich bin gerade völlig neben der Spur.“
„So siehst du auch aus. Hör zu …“, sagt er zu mir.
Ich kneife kurz meine Augen ganz fest zu und sehe ihn gleich wieder an.
„An mir ging die letzte Nacht auch nicht spurlos vorüber. Für mich gibt es auch so einiges zu überdenken.“ Alex sieht auf die Uhr. „Ich muss jetzt los. Aber wir sollten unbedingt miteinander reden. Und das machen wir auch, sobald ich zurückkomme.“
„Aha“, nicke ich nur und ziehe mir die Decke fester um den Körper. Nicht, dass ich frösteln würde, aber meine Knie schlottern so stark, dass er es merken könnte.
„Na gut. Ich muss dann mal los.“
„Ist gut.“ Ich senke meinen Blick, denn irgendwie lösen seine Worte ganz traurige Erinnerungen in mir aus.
Einige Sekunden später neigt sich ein Schatten über mich, sodass ich erschrocken hoch blicke.
„Tschüss.“ Alex drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und wirbelt damit meine sich langsam abgesetzten Gedanken und Gefühle wieder auf.
„Tschüss.“
5
Gestern dachte ich noch, es wäre der schönste Tag in meinem Leben und es würden nur noch solche Tage folgen.
Vorhin erlebte mich Alex noch immer im Bann der letzten Nacht gefangen. Ich kann es mir nicht erklären, warum ich seine Berührungen wesentlich intensiver empfinde als die von Christina. Es kann nicht daran liegen, dass er ein Mann ist. Mein Körper ist Männerhände und sonst noch alles, was an einem Männerkörper baumelt, gewöhnt. Es liegt bestimmt an ihm selbst.
Es waren diese Fragen, die mich bei unserem Gespräch so wortkarg machten. Die Unsicherheit, er könnte anders empfunden haben als ich, hielt meine Arme an der kurzen Leine, sonst wäre ich ihm gleich nach dem er die Augen geöffnet hatte, um den Hals gefallen.
Zudem war ich nicht die ganze Zeit im Bett gesessen, während Alex duschte und sich anzog.
Ich holte die Post, die ich gestern bei der Mischung aus Aufregung und Müdigkeit vergessen hatte.
Die Rechnungen waren nicht der Rede wert.
Die Werbesendungen ließ ich noch beim Portier im Mülleimer verschwinden.
Das, was ich vor Alex unter der Decke versteckte, war weder mein nackter Körper, noch der Hausanzug, den ich mir für den Gang zum Postfach schnell überzogen hatte. Es war ein Brief in einem unscheinbaren Umschlag. Eigentlich handelt es sich nur um einen Zettel, der es trotz seines mageren Inhaltes ziemlich in sich hat:
„Ich weiß, wer du bist.“